Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IB 53



113 Ib 53

9. Urteil des Kassationshofes vom 5. Mai 1987 i.S. Bundesamt für
Polizeiwesen gegen U. und Rekurskommission für Massnahmen gegenüber
Fahrzeugführern des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Führerausweisentzug; analoge Anwendung von Art. 68 StGB auf
Administrativmassnahmen.

    1. Auf das Verfahren vor den kantonalen Instanzen kommt nicht das VwVG,
sondern das kant. Verfahrensrecht zur Anwendung (E. 2).

    2. Art. 68 Ziff. 2 StGB ist bei der Festsetzung der Dauer von
Führerausweisentzügen analog anzuwenden; eine "Zusatzmassnahme"
ist anzuordnen, wenn die neue Verkehrsregelverletzung vor der
erstinstanzlichen Entzugsverfügung begangen und allfällige Beschwerden
später von der Rechtsmittelinstanz abgewiesen wurden. Sind die
massgeblichen Widerhandlungen gegen die Strassenverkehrsgesetzgebung
teilweise vor bzw. nach einem früheren erstinstanzlichen Ausweisentzug
begangen worden, so kommt nur eine "Gesamtmassnahme" in Betracht;
für die Verkehrsregelverletzung, welche zeitlich nach der früheren
Massnahmeverfügung liegt, darf dabei die geltende Mindestentzugsdauer
nicht unterschritten werden (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 13. September 1984 lenkte U. seinen Personenwagen in
angetrunkenem Zustand (1,61 Gew. o/oo); die kontrollierenden Polizeibeamten
konnten ihm den Führerausweis nicht abnehmen, da er behauptete, diesen
verloren zu haben; er weigerte sich auch, das Formular "Abnahme des
Führerausweises durch die Polizei" zu unterzeichnen bzw. das Original
entgegenzunehmen. Obwohl er von Polizeibeamten mündlich darauf aufmerksam
gemacht wurde, dass er bis zur Wiederaushändigung des Ausweises kein
Fahrzeug führen dürfe, lenkte er am 27. September 1984 ein Auto. In der
Folge entzog ihm das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt des Kantons Bern
am 22. Oktober 1984 den Führerausweis für die Dauer von acht Monaten. Eine
dagegen erhobene Beschwerde wies die Rekurskommission des Kantons Bern
für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern am 24. März 1986 ab.

    Nach Eröffnung der Verfügung vom 22. Oktober 1984 erhielt das
Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt davon Kenntnis, dass U. am
15. Oktober 1984 trotz polizeilich entzogenem Führerausweis erneut ein
Motorfahrzeug geführt hatte. Am 11. Januar 1985 wurde er schliesslich
wiederum wegen Fahrens ohne gültigen Ausweis zur Anzeige gebracht. Wegen
dieser Widerhandlungen verfügte das Strassenverkehrs- und Schiffahrtsamt
am 4. August 1986 einen weiteren Führerausweisentzug von sechs Monaten.

    B.- Die Entzugsverfügung vom 4. August 1986 focht U. bei der
Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern
an. Diese hob am 22. Oktober 1986 den erstinstanzlichen Entscheid auf
und setzte die Entzugsdauer neu auf zwei Monate fest.

    C.- Das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) ficht den oberinstanzlichen
kantonalen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht
an. Es beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der
Führerausweis sei U. für die Dauer von sechs Monaten zu entziehen.

    D.- U. und die Rekurskommission schliessen in ihren Vernehmlassungen
- letztere unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid - auf Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz begründete die Herabsetzung der erstinstanzlich
verfügten Massnahmedauer von sechs Monaten auf zwei Monate mit der
sinngemässen Anwendung von Art. 68 Ziff. 2 StGB. Ohne weitere Begründung
hielt sie sowohl für den Vorfall vom 15. Oktober 1984 als auch für
jenen vom 11. Januar 1985 die Voraussetzungen für eine "Zusatzstrafe"
als gegeben.

    Das Bundesamt für Polizeiwesen macht im wesentlichen geltend, die
Vorinstanz verkenne, dass Art. 68 Ziff. 2 StGB nur auf den Vorfall
vom 15. Oktober 1984 zur Anwendung komme, nicht aber auf denjenigen
vom 11. Januar 1985; da die Widerhandlung vom 11. Januar 1985 nach
dem erstinstanzlich am 22. Oktober 1984 angeordneten und später von der
Rekurskommission bestätigten Führerausweisentzug begangen worden sei, müsse
ein Warnungsentzug im Sinne einer "Gesamtstrafe" verfügt werden; dabei
sei von der gesetzlichen Mindestentzugsdauer von sechs Monaten auszugehen.

    Der Beschwerdegegner wendet gegen die Auffassung des BAP zur Hauptsache
nur ein, sie gehe zu Unrecht davon aus, er habe sich am 11. Januar
1985 des Fahrens trotz entzogenem Führerausweis schuldig gemacht; da
mit Bezug auf den Vorfall vom 15. Oktober 1984 unbestrittenermassen nur
eine "Zusatzmassnahme" in Frage komme, seien die Behörden nicht an die
Mindestentzugsdauer gebunden.

