Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 256



113 V 256

42. Auszug aus dem Urteil vom 12. November 1987 i.S. Ausgleichskasse des
Kantons Zürich gegen D. und Kons. und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 52 AHVG: Haftung der Organe. Die Organe einer juristischen Person
können belangt werden, bevor diese zu existieren aufgehört hat (Erw. 3c).

    Art. 87 AHVG und 82 Abs. 2 AHVV: Strafrechtliche Verjährungsfrist. Beim
Fehlen eines Strafurteils haben die AHV-Behörden vorfrageweise selber zu
prüfen, ob sich die Schadenersatzforderung aus einer strafbaren Handlung
herleitet. Anforderungen an den Beweis der strafbaren Handlung (Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- c) Die Ausgleichskasse geht anscheinend davon aus, dass die
Organe einer juristischen Person erst dann für Schadenersatz belangt
werden können, wenn diese zufolge Konkurses aufgehört hat, rechtlich zu
existieren. Diese Auffassung führt dazu, dass die Ausgleichskasse die
Nichtbezahlung der paritätischen Beiträge z.B. seitens der juristischen
Person während Jahren akzeptiert und zuwartet, bis über die juristische
Person der Konkurs eröffnet wird. Dann begnügen sich die Ausgleichskassen
häufig damit, die in den letzten Jahren des Bestehens der zahlungsunfähig
gewordenen Firma immer höher gewordenen Beitragsforderungen anzumelden
und erst nach Abschluss des Konkursverfahrens die Organe der konkursiten
Arbeitgeberin zu belangen. Dadurch werden einerseits die Beitragsausstände
und damit das Ausmass des Schadens stets umfangreicher; anderseits wächst
die Gefahr der Verwirkung der Schadenersatzansprüche. Demgegenüber hat
die Ausgleichskasse die rechtliche Möglichkeit, die Organe bereits dann
zu belangen, wenn die juristische Person noch existiert (BGE 111 V 173
Erw. 2a mit Hinweis). Die Subsidiarität der Haftung der Organe einer
juristischen Person bedeutet lediglich, dass sich die Ausgleichskasse
zuerst an den Arbeitgeber zu halten hat, und nicht, dass der Arbeitgeber
rechtlich zu existieren aufgehört haben muss, bevor seine Organe belangt
werden dürfen. Das Institut der Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG
könnte illusorisch werden, wenn die Weiterexistenz eines zahlungsunfähig
gewordenen Arbeitgebers die Belangung seiner Organe ausschliessen
würde. Das wäre umso unannehmbarer, als die Ausgleichskasse nicht die
Möglichkeit hat, den Konkurs der juristischen Person herbeizuführen,
weil Art. 43 SchKG und Art. 15 Abs. 2 AHVG sie für die Eintreibung der
paritätischen Beiträge für den Regelfall auf den Weg der Pfändung oder der
Pfandverwertung verweisen (FRÉSARD, Responsabilité de l'employeur pour le
non-paiement des cotisations d'assurances sociales selon l'art. 52 LAVS,
in: Schweiz. Versicherungszeitschrift, 55/1987, S. 2).

    Hier besteht ein wesentlicher Unterschied namentlich
zur aktienrechtlichen Verantwortlichkeit, auf welche in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde hingewiesen wird. Solange die
Aktiengesellschaft nicht im Konkurs ist, steht den Gesellschaftsgläubigern
grundsätzlich kein Klagerecht aus aktienrechtlicher Verantwortlichkeit zu
(Art. 758 OR; BGE 82 II 48; GUHL/MERZ/KUMMER, Obligationenrecht, 7. Aufl.,
S. 693). Das ist sachgerecht, weil ein gewöhnlicher Gesellschaftsgläubiger
die Aktiengesellschaft in Konkurs und zur Auflösung bringen kann und
darüber hinaus erst noch über die fünfjährige Verwirkungsfrist von
Art. 760 OR zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegenüber den
Gesellschaftsorganen verfügt. Im AHV-Recht aber, wo die Ausgleichskasse
den Konkurs der juristischen Person und damit die Aufhebung ihrer
rechtlichen Existenz nicht bewirken kann und zudem die relativ kurze
einjährige Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV zur Geltendmachung
ihrer Forderung zu wahren hat, ist es unerlässlich, dass die Organe
schon dann belangt werden dürfen und sollen, wenn der zahlungsunfähige
Arbeitgeber rechtlich noch existiert.

