Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 261



113 V 261

43. Urteil vom 19. November 1987 i.S. Schweizerische Ausgleichskasse
gegen M. und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 8 lit. a Abs. 1 und lit. f des schweizerisch-jugoslawischen
Abkommens vom 8. Juni 1962 über Sozialversicherung. Für die
Versicherteneigenschaft im Rahmen von Art. 8 lit. f des Abkommens ist
der zivilrechtliche Wohnsitz in der Schweiz nicht erforderlich.

Sachverhalt

    A.- Der 1956 geborene jugoslawische Staatsangehörige Ivica M.
reiste am 1. Juni 1985 in die Schweiz ein. Am 11. Juni 1985 erhielt er
zum Zwecke der Erwerbstätigkeit als Hilfsarbeiter in einem Gipsergeschäft
eine bis 15. Dezember 1985 gültige Saison-Aufenthaltsbewilligung.

    Beim Sturz von einem Baugerüst zog sich Ivica M. am 17. September 1985
linksseitig eine komplizierte Knieverletzung zu, die trotz verschiedener
operativer und rehabilitativer Massnahmen, für welche die SUVA aufkam, eine
bleibende Behinderung zurückliess, was zur Gewährung einer Invalidenrente
und einer Integritätsentschädigung führte. Die Rehabilitationsklinik
Bellikon, wo sich Ivica M. bis zum 6. Juni 1986 aufgehalten hatte,
schlug aufgrund einer Berufserprobung die Umschulung des "sehr gut
motivierten Patienten" im Sinne einer praktischen internen Anlehre
"z.B. an einem Montageband oder eine anspruchslose Überwachungsfunktion
an einem Bearbeitungszentrum" vor (Schlussbericht vom 18. Juni 1986).

    Darauf meldete sich Ivica M. am 20. Juni 1986 zum Leistungsbezug
bei der Invalidenversicherung an. Die Invalidenversicherungs-Kommission
gelangte jedoch zur Auffassung, dass er, da erstmals am 1. Juni 1985
in die Schweiz eingereist und seit dem Unfall vom 17. September 1985
arbeitsunfähig, die gemäss dem schweizerisch-jugoslawischen Abkommen
über Sozialversicherung für den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen
bzw. Rente erforderliche Mindestbeitragsdauer von einem Jahr nicht
erfülle. Dementsprechend verfügte die Schweizerische Ausgleichskasse am
1. August 1986 die Abweisung des Leistungsbegehrens.

    B.- Gegen diese Verfügung beschwerte sich Ivica M. beim
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit dem Antrag, es sei
der IV-Regionalstelle der Auftrag zur Abklärung der beruflichen
Eingliederungsmassnahmen zu erteilen.

    Das kantonale Versicherungsgericht bejahte, dass Ivica M. die
versicherungsmässigen Leistungsvoraussetzungen erfülle; es hob die
Kassenverfügung auf und wies die Sache zur Prüfung der materiellen
Leistungsvoraussetzungen an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 12. März
1987).

    C.- Die Schweizerische Ausgleichskasse führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des
angefochtenen Entscheides. Sie vertritt die Auffassung, im Hinblick auf
die Gewährung beruflicher Eingliederungsmassnahmen sei die Invalidität
am 7. Juni 1986 eingetreten. Zu diesem Zeitpunkt habe Ivica M. aber die
Voraussetzung des zivilrechtlichen Wohnsitzes in der Schweiz nicht erfüllt.

    Ivica M. trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf einen Antrag
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 8 lit. a Abs. 1 des schweizerisch-jugoslawischen
Abkommens vom 8. Juni 1962 über Sozialversicherung steht jugoslawischen
Staatsangehörigen ein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen nur zu, solange
sie in der Schweiz Wohnsitz haben und wenn sie unmittelbar vor Eintritt
der Invalidität während mindestens eines vollen Jahres Beiträge an die
schweizerische Versicherung entrichtet haben. Art. 8 des Abkommens ist
durch das Zusatzabkommen vom 9. Juli 1982 mit einer lit. f ergänzt worden,
die folgenden Wortlaut hat:

