Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 II 386



113 II 386

67. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Oktober 1987
i.S. J. gegen Direktion der Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Art. 386 Abs. 2 ZGB; vorläufige Entziehung der
Handlungsfähigkeit.

    Ersucht der Betroffene um die Wiedereinsetzung in die
Handlungsfähigkeit, die ihm nach Massgabe von Art. 386 Abs. 2 ZGB entzogen
worden ist, so kann die vorläufige Massnahme nur aufrechterhalten bleiben,
sofern die Voraussetzungen hiefür auch im Zeitpunkt erfüllt sind, wo
deren Aufhebung verlangt wird. Auch ein hängiges Entmündigungsverfahren
rechtfertigt es nicht, die vorläufige Entziehung der Handlungsfähigkeit
aufrechtzuerhalten, wenn nicht dringende vormundschaftliche Geschäfte zu
besorgen sind.

Sachverhalt

    A.- Mit Beschluss vom 4. Dezember 1984 wies die Vormundschaftsbehörde
F. den 1942 geborenen J. nach Massgabe von Art. 397a ZGB in die
Psychiatrische Klinik ein und erteilte dieser gleichzeitig einen
Auftrag zur psychiatrischen Begutachtung. Da sich J. in der Folge
erfreulich entwickelte, konnte er aus der Klinik entlassen werden, und
die Vormundschaftsbehörde setzte ihn mit Beschluss vom 27. September 1985
auch wieder in die ein knappes Jahr zuvor entzogene Handlungsfähigkeit ein.

    Nachdem er erneut dem Alkohol verfallen war, trat J. im Frühjahr 1986
freiwillig in die Psychiatrische Klinik ein. Die Vormundschaftsbehörde
ihrerseits ordnete die fürsorgerische Freiheitsentziehung an, erteilte
der Klinik einen Auftrag zur Begutachtung der Frage, ob vormundschaftliche
Massnahmen anzuordnen seien, und entzog J. wiederum gestützt auf Art. 386
Abs. 2 ZGB die Handlungsfähigkeit.

    Nun durch einen Rechtsanwalt vertreten, reichte J. im Herbst 1986 beim
Bezirksrat Beschwerde gegen ein Schreiben der Vormundschaftsbehörde ein,
worin sich diese gegen die Wiedereinräumung der vorsorglich entzogenen
Handlungsfähigkeit ausgesprochen hatte. Der Bezirksrat wies die Beschwerde
ab. J. zog diesen Entscheid an die Direktion der Justiz des Kantons
Zürich weiter, welche die Beschwerde abwies.

    B.- Inzwischen hat der Bezirksrat den Beschwerdeführer gestützt auf
die beiden psychiatrischen Gutachten von 1985 und 1986 nach Massgabe der
Art. 369 und 370 ZGB entmündigt. J. hat gerichtliche Beurteilung verlangt,
und das Bezirksgericht hat die Entmündigung aufgrund von Art. 370 ZGB
ausgesprochen. Dieser Entscheid ist an das Obergericht des Kantons Zürich
weitergezogen worden und dort hängig.

    C.- Gegen die Verfügung der Direktion der Justiz hat
J. staatsrechtliche Beschwerde an das Bundesgericht erhoben, die
gutgeheissen worden ist, soweit darauf eingetreten werden konnte.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Zur Hauptsache legt der Beschwerdeführer der Direktion
der Justiz des Kantons Zürich eine Verletzung der persönlichen
Freiheit zur Last, weil sie ihm gestützt auf Art. 386 Abs. 2 ZGB die
Handlungsfähigkeit entzogen und seinem Gesuch um Aufhebung dieser
vorsorglichen Massnahme nicht entsprochen hat. Es fragt sich indessen,
ob einer kantonalen Behörde aufgrund des Umstandes, dass sie eine
Bestimmung des Bundeszivilrechts anwendet, die eine Beschränkung der
persönlichen Freiheit ausdrücklich vorsieht, vorgeworfen werden kann, sie
verletze dieses verfassungsmässige Recht. Die Frage kann offenbleiben,
da den Ausführungen des Beschwerdeführers entnommen werden kann, dass
er im Grunde genommen der Direktion der Justiz des Kantons Zürich eine
willkürliche Anwendung von Art. 386 ZGB zum Vorwurf macht, und da - wie
sich im folgenden erweisen wird - schon die Willkürrüge zur Aufhebung
des angefochtenen Entscheides führt.