    Nach der Rechtsprechung gilt der Eintritt des Schadens dann als
erfolgt, sobald anzunehmen ist, dass die geschuldeten Beiträge aus
rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht mehr erhoben werden können
(BGE 112 V 157 und 111 V 173). Eine solche tatsächliche Uneinbringlichkeit
und damit ein Schaden liegt vor, wenn die Ausgleichskasse in der gegen
den Arbeitgeber eingeleiteten Betreibung auf Pfändung vollständig zu
Verlust gekommen ist. Der Pfändungsverlustschein gemäss Art. 115 Abs. 1
in Verbindung mit Art. 149 SchKG, welcher den Schaden grundsätzlich und
in masslicher Hinsicht fest umschreibt, manifestiert, dass der Arbeitgeber
seine Beitragspflicht nicht erfüllt hat und damit realistischerweise auch
der Schadenersatzpflicht nach Art. 52 AHVG nicht nachkommen kann. Deshalb
steht vom Zeitpunkt der Ausstellung des Pfändungsverlustscheines hinweg
einer Belangung der subsidiär haftbaren Organe nichts im Wege. In diesem
Moment hat die Ausgleichskasse auch Kenntnis des Schadens, was die
einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 82 Abs. 1 AHVV in Gang setzt.

Erwägung 4

    4.- a) Die Ausgleichskasse macht ferner geltend, der
Schadenersatzforderung liege ein strafbares Verhalten zugrunde, weshalb
die längere Verjährungsfrist des Art. 82 Abs. 2 AHVV zur Anwendung gelange.

    Für die Verjährung einer Schadenersatzforderung, die aus einer
strafbaren Handlung hergeleitet wird, für welche das Strafrecht eine
längere Verjährungsfrist vorsieht, gilt diese Frist (Art. 82 Abs. 2
AHVV). Diese Vorschrift beruht auf der Überlegung, dass es unlogisch
wäre, wenn die geschädigte Ausgleichskasse ihre Rechte gegenüber dem
haftpflichtigen Schädiger verlieren würde, solange dieser mit einer
Strafverfolgung rechnen muss, die regelmässig für ihn mit schwerwiegenden
Folgen verbunden ist (BGE 111 V 175).

    In BGE 112 V 163 hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die ratio
legis von Art. 82 Abs. 2 AHVV die gleiche sei wie von Art. 60 Abs. 2 OR,
wonach im Zivilrecht für die Schadenersatzklage aus einer strafbaren
Handlung, für welche das Strafrecht eine längere Verjährung vorsieht,
ebenfalls diese längere Frist gilt. Im Zusammenhang mit Art. 60 Abs. 2
OR hat das Bundesgericht erkannt, dass beim Fehlen eines Strafurteils der
Zivilrichter vorfrageweise selber zu prüfen hat, ob eine strafbare Handlung
gegeben ist (BGE 112 II 188). Wenn aber den Art. 82 Abs. 2 AHVV und 60
Abs. 2 OR der gleiche gesetzliche Sinn zugrunde liegt, dann müssen auch die
AHV-Behörden beim Fehlen eines Strafurteils bei der Anwendung von Art. 82
Abs. 2 AHVV selber vorfrageweise prüfen, ob die Schadenersatzforderung
sich aus einer strafbaren Handlung herleitet. Voraussetzung für eine
solche vorfrageweise Prüfungspflicht ist, dass aufgrund der Akten
oder entsprechender Vorbringen der Verfahrensbeteiligten hinreichende
Anhaltspunkte für das Vorliegen strafbarer Handlungen bestehen (BGE 110
V 53 Erw. 4a). Dabei genügt es, dass eine objektiv strafbare Handlung
vorliegt und dass die auf Schadenersatz belangte Person die strafbare
Handlung begangen hat und die subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen
erfüllt (BGE 106 II 217 ff.).

    In die gleiche Richtung deutete schon das in EVGE 1957 S. 195
ff. publizierte Urteil, wo im Zusammenhang mit Art. 16 Abs. 1 Satz 3 AHVG
betreffend die Verwirkung einer aus einer strafbaren Handlung hergeleiteten
Beitragsnachforderung erklärt wird, dass die AHV-Behörden zwar an ein
ergangenes Strafurteil gebunden seien; fehle aber ein solches, so könnten
sie vorfrageweise selber darüber befinden, ob sich die Nachforderung aus
einer strafbaren Handlung ergebe und der Täter dafür strafbar wäre.