    "Staatsangehörige der Sozialistischen Föderativen Republik

    Jugoslawien ohne Wohnsitz in der Schweiz, die ihre Erwerbstätigkeit in
   diesem Land infolge Unfall oder Krankheit aufgeben müssen und die
   bis zum

    Eintritt des Versicherungsfalles da bleiben, gelten für die Gewährung
von

    Leistungen der Invalidenversicherung als nach der schweizerischen

    Gesetzgebung versichert. Sie haben weiterhin Beiträge an die Alters-,

    Hinterlassenen- und Invalidenversicherung zu entrichten, als hätten sie

    Wohnsitz in der Schweiz."

    b) Im Lichte dieser Vertragsbestimmungen ist zunächst zu prüfen,
wann im vorliegenden Fall die Invalidität bzw. der Versicherungsfall
eingetreten ist. Das bestimmt sich nach innerstaatlichem, schweizerischem
Recht. Gemäss Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die Invalidität bzw. der
Versicherungsfall als eingetreten, sobald sie die für die Begründung des
Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere erreicht
hat. Massgebend ist somit der Zeitpunkt, in welchem die Invalidität
nach ihrer aktuellen Art und Schwere Eingliederungsmassnahmen erfordert
und ermöglicht. Hinsichtlich beruflicher Eingliederungsmassnahmen für
Volljährige tritt der Versicherungsfall ein, wenn der Gesundheitsschaden
sich dermassen schwerwiegend auf die Erwerbsfähigkeit auswirkt, dass der
betroffenen Person die Ausübung ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit nicht
mehr zugemutet werden kann, die in Frage stehende Eingliederungsmassnahme
als notwendig erscheint und die erforderlichen Krankenpflege- und
Rehabilitationsmassnahmen abgeschlossen sind (ZAK 1983 S. 249; vgl. BGE
112 V 278).

    Der Unfall, den der Beschwerdegegner am 17. September 1985 erlitten
hat, bewirkte während mehrerer Monate vollständige Arbeitsunfähigkeit und
erforderte eine längere medizinische Behandlung. Nach dem Aufenthalt in
Bellikon vom 7. April bis 6. Juni 1986 war sein Gesundheitszustand wieder
soweit hergestellt und waren die Verhältnisse in beruflicher Hinsicht
soweit abgeklärt, dass konkret an eine berufliche Wiedereingliederung mit
Hilfe der Regionalstelle gedacht werden konnte. Somit ist davon auszugehen,
dass der Versicherungsfall für berufliche Massnahmen im Sinne von Art. 15
ff. IVG nicht vor anfangs Juni 1986 eingetreten ist.

Erwägung 2

    2.- Der Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen ist aber
nur gegeben, wenn der Beschwerdegegner die in Art. 8 lit. a Abs. 1 oder
lit. f des Abkommens aufgestellten Erfordernisse erfüllen würde.

    a) Der Beschwerdegegner hat seine Erwerbstätigkeit in der Schweiz
am 1. Juni 1985 aufgenommen. Er befindet sich seither in der Schweiz,
an deren Sozialversicherungen er Beiträge leistet. Bei Eintritt der
Invalidität anfangs Juni 1986 erfüllte er somit jedenfalls das Erfordernis
mindestens einjähriger Beitragszahlung (Art. 8 lit. a des Abkommens),
was übrigens von keiner Seite bestritten und insbesondere auch von der
beschwerdeführenden Ausgleichskasse heute anerkannt wird (vorinstanzliche
Beschwerdevernehmlassung in Verbindung mit der Eingabe der Ausgleichskasse
des Kantons St. Gallen an die Vorinstanz vom 30. September 1986).

    b) Es stellt sich alsdann die Frage, ob der Beschwerdegegner bei
Eintritt der Invalidität im Sinne von Art. 8 lit. a des Abkommens in der
Schweiz Wohnsitz hatte.

    Der Beschwerdegegner hielt sich vom 1. Juni 1985 hinweg zunächst mit
einer bis 15. Dezember 1985 befristeten Saison-Aufenthaltsbewilligung
in der Schweiz auf, die dann durch eine weitere, zunächst bis 15. Juni
1986 gültige, nicht näher bekannte Aufenthaltsbewilligung abgelöst wurde,
und gelangte schliesslich mit Wirkung ab 8. Dezember 1986 in den Besitz
der Aufenthaltsbewilligung B.