    b) Art. 386 Abs. 1 ZGB räumt der Vormundschaftsbehörde die Befugnis
ein, von sich aus die erforderlichen Massregeln zu treffen, wenn es schon
vor der Wahl des Vormundes notwendig wird, vormundschaftliche Geschäfte
zu besorgen. Insbesondere kann die Vormundschaftsbehörde - gemäss Art. 386
Abs. 2 ZGB - die vorläufige Entziehung der Handlungsfähigkeit aussprechen
und eine Vertretung anordnen.

    Nach der Rechtsprechung können solche vorsorgliche Massnahmen -
vor allem auch die "vorläufige Entmündigung", wie die Entziehung
der Handlungsfähigkeit etwa genannt wird (SCHNYDER/MURER, N. 71 zu
Art. 386 ZGB) - angeordnet werden, wenn sich eine Entmündigung wegen
Misswirtschaft aufdrängt; allenfalls schon vor Einreichung der Klage
von seiten der Vormundschaftsbehörde soll der zu Entmündigende ohne
Verzug daran gehindert werden, in bisheriger Weise zum Nachteil seines
eigenen Vermögens weiterzuwirtschaften (BGE 57 II 8; ZVW 24/1969, S. 66
ff.). Dabei wird allerdings gefordert, dass die Entmündigung nicht schon
aufgrund eines blossen Scheines eines Entmündigungsgrundes vorweggenommen
wird, sondern dass die Vormundschaftsbehörde die vorsorgliche Massnahme
erst anordnet, wenn sie sich vom Vorhandensein eines Entmündigungsgrundes
überzeugt hat, soweit dies mit den ihr zum Zeitpunkt der Anordnung zur
Verfügung stehenden Mitteln möglich ist.

    Im Lichte des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit müssen die gestützt
auf Art. 386 ZGB ergriffenen Massnahmen sich auf das gerade Notwendige
beschränken. Zur Entziehung der Handlungsfähigkeit im Sinne von Art. 386
Abs. 2 ZGB darf erst geschritten werden, wenn die vertretungsweise Vornahme
der vormundschaftlichen Geschäfte, wie sie gestützt auf Art. 386 Abs. 1
ZGB möglich ist, nicht genügt, um die wirtschaftlichen Interessen des
Betroffenen, seiner Familie und auch Dritter zu schützen (SCHNYDER/MURER,
N. 12, 20, 27, 40 zu Art. 386 ZGB; Kommentar EGGER, N. 8, 26 zu Art. 386
ZGB).

    Art. 386 Abs. 2 ZGB kann nur zum Zuge kommen, wenn mit grosser
Wahrscheinlichkeit ein Entmündigungsgrund vorliegt und dringende
vormundschaftliche Geschäfte zu besorgen sind, die nicht anders als durch
die sofortige Entziehung der Handlungsfähigkeit bewältigt werden können
(SCHNYDER/MURER, N. 79, 82 zu Art. 386 ZGB; EGGER, N. 30 zu Art. 386 ZGB).
Sobald diese sachlichen Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind oder
Massnahmen nach Art. 386 Abs. 1 ZGB ausreichen, muss die vorläufige
Vormundschaft sofort aufgehoben werden - dies ungeachtet dessen, ob das
ordentliche Entmündigungsverfahren seinen Fortgang nimmt (SCHNYDER/MURER,
N. 119 zu Art. 386 ZGB).