Erwägung 2

    2.- Soweit der Beschwerdegegner unter Hinweis auf Art. 39 VwVG
behauptet, der gegen die Verfügung vom 22. Oktober 1984 bei der
Rekurskommission eingereichten Beschwerde sei aufschiebende Wirkung
zugekommen, geht er fehl. Zum einen kommt auf das Verfahren vor den
kantonalen Instanzen nicht das VwVG, sondern das kantonale Verfahrensrecht
zur Anwendung (vgl. RDAF 1983 S. 359). Zum andern wurde einer allfälligen
Beschwerde in der Entzugsverfügung vom 22. Oktober 1984 in Anwendung
von Art. 33 VRPG/BE die aufschiebende Wirkung entzogen. Dass der
Beschwerdegegner bei der Rekurskommission um Aufhebung dieser Anordnung
nachgesucht hätte, macht er selbst nicht geltend; er wurde denn auch
von den zuständigen Gerichten wegen Fahrens am 11. Januar 1985 trotz
entzogenem Führerausweis rechtskräftig verurteilt.

Erwägung 3

    3.- Die Kritik des BAP am angefochtenen Entscheid richtet sich zu
Recht nicht gegen die analoge Anwendung von Art. 68 StGB bei der Bemessung
der Dauer von Administrativmassnahmen. Wie das Bundesgericht in BGE
108 Ib 259/60 ausführte, ist bei Verwirklichung mehrerer Entzugsgründe
durch eine Handlung die Konkurrenzbestimmung des Strafrechts sinngemäss
anzuwenden; dasselbe gilt für den Fall, wo durch mehrere Handlungen mehrere
Entzugsgründe gesetzt werden bzw. die zu beurteilenden Handlungen noch
vor Erlass einer früheren Entzugsverfügung begangen wurden.

    Die Vorinstanz trifft jedoch der Vorwurf, von einer
bundesrechtswidrigen Auslegung von Art. 68 Abs. 2 StGB ausgegangen zu
sein. Entgegen ihrer Ansicht kommt auf den Zeitpunkt der Rechtskraft
nichts an. Zu einer Zusatzstrafe im Sinne dieser Bestimmung ist der
Täter zu verurteilen, wenn er die neue Tat vor der Urteilsfällung
begangen hat, unter der Voraussetzung, dass das Urteil später (z.B. nach
durchgeführtem Rechtsmittelverfahren) rechtskräftig wird (BGE 102 IV 244,
109 IV 88/89). In Fällen, in denen ein nach der Urteilsfällung verübtes
Delikt mit Straftaten zusammentrifft, die vor der Urteilsfällung begangen
wurden, ist nicht eine Zusatz-, sondern eine Gesamtstrafe auszufällen
(BGE 109 IV 88/89).

    Übertragen auf den Warnungsentzug bedeutet dies, dass
eine "Zusatz"-Massnahme nur anzuordnen ist, wenn die neuen
Verkehrsregelverletzungen vor der erstinstanzlichen Entzugsverfügung
begangen und allfällige Beschwerden später von den Rechtsmittelinstanzen
abgewiesen wurden. In concreto ordnete das Strassenverkehrsamt den
Führerausweisentzug erstinstanzlich am 22. Oktober 1984 an; diese Verfügung
wurde mit Entscheid der Rekurskommission vom 24. März 1986 bestätigt. Die
Anordnung einer "Zusatz"-Massnahme mit Bezug auf den Vorfall vom 11. Januar
1985 war somit ausgeschlossen. Unter diesen Umständen war die Vorinstanz
an die in Art. 17 Abs. 1 lit. c SVG vorgeschriebene Mindestentzugsdauer
von sechs Monaten gebunden. Daran ändert nichts, dass gleichzeitig
auch über die Anordnung einer Verwaltungsmassnahme für eine vor dem
22. Oktober 1984 liegende Verkehrsregelverletzung zu entscheiden war;
im Rahmen einer Gesamtbeurteilung konnte dem Umstand Rechnung getragen
werden, dass diese Widerhandlung noch vor der ersten Entzugsverfügung
begangen worden war und, für sich allein beurteilt, nur Anlass für eine
"Zusatz"-Massnahme gegeben hätte.

Erwägung 4

    4.- Der vorinstanzliche Entscheid erweist sich demnach insoweit
als bundesrechtswidrig und ist deshalb aufzuheben. Da das Bundesamt
für Polizeiwesen - entsprechend der erstinstanzlichen Verfügung vom
4. August 1986 - keinen über die gesetzliche Minimaldauer hinausgehenden
Warnungsentzug beantragt hat und im übrigen eine solche Entzugsdauer
auch angemessen erscheint, kann das Bundesgericht auf eine Rückweisung an
die Vorinstanz verzichten und selbst den Ausweisentzug von sechs Monaten
anordnen (Art. 114 Abs. 2 OG).