    Der Wohnsitz einer Person befindet sich gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB
grundsätzlich an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens
aufhält. Diese Absicht kann für die Belange der Sozialversicherung
bei Ausländern oder Staatenlosen so lange nicht beachtlich sein,
als öffentlichrechtliche Hindernisse die Verwirklichung dieser Absicht
langfristig verbieten, was beispielsweise in der Regel bei ausländischen
Arbeitnehmern der Fall ist, die aufgrund einer Saisonbewilligung in der
Schweiz erwerbstätig sind (BGE 105 V 136 und 99 V 209). Indessen kann
bei Saisonarbeitern Wohnsitz in der Schweiz angenommen werden, wenn sie
sich mit der Absicht dauernden Verbleibens in der Schweiz aufhalten und im
Zeitpunkt des potentiellen Versicherungsfalles die Voraussetzungen für die
Umwandlung der Saisonbewilligung in eine ganzjährige Aufenthaltsbewilligung
bereits erfüllen oder doch zu erfüllen im Begriffe sind (unveröffentlichtes
Urteil J. vom 29. April 1982).

    Ob der Beschwerdegegner im Lichte dieser Rechtsprechung bei Eintritt
der Invalidität in der Schweiz bereits Wohnsitz hatte oder ob er einen
solchen allenfalls zu einem spätern Zeitpunkt begründete und ob in
diesem zweiten Fall die nachträgliche Erfüllung der Wohnsitzklausel als
Teilvoraussetzung für den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen
genügt, kann dahingestellt bleiben, weil der Leistungsanspruch aufgrund
von Art. 8 lit. f des Abkommens (in der Fassung des Zusatzabkommens)
bejaht werden muss, wie im Folgenden darzutun sein wird.

Erwägung 3

    3.- a) Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Auslegung eines
Staatsvertrages in erster Linie vom Vertragstext auszugehen. Erscheint
dieser klar und ist seine Bedeutung, wie sie sich aus dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck des Übereinkommens ergibt,
nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine über den Wortlaut
hinausgehende ausdehnende oder einschränkende Auslegung nur in Frage,
wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit
auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten zu
schliessen ist (BGE 112 V 340 Erw. 4 mit Hinweisen).

    b) Zur Begründung ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht die
Ausgleichskasse geltend: Der Beschwerdegegner könne wohl als bei Eintritt
der Invalidität aufgrund von Art. 8 lit. f des Abkommens versichert
betrachtet werden, doch erfülle er die in Art. 8 lit. a Abs. 1 geforderte
Voraussetzung des zivilrechtlichen Wohnsitzes nicht. Sie hält also das
Wohnsitzerfordernis auch im Rahmen der lit. f für massgeblich, welche
Auffassung vom BSV anscheinend geteilt wird.

    Dieser Standpunkt widerspricht dem Wortlaut von Art. 8 lit. f
des Abkommens. Die Bestimmung ist ihrem Wortlaut nach gerade auf jene
jugoslawischen Staatsangehörigen zugeschnitten, die "ohne Wohnsitz in der
Schweiz" sind. Der Vertragstext enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass
Art. 8 lit. f nur auf solche jugoslawische Staatsangehörige anwendbar wäre,
die früher einmal Wohnsitz in der Schweiz gehabt und diesen nachträglich
aufgegeben haben. Die in dieser Bestimmung getroffene Ordnung gilt vielmehr
für alle jugoslawischen Staatsangehörigen ohne Wohnsitz in der Schweiz, und
zwar generell "für die Gewährung von Leistungen der Invalidenversicherung",
somit auch für die Zusprechung von Eingliederungsmassnahmen gemäss den
Art. 8 und 12 ff. IVG.

    Die Auffassung der Ausgleichskasse ist aber auch aus folgendem Grund
nicht stichhaltig: Wäre das Wohnsitzerfordernis der lit. a auch im Rahmen
der lit. f des Art. 8 massgeblich, so würde dies bedeuten, dass lit. f
ein der lit. a untergeordneter Hilfstatbestand wäre. Das trifft nicht
zu, denn die lit. a-e des Art. 8 regeln unterschiedliche, unabhängig
voneinander bestehende Sachverhalte, welche mit dem Zusatzabkommen um
einen weitern Tatbestand betreffend die Erfüllung der versicherungsmässigen
Voraussetzungen gemäss lit. f ergänzt worden sind.

