Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IV 17



113 IV 17

6. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 5. März 1987 i.S. S. gegen
Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 93 Abs. 1 StGB. Änderung einer Massnahme.

    1. Die "urteilende Behörde" (dazu E. 2b) kann eine früher angeordnete
jugendstrafrechtliche Massnahme nicht nur ändern, solange der Jugendliche
noch "strafunmündig" ist; eine Änderung der Massnahme kann vielmehr bis
zur Erreichung der in Art. 94 Ziff. 5 StGB vorgesehenen Höchstaltersgrenzen
erfolgen (E. 2a).

    2. Die urteilende Behörde ist bei der Änderung einer Massnahme nur
an die gesetzlichen Voraussetzungen gebunden, unter welchen die neue
Massnahme überhaupt zulässig ist, und entscheidet im übrigen nach ihrem
Ermessen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der am 1. September 1966 geborene S. war am 30. Juni 1983 in
ein Erziehungsheim eingewiesen worden. Am 16. Juli 1984 änderte der
Jugendgerichtspräsident des Oberlandes die Massnahme in dem Sinne ab,
als er an ihre Stelle die Erziehungshilfe treten liess. Am 14. März
1985 musste S. wegen Widerhandlung gegen das BetmG zu einer bedingt
aufgeschobenen Haftstrafe von fünf Tagen und zu einer Busse verurteilt
werden. Kurz darauf setzte er sich nach Amsterdam ab, wo er erneut zu
Drogen griff. Nachdem er am 17. Juni 1985 in die Schweiz zurückgekehrt
war, wurde eine sogenannte Nachbegutachtung angeordnet. Angesichts des
Umstandes, dass sich S. in einer relativ ruhigen Phase befand, bei seinem
Vater wohnte und einer geregelten Arbeit nachging, empfahl der Experte
bloss eine ambulante psychiatrische Begleitung und befürwortete nur für
den Fall des Versagens eine Änderung der vom Jugendgerichtspräsidenten
des Oberlandes angeordneten Erziehungshilfe. Im Januar 1986 gab S. jedoch
seine Stelle auf und verschwand erneut nach Amsterdam, wo er sich wiederum
dem Drogenkonsum hingab. Während seiner Abwesenheit verurteilte ihn der
Gerichtspräsident II von Thun wegen Diebstahls, Veruntreuung, Hehlerei und
Widerhandlungen gegen das BetmG und das SVG zu 30 Tagen Gefängnis, unter
Aufschub des Strafvollzuges und Anordnung einer ambulanten psychiatrischen
Betreuung. Nachdem S. nach fast dreimonatigem Aufenthalt in Amsterdam
in die Schweiz zurückgeschafft worden war, wurde er bei einer Familie
plaziert, wo er indessen bald darauf weglief. Am 3. Juli 1986 wurde er
zur Abklärung einer allfälligen Drogenabhängigkeit in die Psychiatrische
Klinik Waldau eingewiesen, die er nach kurzer Zeit völlig unerwartet
verliess. Betrunken und verwahrlost wieder aufgefunden, wurde er trotz
Cannabiskonsums am Eintrittstage wieder in die Klinik aufgenommen. Als
ihm in der Folge wegen seines verletzenden Verhaltens einem Team-Mitglied
gegenüber seine Wegweisung bekanntgegeben wurde, entwich er noch am
gleichen Abend aus der Klinik.

    Am 18. September 1986 änderte das Oberländische Jugendgericht die vom
Jugendgerichtspräsidenten angeordnete Erziehungshilfe ab und verfügte
die Unterbringung des S. in einem Erziehungsheim. Das Obergericht des
Kantons Bern bestätigte am 27. November 1986 in Anwendung von Art. 91
Ziff. 1 und Art. 93 StGB diesen Entscheid. Eine dagegen gerichtete
Nichtigkeitsbeschwerde weist der Kassationshof ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer stellt nach dem Sinn seiner
Ausführungen einerseits eine materiellrechtliche und anderseits eine
verfahrensrechtliche Frage zur Entscheidung. Hinsichtlich beider Punkte
erweist sich indessen seine Beschwerde als unbegründet.

    a) Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers hat sich mit der
Revision der jugendstrafrechtlichen Bestimmungen an der schon im früheren
Art. 93 StGB vorgesehenen Möglichkeit, eine einmal angeordnete Massnahme
durch eine andere, den Erziehungs- oder Behandlungsbedürfnissen
des Jugendlichen besser angepasste zu ersetzen, grundsätzlich
nichts geändert. Die Sanktionen des Jugendstrafrechts sind weiterhin
ausschliesslich auf die Spezialprävention ausgerichtet (REHBERG, Grundriss,
Strafrecht II 4. Aufl. S. 89 Ziff. 2), und es ist die Abänderbarkeit
der Massnahmen auch heute noch einer der charakteristischen Züge des
jugendstrafrechtlichen Massnahmerechts (BBl 1965 I 592; BOEHLEN, Kommentar
zum schweizerischen Jugendstrafrecht, N. 3 zu Art. 86 in Verbindung mit
N. 2 zu Art. 93). Dieser Gedanke ist denn auch im rev. Art. 93 Abs. 1
StGB verankert und hat seinen Niederschlag überdies in den Art. 93ter
und 94 Ziff. 2 Abs. 1 in fine StGB gefunden. Der Hinweis der Vorinstanz
auf BGE 80 IV 149 ist deshalb keineswegs verfehlt.