    c) Die Direktion der Justiz des Kantons Zürich hat die Weigerung,
den Beschwerdeführer wieder in seine Handlungsfähigkeit einzusetzen,
damit begründet, dass nach dem Gutachten der Psychiatrischen Klinik
eine Beistandschaft oder Beiratschaft nicht ausreiche; vielmehr seien
die Voraussetzungen für eine Entmündigung nach Art. 379 ZGB - recte wohl:
Art. 369 ZGB - erfüllt. Der Beschwerdeführer sei schwer alkoholabhängig und
leide an körperlichen Entzugserscheinungen wie auch an schweren sozialen
Folgeschäden. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer auf Arbeitssuche
sei und die Klinik in absehbarer Zeit verlassen werde. Nach ständiger
Praxis sei die Wiedereinräumung der Handlungsfähigkeit nicht in Betracht
zu ziehen, wenn die Voraussetzungen für die Entmündigung erfüllt scheinen
oder die zuständige Behörde sie sogar schon ausgesprochen habe oder das
gerichtliche Verfahren hängig sei.

    Als merkwürdig bezeichnet die Direktion der Justiz des Kantons
Zürich die Auffassung des Beschwerdeführers, dass seine Schulden
gegenüber der Gemeinde nicht ins Gewicht fallen sollten. Die Tatsache,
dass Fürsorgeleistungen hätten erbracht werden müssen, zeige, dass
der Beschwerdeführer nicht in der Lage sei, für sich zu sorgen und den
Verpflichtungen gegenüber seiner Familie nachzukommen.

    In der dem Bundesgericht eingereichten Vernehmlassung teilt die
Direktion der Justiz des Kantons Zürich mit, dass das Bezirksgericht die
Entmündigung ausgesprochen habe und damit dem psychiatrischen Gutachten
gefolgt sei. Aus den Akten gehe mit aller Deutlichkeit hervor, dass
dem Beschwerdeführer schon früher Gelegenheit zur Bewährung gegeben
worden sei, er diese aber nicht habe nutzen können. Daher habe ihm die
Handlungsfähigkeit entzogen werden müssen. Es würde zu einem merkwürdigen
Ergebnis führen, wenn bei wahrscheinlicher Entmündigung, wie sie
auch das letzte psychiatrische Gutachten empfehle, und bei pendentem
Entmündigungsverfahren die Handlungsfähigkeit wieder eingeräumt würde
mit dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführer ihrer kurze Zeit später wegen
Entmündigung wieder verlustig ginge. Der Beschwerdeführer habe sich selber
mit dem Entzug der Handlungsfähigkeit einverstanden erklärt und sich erst
später um die Rückgängigmachung der vorsorglichen Massnahme bemüht.

    d) Aus den Ausführungen der Direktion der Justiz des Kantons Zürich
geht - wie der Beschwerdeführer zutreffend hervorhebt - nicht hervor,
inwiefern heute dringende vormundschaftliche Geschäfte zu besorgen
wären oder inwiefern der Beschwerdeführer durch die Entziehung der
Handlungsfähigkeit im jetzigen Zeitpunkt davor bewahrt werden müsste,
durch die Verschleuderung von Vermögenswerten seine eigene wirtschaftliche
Existenz oder jene seiner Familie ernstlich zu gefährden (vgl. zur
Kasuistik SCHNYDER/MURER, N. 102 ff. zu Art. 386 ZGB).

