Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 V 180



113 V 180

29. Auszug aus dem Urteil vom 17. September 1987 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen K. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 82 Abs. 1 AHVV: Kenntnis des Schadens.

    - Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV ist im
Falle eines Konkurses in der Regel schon bei Eröffnung der Kollokation
der Forderungen gegeben (Bestätigung der Rechtsprechung).

    - Kann in diesem Zeitpunkt die Schadenshöhe zufolge ungewisser
Konkursdividende nicht bzw. auch nicht annähernd genau ermittelt werden,
so ist die Schadenersatzverfügung derart auszugestalten, dass die
Belangten zur Ersetzung des ganzen der Ausgleichskasse entzogenen Betrages
gegen Abtretung einer allfälligen Konkursdividende verpflichtet werden
(Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Werner K. war Verwaltungsratspräsident der Firma S. und
K. AG. Dem Verwaltungsrat gehörten ferner seine Ehefrau Elisabeth sowie
T. B. als Mitglieder an. Am 5. März 1980 wurde über die Firma der
Konkurs eröffnet. In diesem Verfahren meldete die Ausgleichskasse des
Schweizerischen Baumeisterverbandes dem Konkursamt eine Forderung von
Fr. 67'522.40 an, die sich u. a. aus paritätischen bundesrechtlichen
Sozialversicherungsbeiträgen sowie Betreibungs- und Mahngebühren
zusammensetzte. Nachdem der Kollokationsplan und das Inventar am 26. April
1980 bzw. am 24. Oktober 1981 aufgelegt worden waren, gab das Konkursamt
der Ausgleichskasse mit Verlustschein vom 7. November 1984 bekannt,
dass die geltend gemachte und in der zweiten Klasse kollozierte Forderung
lediglich im Umfang von Fr. 7'120.25 befriedigt werden könne, während der
Betrag von Fr. 60'402.15 ungedeckt bleibe. In der Folge wurde der Konkurs
geschlossen und die Firma von Amtes wegen im Handelsregister gelöscht.

    Gestützt auf Art. 52 AHVG machte die Ausgleichskasse einen Betrag
von Fr. 48'729.70 gegenüber Werner und Elisabeth K. sowie T. B. als
Schadenersatzforderung geltend (Verfügungen vom 27. November 1984). Die
Betroffenen erhoben gegen diese Verfügungen Einspruch im Sinne von
Art. 81 Abs. 2 AHVV.

    B.- Am 23. Januar 1985 reichte die Ausgleichskasse gegen Werner und
Elisabeth K. Schadenersatzklagen ein. Das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern vereinigte die Klageverfahren, ordnete eine mündliche Verhandlung
sowie einen zweiten Schriftenwechsel an und wies die Klagen mit Entscheid
vom 20. Januar 1986 ab.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, der vorinstanzliche
Entscheid sei, soweit damit bezüglich der bundesrechtlich geschuldeten
Sozialversicherungsbeiträge die Klage der Ausgleichskasse abgewiesen
worden sei, aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zur
Neubeurteilung zurückzuweisen. - Werner und Elisabeth K. lassen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.

    In einem zweiten Schriftenwechsel haben die Parteien zur Frage der
Verwirkung der Schadenersatzforderung Stellung genommen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 82 Abs. 1 AHVV "verjährt" die Schadenersatzforderung,
wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass
einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird. Bei dieser Frist handelt
es sich entgegen dem Wortlaut der Bestimmung um eine Verwirkungsfrist,
die von Amtes wegen zu berücksichtigen ist (BGE 112 V 8 Erw. 4c).

    Kenntnis des Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV ist von dem
Zeitpunkt an gegeben, in welchem die Ausgleichskasse unter Beachtung
der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit und unter Berücksichtigung der Praxis
erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr erlauben,
die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen
können (BGE 108 V 52 Erw. 5). Im Falle eines Konkurses hat die Kasse nicht
notwendigerweise erst in dem Zeitpunkt Kenntnis des Schadens, wenn sie
in die konkursamtliche Verteilungsliste und Schlussabrechnung Einsicht
nehmen kann oder einen Verlustschein erhält; denn wer im Rahmen eines
Konkurses oder Nachlassvertrages einen Verlust erleidet und auf Ersatz
klagen will, hat praxisgemäss in der Regel bereits dann eine ausreichende
Kenntnis des Schadens, wenn die Kollokation der Forderungen eröffnet
bzw. der Kollokationsplan (und das Inventar) zur Einsicht aufgelegt
wird. In diesem Zeitpunkt ist oder wäre der Gläubiger im allgemeinen in
der Lage, den Stand der Aktiven, die Kollokation seiner Forderung und
die voraussichtliche Dividende zu kennen (BGE 112 V 9 Erw. 4d, 158 und
161 mit Hinweisen; ZAK 1986 S. 523 Erw. 3a).