    Entsprechend der besonderen Zielrichtung der jugendstrafrechtlichen
Massnahmen verpflichtet das Gesetz die vollziehende Behörde, die Erziehung
und besondere Behandlung des Jugendlichen stets zu überwachen (Art. 93bis
Abs. 1 StGB). Erweist sich dabei, dass die angeordnete Massnahme ihren
Zweck nicht erfüllt, ist sie von der urteilenden Behörde zu ändern. Das
ist nicht nur gegenüber dem ursprünglichen Entscheid möglich, sondern auch
gegenüber einem Abänderungsurteil, wobei die Änderung in der Anordnung
einer im Verhältnis zur bisherigen mehr oder weniger eingreifenden
Massnahme bestehen kann (BOEHLEN, op.cit. N. 3 zu Art. 86 in Verbindung
mit N. 2 zu Art. 93; SCHULTZ, Einführung in den AT des Strafrechts II,
4. Aufl. S. 247). Dass die urteilende Behörde - wie der Beschwerdeführer
meint - eine Massnahme nur so lange ändern dürfte, als der Jugendliche
noch "strafunmündig" ist, lässt sich weder dem Wortlaut noch dem Sinn
des Gesetzes entnehmen. Eine Änderung der jugendstrafrechtlichen
Massnahmen kann vielmehr formell bis zur Erreichung der in Art. 94
Ziff. 5 StGB vorgesehenen Höchstaltersgrenzen, d.h. bis zum zurückgelegten
22. bzw. 25. Altersjahr erfolgen (REHBERG, op.cit. S. 101 in Verbindung
mit S. 96 oben), auch wenn eine Änderung der Massnahme in der Regel nur
so lange als zweckmässig erscheinen wird, als noch ein genügend langer
Zeitraum vor dem zurückgelegten 22. bzw. 25. Altersjahr zur Verfügung
steht, um die neu angeordnete Massnahme wirkungsvoll durchführen zu
können (BOEHLEN, op.cit. N. 6 zu Art. 86 und N. 5 zu Art. 93 und die
dortige Auseinandersetzung mit BGE 76 IV 224). Als die Vorinstanz im
vorliegenden Fall ihren Änderungsentscheid fällte und die Unterbringung des
Beschwerdeführers in einem Erziehungsheim anordnete, war dieser 20 Jahre
und 3 Monate alt. Da die fragliche Massnahme aber nach Art. 94 Ziff. 5
StGB bis zum zurückgelegten 22. Altersjahr des Jugendlichen dauern kann,
ist deren Anordnung unter dem Gesichtspunkt der noch möglichen Dauer
nicht zu beanstanden.

    b) Art. 93 Abs. 1 StGB weist in seiner revidierten Fassung die
Befugnis zur Änderung einer getroffenen Massnahme der "urteilenden"
Behörde zu. Damit wurde die frühere Regelung, die von der "zuständigen"
Behörde sprach, lediglich zum Zweck der Unterscheidung der urteilenden
von der vollziehenden Behörde geändert, um klarzumachen, dass Entscheide,
durch welche eine jugendstrafrechtliche Massnahme abgeändert wird, eine
inhaltliche Änderung eines früheren Urteils bewirken und daher ihrerseits
Urteilscharakter haben mit der Folge, dass sie gleich jenem mit den durch
das kantonale Verfahrensrecht gegebenen Rechtsmitteln und in letzter
Instanz mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden
können (Sten.Bull. N 1969, 131; S 1970 S. 109 und 435 f.). Im übrigen aber
blieb es den Kantonen anheimgestellt, die urteilende Behörde im Sinne
des Art. 93 StGB zu bezeichnen (Art. 369 StGB). Insoweit sind demnach
die Kantone in der Organisation der Jugendrechtspflege frei. Da zu dieser
die Änderung von Massnahmen gemäss Art. 93 StGB gehört, bestimmt auch das
kantonale Recht, welche Behörde diesen Entscheid zu fällen hat, wenn der
Jugendliche inzwischen strafmündig geworden ist. Aus Art. 1 Abs. 4 VStGB
(1) ergibt sich entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nichts, was zu
einem andern Schluss führen müsste. Diese Bestimmung regelt den Fall, dass
der Täter sich teils vor, teils nach dem zurückgelegten 18. Altersjahr
strafbar gemacht hat. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Der
Änderungsentscheid der Dreierkammer des Oberländischen Jugendgerichts,
den der Beschwerdeführer beim Obergericht angefochten hat, schloss
an strafbare Handlungen an, welche er vor dem 18. Altersjahr begangen
hatte und Gegenstand eines am 30. Juni 1983 ergangenen Urteils bildeten,
in welchem bereits eine Einweisung des damals noch nicht 17jährigen
in ein Erziehungsheim angeordnet worden war, welche Massnahme der
Jugendgerichtspräsident im Jahre 1984 durch eine Erziehungshilfe ersetzt
hatte. Die Tatsache, dass im vorliegenden Fall die Massnahmeänderung
vom Jugendgericht angeordnet wurde, verletzt daher das Bundesrecht
nicht. Daran ändert der Umstand nichts, dass sich aus einer solchen Ordnung
Kollisionen zwischen der jugendstrafrechtlichen Massnahme und einer vom
"Erwachsenenstrafrichter" ausgefällten Sanktion ergeben können. Diese
lassen sich in analoger Anwendung von Art. 1 Abs. 4 Satz 2 VStGB (1)
lösen (s. RStrS 1982 Nr. 381; vgl. auch BGE 111 IV 6 ff.).