    Der Beschwerdeführer hat wegen seiner Alkoholsucht seit 1974 die
Vormundschaftsbehörden beschäftigt. Auch müssen er und seine Familie
seit Jahren unterstützt werden, was zu einer hohen Verschuldung
gegenüber der Gemeinde geführt hat. Nach seinem letzten Rückfall sah
der Beschwerdeführer selber ein, dass er der Betreuung bedurfte, und
er trat daher freiwillig in die Psychiatrische Klinik ein. Von dort
aus wandte er sich an die Vormundschaftsbehörde, die dadurch erfuhr,
dass die Nachbetreuung durch die Alkoholfürsorgestelle nicht zum Tragen
gekommen war. Diese Nachbetreuung war mit ein Grund für die seinerzeitige
Wiedereinsetzung in die Handlungsfähigkeit gewesen. Im Zeitpunkt der
erneuten Entziehung der Handlungsfähigkeit liess sich demnach, entgegen
der Meinung des Beschwerdeführers, die behördliche Massnahme nicht
beanstanden. Abgesehen von dem der Vormundschaftsbehörde zustehenden
Ermessen, ist zu berücksichtigen, dass die Behörde rasch handeln musste
und deshalb nur summarisch prüfen konnte, ob die Voraussetzungen zur
Anordnung der vorsorglichen Massnahme gegeben waren.

    Für den Zeitpunkt aber, wo der Beschwerdeführer um Wiedereinsetzung
in die Handlungsfähigkeit ersucht hat, wird nichts Konkretes vorgebracht,
was die Aufrechterhaltung der vorsorglichen Massnahme nach Art. 386 Abs. 2
ZGB rechtfertigen würde. Das wäre notwendig, um einem Gesuch um Aufhebung
der vorläufigen Entmündigung entgegentreten zu können. Die Tatsache, dass
das Bezirksgericht inzwischen die Entmündigung ausgesprochen hat, genügt
dafür ebensowenig wie die Tatsache, dass der Beschwerdeführer verschuldet
ist. Letzteres ist zwar eine Folge der wegen der Trunksucht verminderten
Arbeitsfähigkeit und des Verlustes von Arbeitsstellen (Genaueres hierüber
lässt sich auch den Akten nicht entnehmen). Indessen vermögen die Schulden
noch nicht die fortgesetzte Entziehung der Handlungsfähigkeit zu begründen,
da diese vorsorgliche Massnahme - wie dargelegt - nur aufrechterhalten
werden könnte, wenn dringliche vormundschaftliche Geschäfte zu besorgen
wären oder der Beschwerdeführer vor der Verschleuderung vorhandener
Vermögenswerte bewahrt werden müsste.

    In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass der Beschwerdeführer
sich im gegenwärtigen Zeitpunkt offenbar noch in der Psychiatrischen
Klinik aufhält. Seine wirtschaftliche Existenz lässt sich demnach im
gegenwärtigen Zeitpunkt durch andere Massnahmen als durch die - als ultima
ratio vorgesehene - Entziehung der Handlungsfähigkeit sichern.

    Bei allem Verständnis für die heikle Aufgabe der Vormundschaftsbehörde
kann nicht eine vorsorgliche Massnahme gebilligt werden, deren
Aufrechterhaltung praktisch darauf hinausläuft, dass die (hier nicht
zu diskutierende) Entmündigung vorweggenommen wird. Weder die ins Feld
geführte Praxis der Zürcher Behörden noch die Überlegung, dass mit der
Aufhebung der vorsorglichen Massnahme der Beschwerdeführer wieder in
seine Handlungsfähigkeit eingesetzt werde, diese ihm im Zeitpunkt, wo
die Entmündigung in Rechtskraft tritt, aber doch wieder entzogen werde,
können Anlass dazu geben, die gestützt auf Art. 386 Abs. 2 ZGB angeordnete
Massnahme weiterbestehen zu lassen. Vielmehr ist die vorsorgliche Massnahme
sofort aufzuheben, wenn die Voraussetzungen hiefür weggefallen sind.

    Der angefochtene Entscheid der Direktion der Justiz des Kantons Zürich
erweist sich demnach nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis
als unhaltbar, so dass er wegen Verletzung des Willkürverbots aufzuheben
ist (BGE 111 III 10 E. 3a, mit Hinweisen).