    Die Meinung der Ausgleichskasse widerspricht schliesslich auch dem
Ziel und dem Zweck der lit. f, wozu der Bundesrat in seiner Botschaft
vom 3. November 1982 ausgeführt hat (BBl 1982 III 1057):

    "Bei den Voraussetzungen für den Erwerb von Ansprüchen auf

    IV-Leistungen wird durch das Zusatzabkommen (Art. 4) eine bisher zu
   stossenden Härtefällen führende Regelung korrigiert. Nach dem
   Abkommen von

    1962 kann nämlich ein Jugoslawe, der in der Schweiz keinen Wohnsitz hat
   und seine Erwerbstätigkeit in unserem Land infolge Krankheit oder
   Unfall unterbrechen muss, weder Eingliederungsmassnahmen der IV
   beanspruchen noch einen Rentenanspruch erwerben, selbst dann nicht,
   wenn er bis zum Eintritt der Invalidität im Sinne des schweizerischen
   Rechts (im allgemeinen 360

    Tage nach dem Unfall bzw. dem Ausbruch der Krankheit) in der Schweiz
   verbleibt; weil er in der Schweiz nicht Wohnsitz hat und hier auch keine

    Erwerbstätigkeit ausübt, ist er nämlich nicht versichert und erfüllt
somit
   die nach dem IVG für den Leistungsanspruch vorausgesetzte

    Versicherungsklausel nicht.

    Das Problem, dass in solchen Fällen trotz manchmal langer

    Versicherungsdauer in der Schweiz der Leistungsanspruch verlorengehen
   kann, wurde in den Abkommen mit anderen Staaten bereits einer Lösung
   zugeführt. Nunmehr wurde auch das Abkommen mit Jugoslawien diesbezüglich
   an die betreffenden Regelungen mit den andern Ländern angepasst. Nach

    Artikel 4 des Zusatzabkommens gelten jugoslawische Staatsangehörige,
die
   bis zum Eintritt des Versicherungsfalles in der Schweiz verbleiben,
   als versichert im Sinne des IVG, so dass sie bei Erfüllung der übrigen

    Voraussetzungen in den Genuss von IV-Leistungen gelangen können. In der
   betreffenden Zeit müssen sie übrigens weiterhin Beiträge an die
   schweizerische AHV/IV entrichten, womit ihnen die gleiche Verpflichtung
   wie Personen mit Wohnsitz in der Schweiz auferlegt, aber auch die

    Möglichkeit gegeben wird, mit diesen Beiträgen nötigenfalls das für den

    Erwerb des Anspruchs auf IV-Leistungen erforderliche eine Beitragsjahr
noch
   aufzufüllen."

    Diese Ausführungen des Bundesrates machen deutlich, dass im Rahmen
der lit. f zwar auch das Erfordernis der mindestens einjährigen
Beitragsdauer gelten, anderseits aber auf das Wohnsitzerfordernis
verzichtet werden soll. Nur so lässt sich die mit dem Zusatzabkommen
angestrebte Besserstellung der jugoslawischen Staatsangehörigen erreichen,
die oft wegen ihres fremdenpolizeilichen Status vorläufig oder während
ihres gesamten Aufenthalts in der Schweiz hier keinen Wohnsitz begründen
können. Dieser Zweck würde vereitelt, wenn man im Sinne der Ausgleichskasse
auch im Rahmen der lit. f bei Eintritt der Invalidität Wohnsitz in der
Schweiz verlangen würde.

Erwägung 4

    4.- Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz mit Recht erkannt
hat, dass der Beschwerdegegner die versicherungsmässigen Voraussetzungen
für den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen im Zeitpunkt des
Eintritts der Invalidität erfüllt. Es wird nun Sache der Verwaltung sein,
zu prüfen, ob auch die materiellen Leistungsvoraussetzungen der Art. 15
ff. IVG erfüllt sind.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.