Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 218



113 V 218

35. Auszug aus dem Urteil vom 11. August 1987 i.S. Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 24 Abs. 1 und 25 Abs. 1 UVG, Art. 36 UVV: Integritätsschaden.

    - Bemessung des Integritätsschadens bei transmetakarpaler Amputation
des rechten Zeigefingerstrahls (Erw. 3).

    - Die Schwere des Integritätsschadens beurteilt sich einzig nach
dem medizinischen Befund; allfällige individuelle Besonderheiten des
Versicherten bleiben, im Gegensatz zur privatrechtlichen Genugtuung,
unberücksichtigt (Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 24 Abs. 1 UVG hat der Versicherte Anspruch auf
eine angemessene Integritätsentschädigung, wenn er durch den Unfall eine
dauernde erhebliche Schädigung der körperlichen oder geistigen Integrität
erleidet. Die Integritätsentschädigung wird in Form einer Kapitalleistung
gewährt. Sie darf den am Unfalltag geltenden Höchstbetrag des versicherten
Jahresverdienstes nicht übersteigen und wird entsprechend der Schwere
des Integritätsschadens abgestuft (Art. 25 Abs. 1 UVG). Gemäss Art. 25
Abs. 2 UVG regelt der Bundesrat die Bemessung der Entschädigung. Von
dieser Befugnis hat er in Art. 36 UVV Gebrauch gemacht. Abs. 1 dieser
Vorschrift bestimmt, dass ein Integritätsschaden als dauernd gilt, wenn
er voraussichtlich während des ganzen Lebens mindestens in gleichem
Umfang besteht. Er ist erheblich, wenn die körperliche oder geistige
Integrität, unabhängig von der Erwerbsfähigkeit, augenfällig oder
stark beeinträchtigt wird. Gemäss Abs. 2 gelten für die Bemessung der
Integritätsentschädigung die Richtlinien des Anhangs 3. Der Bundesrat
hat in diesem Anhang Bemessungsregeln aufgestellt und in einer nicht
abschliessenden (GILG/ZOLLINGER, Die Integritätsentschädigung nach
dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung, S. 47) Skala wichtige und
typische Schäden prozentual gewichtet. Für spezielle oder nicht aufgeführte
Integritätsschäden wird die Entschädigung nach dem Grad der Schwere vom
Skalenwert abgeleitet (Ziff. 1 Abs. 2 des Anhangs).

    b) Die Medizinische Abteilung der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) hat in Weiterentwicklung der
bundesrätlichen Skala weitere Bemessungsgrundlagen in tabellarischer Form
(sog. Feinraster) erarbeitet (Mitteilungen der Medizinischen Abteilung
der SUVA, Nr. 57 bis 59, Tabellen 1-16). Diese von der Verwaltung
herausgegebenen Tabellen stellen zwar keine Rechtssätze dar und sind
für die Parteien nicht verbindlich, umso mehr als Ziff. 1 von Anhang
3 zur UVV bestimmt, dass der in der Skala angegebene Prozentsatz des
Integritätsschadens für den "Regelfall" gilt, welcher im Einzelfall
Abweichungen nach unten wie nach oben ermöglicht. Soweit sie jedoch
lediglich Richtwerte enthalten, mit denen die Gleichbehandlung aller
Versicherten gewährleistet werden soll, sind sie mit dem Anhang 3 zur
UVV vereinbar (RKUV 1987 Nr. U 21 S. 329).

Erwägung 3

    3.- Die transmetakarpale Amputation des rechten Zeigefingerstrahls,
welche beim Beschwerdegegner durchgeführt wurde, ist weder in der Skala
der Integritätsschäden gemäss Anhang 3 zur UVV noch in den von der SUVA
publizierten Tabellen aufgeführt. Es ist somit eine Schätzung im Vergleich
mit anderen Handschädigungen vorzunehmen.

    a) Dr. med. B. bemass in seinem Bericht vom 24. Juni 1985 den
Integritätsschaden auf 7,5%. Er ging davon aus, dass nach Figur 17 der
Tabelle 3 betreffend Integritätsschaden bei einfachen oder kombinierten
Finger-, Hand- und Armverlusten (Mitteilungen der Medizinischen Abteilung
der SUVA, Nr. 57 S. 22 ff.) für eine transmetakarpale Amputation des
Kleinfingerstrahls der Integritätsschaden mit 5% gleich hoch liegt wie für
den Verlust des Kleinfingers im Grundgelenk. Der Zeigefinger sei aber für
die Gebrauchsfähigkeit der Hand bedeutsamer als der Kleinfinger, weshalb
der Schaden für einen Zustand nach transmetakarpaler Zeigefingeramputation
höher als 5% zu bemessen sei. Er liege indessen nicht so hoch, als
wenn Zeigefinger und Kleinfinger beide im Grundgelenk amputiert wären,
was nach Figur 29 der Tabelle 3 einen Integritätsschaden von 10% ergibt.
Diese Einschätzung wurde durch Dr. med. R., Spezialarzt FMH für Chirurgie
und Chef der Gruppe Unfallmedizin der SUVA, bestätigt: Namentlich im
Vergleich zur vorliegenden Schädigung zeige die Totalamputation des
Zeigefingers und des Kleinfingers einen Zustand, der funktionell und vor
allem kosmetisch wesentlich gravierender sei. Im übrigen lasse sich für die
Vierfingerhand hinsichtlich der Integritätsschädigung eine Unterscheidung
zwischen dominanter und nicht dominanter Hand nicht begründen (Bericht
vom 9. Juli 1986).

