Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IB 72



113 Ib 72

13. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 12. Januar 1987 i.S. X. AG gegen Bundesamt für Polizeiwesen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Staatsvertrag mit den Vereinigten Staaten von Amerika über gegenseitige
Rechtshilfe in Strafsachen (RVUS).

    1. Stellt das Bundesamt für Polizeiwesen in einer Zwischenverfügung
fest, dass einer Einsprache aufgrund von Art. 16 Abs. 4 des Bundesgesetzes
zum RVUS keine aufschiebende Wirkung zukomme, hat es sich in diesem
Verfahrensstadium noch nicht über die Zulässigkeit der Rechtshilfe im
Grundsatz auszusprechen; da es diese Frage im vorliegenden Fall jedoch
zu Recht nicht völlig ausser acht gelassen hat, rechtfertigt es sich,
die gegen die entsprechenden Ausführungen vorgebrachten Argumente der
Beschwerdeführerin zu behandeln (E. 3).

    2. Voraussetzungen für die Anwendbarkeit von Zwangsmassnahmen;
Art. 4 Ziff. 2 und 4 RVUS. Die Qualifikation der Tat, für die um
Rechtshilfe ersucht wird, richtet sich ausschliesslich nach dem Recht
des ersuchten Staates und muss nicht nach beiden Rechtssystemen unter
praktisch identische Normen fallen. Zwangsmassnahmen sind daher auch
zulässig, wenn die Verletzung des amerikanischen Insider-Tatbestands nach
schweizerischem Recht als eine solche des Anwaltsgeheimnisses (Art. 321
StGB) erscheint (E. 4a und b).

    3. Art. 4 Ziff. 3 RVUS. Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts bei der
Frage, ob die Bedeutung der Tat Zwangsmassnahmen rechtfertige (E. 4c).

Sachverhalt

    A.- Am 28. Januar 1986 stellte das Justizministerium der Vereinigten
Staaten von Amerika (USA) beim Bundesamt für Polizeiwesen als der mit der
Durchführung des Rechtshilfevertrages zwischen der Schweiz und den USA
vom 2. Mai 1973 (RVUS, SR 0.351.933.6) und des im Zusammenhang mit diesem
Staatsvertrag erlassenen Bundesgesetzes vom 3. Oktober 1975 (BG-RVUS,
SR 351.93) zuständigen Zentralstelle ein Rechtshilfeersuchen. Auf
Rückfragen des Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) hin wurde dieses
Ersuchen durch ein solches vom 24. März 1986 ersetzt. Der Grund des
Rechtshilfebegehrens liegt in einem Verfahren der Securities and Exchange
Commission (SEC). Diese führt ein Ermittlungsverfahren betreffend die
schweizerische Finanzgesellschaft X. AG, die sich mit Vermögensverwaltungen
und insbesondere mit dem An- und Verkauf amerikanischer Wertpapiere
befasst. Die SEC gelangte aufgrund von umfangreichen Erhebungen in den
USA zum Schlusse, die X. AG habe für Kunden bei einer grossen Anzahl
sogenannter Insider-Geschäfte mitgewirkt. Sie hält dafür, eine grössere
Anzahl unbekannter, im Stadtteil Brooklyn von New York ansässiger Personen
hätten bei der X. AG jeweils etwa gleichzeitig Wertpapiere gekauft, und
zwar Aktien oder Optionen von Firmen, die gerade vertrauliche Gespräche
über Fusionen, Übernahmen oder andere Veränderungen in der Firmenkontrolle
geführt hätten. Die SEC ist der Auffassung, diese gruppenweise gehäuften
Kaufgeschäfte von Wertpapieren könnten nicht auf einem Zufall beruhen. Sie
glaubt, die Quelle der Informationen, die zu den Geschäften Anlass gegeben
hätten, liege bei einem Anwalt des Büros, das mit der Durchführung der
jeweiligen Verhandlungen betraut gewesen sei. Die Weitergabe solcher
Informationen sei jedoch nach dem Recht der USA verboten.

    Im Rechtshilfebegehren werden die schweizerischen Behörden ersucht,
bei der X. AG sämtliche Dokumente über die fraglichen Geschäfte zu erheben
und die massgebenden Personen der Firma als Zeugen über alle wesentlichen
Umstände hinsichtlich Anbahnung und Durchführung der Transaktionen zu
ersuchen; dabei wird die Zulassung von Vertretern der Behörden der USA
zu den Vernehmungen gewünscht.