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer wendet schliesslich ein, auch wenn das Urteil
des Obergerichtes aus den von ihm bereits angeführten Gründen nicht zu
kassieren wäre, müsste es aufgehoben werden, weil es in keiner Weise den
Grundsätzen der Verhältnismässigkeit und Zweckmässigkeit Rechnung trage.

    Wie der Kassationshof schon unter der Herrschaft der früheren
Fassung des Art. 93 Abs. 1 StGB - die anlässlich der Revision von
1971 (Inkrafttreten 1.1.1974) bloss geringfügig abgeändert wurde
(s. hierzu BOEHLEN, op.cit. N. 1 zu Art. 93) - entschieden hat, ist
die urteilende Behörde bei der Änderung der getroffenen Massnahme nur
an die gesetzlichen Voraussetzungen gebunden, unter welchen die neue
Massnahme überhaupt zulässig ist, und entscheidet sie im übrigen nach
ihrem Ermessen (BGE 80 IV 149 E. 2, s. auch 99 IV 138 E. 2, 96 IV 13 E. 3,
88 IV 98 E. 2). Voraussetzung für die Anordnung einer Einweisung in ein
Erziehungsheim ist nach Art. 91 Ziff. 1 StGB, dass der Jugendliche einer
besonderen erzieherischen Betreuung bedarf. Dass diese Voraussetzung in
casu erfüllt ist, steht nach den für den Kassationshof verbindlichen
Feststellungen der Vorinstanz über das Verhalten des S. seit Juli
1984 ausser jedem Zweifel; aus ihren eingehenden Erwägungen ergibt sich
nämlich, dass die vom Jugendgerichtspräsidenten des Oberlandes angeordnete
Erziehungshilfe trotz intensiver Betreuung des S. durch die vollziehende
Behörde und vorbildlicher Bemühungen des Lehrmeisters klarerweise
versagt hat. Der Ersatz dieser Massnahme durch eine Einweisung des
Beschwerdeführers in ein Erziehungsheim erscheint daher keineswegs als
unverhältnismässig, zumal ja auch dem Versuch, den Beschwerdeführer in
einer geeigneten Familie unterzubringen, der Erfolg versagt geblieben
ist. Wenn die Vorinstanz gestützt auf ein Gutachten, wonach der
Beschwerdeführer für die nächsten ein bis zwei Jahre einer stationären
Behandlung mit dem Ziel einer Nachreifung und einer beruflichen Ausbildung
bedarf, und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände zum Ergebnis
gelangte, die Einweisung des S. in ein Erziehungsheim sei die einzig
zweckmässige Massnahme, so hat sie damit das ihr zustehende Ermessen
nicht überschritten und folglich Bundesrecht nicht verletzt. Soweit der
Beschwerdeführer versucht, die vorinstanzliche Würdigung des Gutachtens
und die daraus gezogenen Schlüsse des Obergerichtes zu entkräften, ist er
nicht zu hören. Die Beweiswürdigung des kantonalen Sachrichters und seine
darauf gestützten tatsächlichen Feststellungen binden den Kassationshof
und können daher mit der Nichtigkeitsbeschwerde nicht bemängelt werden
(Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).

    Der Einwand aber, der Beschwerdeführer sei in keiner Weise motiviert
und habe sich konsequent und regelmässig gegen eine Anstaltseinweisung
ausgesprochen, ist unbehelflich. Angesichts seines bisherigen Verhaltens
kann diese Einstellung nicht dazu führen, von der durch die kantonalen
Behörden angeordneten Massnahme abzusehen; der Eingewiesene soll nicht
durch schlechte Führung sich der Anstaltseinweisung entziehen und
eine weniger eingreifende Massnahme erzwingen können, wenn er diese
für vorteilhafter hält (BGE 96 IV 15). Im vorliegenden Fall ruft das
wiederholte Versagen des Beschwerdeführers geradezu einer Fortsetzung
seiner erzieherischen Betreuung mit den Mitteln einer anstaltlichen
Disziplin.