    b) Nach Auffassung der Vorinstanz wird diese Einschätzung der SUVA
der tatsächlichen Beeinträchtigung nicht gerecht. Einerseits habe die
Amputation zu einer ausgesprochenen Verschmächtigung der Mittelhand geführt
(Umfang links 20,75 cm, rechts 17,5 cm); dieser zusätzlichen Entstellung
sei Rechnung zu tragen. Andererseits sei es inkonsequent, dass die Tabelle
3 der SUVA bei einfachen Fingerverlusten nicht zwischen Gebrauchshand und
anderer Hand unterscheide. Auch ein einfacher Fingerverlust wirke sich bei
der Gebrauchshand stärker aus. In Berücksichtigung dieser Umstände hielt
die Vorinstanz eine Integritätsentschädigung von 12,5% für angemessen.

    c) Der Betrachtungsweise des kantonalen Gerichts kann nicht
beigepflichtet werden. Die Verschmächtigung der Mittelhand ist keineswegs
bedeutend und wurde von der SUVA im übrigen dadurch berücksichtigt, dass
bei der Schätzung von einer Vierfingerhand ausgegangen wurde. Es besteht
auch kein Anlass, die auf medizinischer Erfahrung bei Fingerschäden
beruhende Auffassung der Anstalt in Zweifel zu ziehen, dass sich der
Verlust des Zeigefingers an der Gebrauchshand funktionell im Vergleich
zur anderen Hand nicht wesentlich unterscheidet. Schliesslich ist im
vorliegenden Fall entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners bei der
Integritätsschätzung nicht von einem Bruchteil des Wertes der Gebrauchshand
auszugehen, da die Gebrauchsfähigkeit der anderen Finger nicht wesentlich
eingeschränkt ist.

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen ist sodann die Frage, ob bei der Bemessung des
Integritätsschadens auch individuelle Besonderheiten des Versicherten zu
berücksichtigen sind.

    a) Die Vorinstanz erwog, eine völlige Ausklammerung aller subjektiven
Faktoren sei mit dem der Integritätsentschädigung innewohnenden Zweck
nicht vereinbar. Gerade das vorliegende Beispiel zeige, dass nicht jeder
Versicherte von einem Fingerverlust in gleicher Weise betroffen werde. Die
Lebensfreude des Beschwerdegegners, dem das Gitarrenspiel in der Freizeit
in emotionaler Hinsicht sehr viel bedeute, werde durch den Fingerverlust
ganz empfindlich eingeschränkt. Eine Erhöhung der Integritätsentschädigung
um einen Fünftel (von 12,5% auf 15%) sei angemessen.

    b) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die Bemessung
der Integritätsentschädigung richtet sich laut Art. 25 Abs. 1 UVG
nach der Schwere des Integritätsschadens. Diese beurteilt sich nach
dem medizinischen Befund. Bei gleichem medizinischen Befund ist der
Integritätsschaden für alle Versicherten gleich; er wird abstrakt
und egalitär bemessen (GILG/ZOLLINGER, aaO, S. 38 und 46; MAURER,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 417). Etwas anderes ist
auch dem Hinweis des Bundesrates in der Botschaft zum Bundesgesetz über
die Unfallversicherung vom 18. August 1976, er werde sich beim Aufstellen
der näheren Vorschriften über die Bemessung der Integritätsentschädigung
von den nach der Gerichtspraxis im Haftpflichtrecht zugesprochenen
Genugtuungssummen leiten lassen (BBl 1976 III 193), nicht zu entnehmen
(GILG/ZOLLINGER, aaO, S. 30 und 36). Die Integritätsentschädigung der
Unfallversicherung unterscheidet sich mithin von der privatrechtlichen
Genugtuung, mit welcher der immaterielle Nachteil individuell
unter Würdigung der besonderen Umstände bemessen wird (MAURER, aaO,
S. 417 Anm. 1070). Es lassen sich im Gegensatz zur Bemessung der
Genugtuungssumme im Zivilrecht (vgl. BGE 112 II 133 Erw. 2) ähnliche
Unfallfolgen miteinander vergleichen und auf medizinischer Grundlage
allgemeingültige Regeln zur Bemessung des Integritätsschadens aufstellen;
spezielle Behinderungen des Betroffenen durch den Integritätsschaden
bleiben dabei unberücksichtigt. Die Bemessung des Integritätsschadens
hängt somit nicht von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab; auch
geht es bei ihr nicht um die Schätzung erlittener Unbill, sondern um die
medizinisch-theoretische Ermittlung der Beeinträchtigung der körperlichen
oder geistigen Integrität, wobei subjektive Faktoren ausser acht zu
lassen sind. Dies schliesst nicht aus, die Integritätsentschädigung -
gleich wie die Genugtuungsleistung - als Wiedergutmachung immaterieller
Unbill zu verstehen (MAURER, aaO, S. 413 f.; GILG/ZOLLINGER, aaO,
S. 25). Schliesslich können entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners
die Regeln zur Bemessung der Integritätsrente in der Militärversicherung
nicht herangezogen werden, weil diese Rente "in Würdigung aller Umstände
nach billigem Ermessen" festgesetzt wird (Art. 25 Abs. 1 MVG; BGE 113 V
143 Erw. 3b).

Erwägung 5

    5.- Es bestand nach dem Gesagten kein Grund, von der Einschätzung
des Integritätsschadens durch die SUVA, welche sich im Rahmen der
Tabelle 3 ihrer Medizinischen Abteilung hält, abzuweichen. Auch erweist
sich die Auffassung des kantonalen Gerichts, bei der Bemessung des
Integritätsschadens seien die individuellen Besonderheiten des Versicherten
mit zu berücksichtigen, als unzutreffend. Der vorinstanzliche Entscheid
ist deshalb insoweit aufzuheben, als die SUVA verpflichtet wurde, eine
über 7,5% liegende Integritätsentschädigung auszurichten.