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdegegner machen in ihren Stellungnahmen
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, bei Erlass der
Schadenersatzverfügungen am 27. November 1984 sei die Forderung der
Ausgleichskasse bereits "verwirkt bzw. verjährt" gewesen. Die Kasse
hätte nämlich spätestens am 24. Oktober 1981, als die Neuauflage des
Kollokationsplanes erfolgt sei, "Kenntnis über das genaue Ausmass ihres
Verlustes" haben können. Jedenfalls wäre ihr diese Kenntnis beim Abschluss
der Vergleiche zwischen der Konkursmasse und den Beschwerdegegnern vom
4. November 1981 betreffend Abgeltung der Verantwortlichkeitsansprüche
zuteil geworden, wenn sie sich mit der gebotenen Aufmerksamkeit um eine
Schadensermittlung bemüht hätte.

    Das BSV hält in seiner im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels
erstatteten Vernehmlassung dafür, es könne nicht in jedem Fall die Auflage
des Kollokationsplanes mit dem Zeitpunkt der Kenntnis des Schadens
gleichgesetzt werden. Dies erscheine zwar dort als gerechtfertigt,
wo - wie etwa in dem vom Eidg. Versicherungsgericht am 26. Juni 1986
beurteilten und in ZAK 1986 S. 522 publizierten Fall - im Zeitpunkt
der Auflegung des Kollokationsplanes das Ausmass des (vollständigen)
Verlustes für die Ausgleichskasse mit zumutbarem Aufwand ermittelt
werden könne. Anderseits könne dies dann nicht uneingeschränkt gelten,
wenn "ein Verlust im Bereich des Möglichen" liege, "dessen Umfang
aber überhaupt nicht oder zumindest nicht mit zumutbarem Aufwand
einigermassen zuverlässig abgeschätzt werden" könne. Namentlich in
solchen Fällen, in denen - wie vorliegend - mit einer Teildividende zu
rechnen sei, sollte der Zeitpunkt der Auflage des Kollokationsplanes nicht
"verabsolutiert" werden, zumal die "in einem Inventar aufgeführten Aktiven
oft nur sehr vage bewertet werden" und auch nachträgliche Änderungen
des Kollokationsplanes in Grenzfällen wieder zu völlig veränderten
Situationen führen könnten. Im vorliegenden Fall seien denn auch in
dem am 24. Oktober 1981 zusammen mit dem Kollokationsplan aufgelegten
Inventar Anfechtungs- und Verantwortlichkeitsansprüche angeführt worden;
erst bei Vorlage der Vergleiche mit den als verantwortlich erachteten
Verwaltungsratsmitgliedern im Oktober 1984 habe sich der für die Kasse zu
erwartende Schaden ermitteln lassen. Mit den Schadenersatzverfügungen vom
27. November 1984 habe deshalb die Ausgleichskasse innert der einjährigen
Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV gehandelt. Im übrigen wäre die
Verwirkung insoweit ohnehin nicht eingetreten, als der Schaden auf einer
Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen beruhe, wofür gemäss Art. 82
Abs. 2 AHVV die strafrechtliche Verjährungsfrist von fünf Jahren gälte.

    b) Die in Erw. 2 hievor dargelegten Grundsätze, wonach die Kenntnis
des Schadens im Falle eines Konkurses in der Regel schon bei Eröffnung
der Kollokation der Forderungen bzw. bei Auflegung des Kollokationsplanes
(und des Inventars) gegeben ist, finden auch im Bereiche des Zivilrechts
(BGE 111 II 167 Erw. 1a) sowie auf dem Gebiete des öffentlichen Rechts
(BGE 108 Ib 100 betreffend Art. 20 VG) Anwendung. Damit erlaubt es
die Rechtsprechung dem Gläubiger - entgegen der vom BSV anscheinend
vertretenen Auffassung - nicht, die Geltendmachung seiner Forderung
bis zu dem Zeitpunkt hinauszuschieben, in welchem er das genaue Ausmass
seines Verlustes kennt. Dies stimmt mit den im Zivilrecht anwendbaren
Grundsätzen überein. Danach beginnt die in Art. 60 Abs. 1 und Art. 67
Abs. 1 OR festgelegte einjährige Frist in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem
der Geschädigte von der Existenz, der Beschaffenheit und den wesentlichen
Merkmalen des Schadens Kenntnis erlangt hat, d. h. alle tatsächlichen
Umstände kennt, die geeignet sind, eine Klage zu veranlassen. Von
diesem Zeitpunkt an kann von ihm verlangt werden, dass er sich über die
Einzelheiten informiert, die geeignet sind, seine Klage zu begründen
(BGE 112 V 162, 111 II 57 und 167, 109 II 435 mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 108 Ib 100).