    Am 6. August 1986 übermittelte das BAP der Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich das Rechtshilfeersuchen sowie die beiden erwähnten
Ergänzungen nebst Übersetzungen ins Deutsche. Im Begleitschreiben
brachte das BAP die Auffassung zum Ausdruck, das Ersuchen entspreche
den Formerfordernissen gemäss Rechtshilfevertrag und es erscheine auch
nicht aus anderen Gründen als offensichtlich unzulässig, weshalb die
gewünschten Rechtshilfehandlungen zu vollziehen seien. Daraufhin erhob
die X. AG mit Eingabe vom 20. August 1986 Einsprache mit dem Hauptantrag,
es sei dem Rechtshilfeersuchen nicht zu entsprechen, und mit verschiedenen
Eventualanträgen.

    Mit Zwischenverfügung vom 22. August 1986 entzog das BAP in der Folge
der Einsprache der X. AG teilweise die aufschiebende Wirkung.

    Eine dagegen gerichtete Verwaltungsgerichtsbeschwerde weist das
Bundesgericht ab, soweit es darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, es gehe nicht an, dass durch
die angefochtene Zwischenverfügung Zwangsmassnahmen angeordnet worden
seien, bevor über die Zulässigkeit der Rechtshilfe dem Grundsatz nach
entschieden worden sei. Die Unrichtigkeit dieser Auffassung ergibt sich
indessen bereits aus dem Gesetzestext. Die Zulässigkeit der Rechtshilfe
ist auf Einsprache (Art. 16 BG-RVUS) hin vom BAP und allenfalls auf
Verwaltungsgerichtsbeschwerde (Art. 17 BG-RVUS) hin vom Bundesgericht
zu prüfen (BGE 110 Ib 90 E. 2a). Art. 16 Abs. 4 BG-RVUS sieht aber
ausdrücklich vor, dass einer Einsprache die aufschiebende Wirkung
bei Gefahr im Verzuge oder im Falle, dass der vom Einsprecher geltend
gemachte Nachteil erst infolge der Übermittlung der Vollzugsakten an die
amerikanischen Behörden eintreten kann, abgeht. Mit der angefochtenen
Zwischenverfügung stellte das BAP lediglich fest, dass der genannte
Ausnahmefall hier vorliege. Über die Zulässigkeit der Rechtshilfe
im Grundsatz hatte es sich in diesem Verfahrensstadium noch nicht
auszusprechen. Aus diesem Grund geht auch die Rüge der Beschwerdeführerin,
das BAP sei nicht auf alle ihre Einwendungen in der Einsprache vom
20. August 1986 eingegangen, zum vornherein fehl.

    Wenn auch das BAP nach dem Gesagten beim Erlass seiner
Zwischenverfügung nicht zu einer umfassenden Prüfung der Frage, ob die
Rechtshilfe grundsätzlich zulässig sei, gehalten war, hat es sie doch
zu Recht nicht völlig ausser acht gelassen. Es hat sich dazu zumindest
summarisch im Sinne einer Vorbemerkung geäussert. Es rechtfertigt sich
daher, auch die gegen die entsprechenden Erwägungen vorgebrachten Argumente
der Beschwerdeführerin zu behandeln.

Erwägung 4

    4.- Nach Art. 4 Ziff. 2 RVUS dürfen Zwangsmassnahmen bei Ausführung
des Rechtshilfeersuchens dann angewendet werden, wenn die Handlung,
auf die sich das Ersuchen bezieht, die objektiven Voraussetzungen eines
Straftatbestandes erfüllt, nach dem Recht des ersuchten Staates, falls
dort begangen, strafbar wäre und auf einer dem Vertrag beigefügten Liste
strafbarer Tatbestände enthalten ist. Nach Ziff. 3 des nämlichen Artikels
sind Zwangsmassnahmen auch zulässig für Tatbestände, die nicht auf der
Liste aufgeführt sind; die Zentralstelle des ersuchten Staates entscheidet
in diesen Fällen darüber, ob die Bedeutung der Tat Zwangsmassnahmen
rechtfertige.

    a) Das Bundesgericht hat sich in seinem Urteil BGE 109 Ib 47
ff. einlässlich mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen
Rechtshilfe wegen des in den USA verbotenen, in der Schweiz jedoch
als solchem nicht strafbaren Tatbestandes des Effektenhandels durch
Insider zu leisten sei. Es gelangte zum Schluss, die gemäss Art. 4
Ziff. 4 RVUS Voraussetzung der Anwendung von Zwangsmassnahmen bildende
Strafbarkeit in der Schweiz lasse sich aus Art. 162 StGB (Verletzung des
Geschäftsgeheimnisses) ableiten. Nach jenen Ausführungen, auf die verwiesen
werden kann, ist die Strafbarkeit nach schweizerischem Recht dann nicht
gegeben, wenn der Insider sein besonderes Wissen nur zu seinem persönlichen
Vorteil einsetzt. Hingegen lässt sich sein Verhalten unter Art. 162
Abs. 1 StGB subsumieren, wenn er die Information, die geheimzuhalten
er verpflichtet wäre, an einen Dritten weitergibt, und dieser Dritte
seinerseits fällt unter die Strafnorm von Art. 162 Abs. 2 StGB, wenn er
die ihm unter Bruch einer Geheimhaltungspflicht zugekommene Information zu
seinem Vorteil verwendet. Diese Rechtsprechung wurde seither in mehreren
nicht veröffentlichten Entscheiden bestätigt (Urteile vom 16. Mai 1984
in Sachen S. sowie vom 3. Oktober 1985 in Sachen Ch. und R.).