    Bei selbständiger Beurteilung des Straftatbestandes durch die
AHV-Behörden darf aber eine strafbare Handlung nur bejaht werden,
wenn sie bewiesen ist. Dabei müssen an den Beweis die gleichen
Anforderungen gestellt werden wie in einem Strafverfahren. Der im
Sozialversicherungsrecht sonst übliche Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Die Kassenleiter sind verpflichtet,
strafbare Handlungen im Sinne von Art. 87 ff. AHVG der zuständigen
kantonalen Instanz anzuzeigen (Art. 201 AHVV). Unterbleibt eine solche
Anzeige, so bestehen erhebliche Zweifel am Vorliegen einer strafbaren
Handlung, es sei denn, die Unterlassung der Anzeige qualifiziere sich
klar als pflichtwidrig. Auf jeden Fall hat die Kasse, die sich auf die
strafrechtliche Verjährungsfrist beruft, Aktenmaterial zu produzieren,
welches das strafbare Verhalten hinreichend ausweist (vgl. EVGE 1957
S. 51 und 198).

    b) Nach Art. 87 Abs. 3 (in Verbindung mit Abs. 6) AHVG wird, sofern
nicht ein mit einer höheren Strafe bedrohtes Verbrechen oder Vergehen
des Strafgesetzbuches vorliegt, mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder
mit Busse bis zu 20'000 Franken bestraft, wer als Arbeitgeber einem
Arbeitnehmer Beiträge vom Lohn abzieht, sie jedoch dem vorgesehenen Zweck
entfremdet. Diese Strafandrohung bezieht sich ausdrücklich nur auf die
Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen, was von der Ausgleichskasse
nicht bestritten wird, und nicht auch auf die Nichtbezahlung von
Arbeitgeberbeiträgen.

    Die Ausgleichskasse vertritt die Auffassung, dass im vorliegenden
Fall nicht nur Arbeitnehmerbeiträge hinterzogen worden seien, sondern
dass die betroffenen Personen mit Bezug auf die gesamte Beitragsschuld den
Straftatbestand des Art. 87 Abs. 2 AHVG erfüllt hätten, wonach ebenfalls
mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder Busse zu bestrafen ist, wer
sich durch unwahre oder unvollständige Angaben oder in anderer Weise der
Beitragspflicht ganz oder teilweise entzieht. Dieser Straftatbestand sei
deshalb erfüllt, weil sich bei der Arbeitgeberkontrolle das Rechnungswesen
der Firma D. AG in einem ausserordentlich schlechten Zustand befunden und
sich die konkursite Firma insbesondere der Pflicht zur Ausfüllung von
Lohnbescheinigungen gänzlich entzogen und damit habe erreichen wollen,
dass sie keine Beiträge würde entrichten müssen.

    c) Nach Art. 18 Abs. 1 StGB, der auch auf die in Art. 87 AHVG
genannten Delikte anwendbar ist (Art. 333 Abs. 3 StGB), ist nur strafbar,
wer ein Vergehen vorsätzlich, d.h. mit Wissen und Willen verübt, es sei
denn, das Gesetz bestimme ausdrücklich etwas anderes. Die fahrlässige
Erfüllung der in Art. 87 Abs. 2 und 3 AHVG umschriebenen Straftatbestände
ist nicht mit Strafe bedroht. Somit ist nur die vorsätzliche Verübung
dieser Delikte strafbar. Die Akten, welche von der Ausgleichskasse, die
gegen die Beschwerdegegner keine Strafanzeige erstattet hat, beigebracht
werden, erlauben es nicht, den Beschwerdegegnern eine vorsätzliche
Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen oder eine vorsätzliche
Beitragshinterziehung nachzuweisen. Dazu wäre die Durchführung eines
Verfahrens notwendig, in welchem die Stellung der Organe, die Korrespondenz
und der Abrechnungsverkehr zwischen der Firma und der Ausgleichskasse
in den fraglichen Jahren im einzelnen abzuklären wären. Das kann
aber nicht die Aufgabe des Sozialversicherungsrichters im Rahmen einer
vorfrageweisen Prüfung einer strafrechtlich relevanten Verantwortlichkeit
sein. Demzufolge ist Art. 82 Abs. 2 AHVV im vorliegenden Fall nicht
anwendbar. Somit hat es bei der einjährigen Verwirkungsfrist des Art. 82
Abs. 1 AHVV sein Bewenden.