    Kann indessen im Zeitpunkt der Auflegung des Kollokationsplanes und
des Inventars die Schadenshöhe infolge ungewisser Konkursdividende nicht
bzw. auch nicht annähernd zuverlässig ermittelt werden, so rechtfertigt
sich deren Berücksichtigung in dem Sinne, dass der Belangte gegen
Abtretung einer allfälligen Konkursdividende zur Ersetzung des ganzen
dem Geschädigten entzogenen Betrages verpflichtet wird. Diese auf
den Gebieten des Zivilrechts und des öffentlichen Rechts (BGE 111 II
164; vgl. auch BGE 108 Ib 97) angewandte Methode ist auch im Rahmen
von Schadenersatzforderungen gemäss Art. 52 AHVG und Art. 82 Abs. 1
AHVV der vom Bundesamt vorgeschlagenen Lösung mit der grundsätzlich
erst bei Abschluss des Konkurses gegebenen Kenntnis der genauen
Schadenshöhe vorzuziehen. Denn abgesehen davon, dass es aus Gründen der
Verfahrensökonomie und der Rechtssicherheit fragwürdig erscheint, den
Beginn des Fristenlaufes im jeweiligen Einzelfall verschieden festzulegen,
widerspricht es auch der zitierten Rechtsprechung sowie den Interessen
der Verfahrensbeteiligten, die Geltendmachung einer Forderung - namentlich
bei aufwendigen konkursamtlichen Liquidationen (BGE 108 Ib 101) - während
längerer Zeit hinauszuschieben. Zudem entspricht es der - grundsätzlich
auch im vorliegend erörterten Zusammenhang geltenden - Zielsetzung des
Schadenersatzrechts, dass der Geschädigte wieder so gestellt wird, wie
wenn ihm der geschuldete Betrag nicht entzogen worden wäre; dabei hat der
Schädiger die Ungewissheit über die endgültige Konkursdividende zu tragen,
was als billig erscheint.

    Somit hat eine Ausgleichskasse, deren Verlust im Zeitpunkt der
Auflegung des Kollokationsplanes und des Inventars zufolge ungewisser
Konkursdividende noch nicht bzw. auch nicht annähernd genau bestimmt
werden kann, ihre Schadenersatzverfügung derart auszugestalten, dass
sie die Belangten zur Ersetzung des ganzen, der Schadenersatzforderung
entsprechenden Betrages gegen Abtretung der Konkursdividende verpflichtet.

    c) In dem am 5. März 1980 über die Firma S. und K. AG eröffneten
Konkurs ist die Auflegung des Kollokationsplanes und des Inventars
erstmals am 26. April 1980 erfolgt, was das Konkursamt im Schweizerischen
Handelsamtsblatt sowie im Kantonsblatt bekanntgab. In diesem Zeitpunkt
hätte die Ausgleichskasse dem Kollokationsplan und dem Inventar
entnehmen können, dass - beim Fehlen von Erstklassgläubigern - den
Forderungen der Zweitklassgläubiger (Kasse und SUVA) von insgesamt
Fr. 69'985.70 inventarisierte Aktiven von total Fr. 10'492.--
gegenüberstanden, wobei im Inventar noch "evtl. Anfechtungsansprüche"
und "evtl. Verantwortlichkeitsansprüche" angeführt waren. Damit
stand für die Ausgleichskasse die Schadenshöhe infolge ungewisser
Konkursdividende noch nicht fest, zumal die von der Konkursmasse
abgeschlossenen Vergleiche mit den Beschwerdegegnern betreffend Abgeltung
der Verantwortlichkeitsansprüche in der Höhe von insgesamt Fr. 13'000.--
erst am 4. November 1981 unterzeichnet bzw. im Oktober 1984 vom Konkursamt
als genehmigt erklärt wurden. Indessen hätte die Kasse gemäss den in
Erw. 3b hievor dargelegten Grundsätzen bereits am 26. April 1980 die
Schadenersatzverfügungen erlassen können, als die erstmalige Auflegung des
Kollokationsplanes und des Inventars erfolgte, und dabei die Betroffenen
gegen Abtretung der Konkursdividende zur Ersetzung des ganzen ihr
entzogenen Betrages verpflichten können. Indem die Ausgleichskasse
ihre Schadenersatzforderungen erst am 27. November 1984 verfügungsweise
geltend machte, handelte sie nach Ablauf der einjährigen Verwirkungsfrist
des Art. 82 Abs. 1 AHVV. Im übrigen bestehen - entgegen der vom BSV in
seiner nachträglichen Vernehmlassung anscheinend vertretenen Meinung -
aufgrund der Akten und der Parteivorbringen (BGE 110 V 53 Erw. 4a) keine
hinreichenden Anhaltspunkte für das Vorliegen strafbarer Handlungen,
was gegebenenfalls die Prüfung der im Strafrecht vorgesehenen längern
Verjährungsfristen im Sinne von Art. 82 Abs. 2 AHVV rechtfertigen würde. Es
muss daher bei der Feststellung bleiben, dass die Schadenersatzverfügungen
nach Ablauf der einjährigen Verwirkungsfrist des Art. 82 Abs. 1 AHVV
und mithin verspätet erlassen worden sind. Der Schadenersatzanspruch der
Kasse gegenüber den Beschwerdegegnern ist demzufolge verwirkt.