    b) In ihrer Ergänzungseingabe vom 7. November 1986 will die
Beschwerdeführerin einen entscheidenden Unterschied zwischen den vorstehend
zitierten Urteilen und dem hier zu entscheidenden Fall darin erblicken,
dass hier nicht die Verletzung eines Geschäftsgeheimnisses, sondern
diejenige eines Anwaltsgeheimnisses am Anfang der Kausalreihe stehe. Es
sei nicht völlig abgeklärt, ob eine solche Verletzung im Staate New York
strafbar sei; jedenfalls liege nach schweizerischem Recht der Tatbestand
des Art. 162 StGB nicht vor.

    Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Die Qualifikation
der Tat, für die um Rechtshilfe ersucht wird, richtet sich gemäss
Art. 4 Ziff. 4 RVUS ausschliesslich nach dem Recht des ersuchten Staates
(vgl. dazu auch BGE 110 Ib 84 E. 4a; 109 Ib 53 E. 4b; 105 Ib 426 E. 5). Es
kann keine Rede davon sein, dass die Tat nach beiden Rechtssystemen unter
praktisch identische Normen fallen müsste. Nach dem Recht der USA bedeutet
die Verletzung eines anvertrauten Geheimnisses zum eigenen Vorteil oder zum
Vorteil Dritter eine Verletzung des Insider-Tatbestandes, gleichgültig,
ob sie durch einen Anwalt oder durch eine Drittperson begangen werde
(vgl. auch die bereits erwähnten Urteile vom 3. Oktober 1985 in Sachen
Ch. und R., denen eine Geheimnisverletzung durch den Bürochef einer
Anwaltskanzlei zugrunde lag); nach schweizerischem Recht wäre das nämliche
Verhalten entweder als Verletzung des Anwaltsgeheimnisses nach Art. 321
StGB oder aber - jedenfalls wenn der Anwalt ausserhalb seiner engeren
beruflichen Sphäre im Geschäftsleben tätig geworden ist - als Verletzung
des Geschäftsgeheimnisses nach Art. 162 Abs. 1 StGB strafbar. Wenn auch
der Beschwerdeführerin darin beizupflichten ist, dass die Ausnützung einer
Verletzung des Anwaltsgeheimnisses in der Schweiz nicht strafbar ist,
so bleibt somit im vorliegenden Falle immer noch die dem Anwalt selbst
in den Vereinigten Staaten zur Last gelegte gesetzwidrige Handlung. Die
Notwendigkeit, durch Rückwärtsverfolgung des Weges der Informationen von
der Beschwerdeführerin in die Vereinigten Staaten den Sachverhalt näher
zu klären, rechtfertigt für sich allein schon die Rechtshilfe und die
Anwendung von Zwangsmassnahmen. Bei dieser Sachlage kann offengelassen
werden, ob ein Verstoss gegen Art. 162 Abs. 1 StGB nicht auch im Verhalten
eines Rechtsanwalts im Zusammenhang mit seiner berufsspezifischen Tätigkeit
liegen kann, so dass auch insoweit die Ausnützung eines Verrats durch
Dritte strafbar wäre (Art. 162 Abs. 2 StGB).

    c) Da die Verwertung von Insiderwissen keinen in der zum
RVUS gehörenden Liste aufgeführten Tatbestand darstellt, stellt
sich gemäss Art. 4 Ziff. 3 die Frage, ob die Bedeutung der Tat
Zwangsmassnahmen rechtfertige. Das Bundesgericht erkennt dem BAP als
Zentralstelle in diesem Bereich einen erheblichen Ermessensspielraum
zu (BGE 110 Ib 88 mit Hinweisen). Im vorliegenden Falle kann im
Hinblick auf den im Rechtshilfeersuchen und den Ergänzungen dazu
geschilderten aussergewöhnlichen Umfang des einer Anzahl von Kunden
der Beschwerdeführerin zur Last gelegten unerlaubten Insider-Handels
mit Wertpapieren kein vernünftiger Zweifel daran herrschen, dass das
BAP sein Ermessen weder missbraucht noch überschritten hat, wenn es zum
Schlusse gelangte, die Bedeutung der Tat rechtfertige es, beim Vollzug
der Rechtshilfe Zwangsmassnahmen einzusetzen.