Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IB 143



113 Ib 143

25. Urteil des Kassationshofes vom 26. Januar 1987 i.S. S. gegen
Regierungsrat des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 4a Abs. 1 lit. b und c VRV.

    Die vom Bundesrat auf den 1. Januar 1985 neu festgesetzten
Höchstgeschwindigkeiten 80/120 km/h haben eine genügende gesetzliche
Grundlage im SVG.

    Art. 16 Abs. 2 SVG.

    Eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von mehr
als 30 km/h hat ungeachtet dessen, ob die Geschwindigkeitsbeschränkung
vornehmlich aus Gründen der Verkehrssicherheit oder des Umweltschutzes
angeordnet wurde, den Entzug des Führerausweises zur Folge.

Sachverhalt

    A.- Am 13. März 1985 stellte die Polizei bei einer
Geschwindigkeitskontrolle auf der Deutschen Strasse in Chur (ausserorts)
fest, dass S. mit 122 km/h fuhr. Sie verzeigte ihn deshalb wegen
Überschreitens der gesetzlichen Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 36
km/h (Sicherheitsmarge von 6 km/h abgezogen).

    In der Folge entzog das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons
Graubünden S. am 14. Mai 1985 den Führerausweis für die Dauer eines
Monats. Die dagegen erhobene Verwaltungsbeschwerde wies die Regierung
des Kantons Graubünden am 10. März 1986 ab.

    Den regierungsrätlichen Entscheid ficht S. mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Bundesgericht an. Er beantragt,
die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und es sei vom Entzug des
Führerausweises abzusehen, evtl. sei eine Verwarnung auszusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die vom Bundesrat in Art. 4a
VRV auf den 1. Januar 1985 neu festgesetzten Höchstgeschwindigkeiten von
80/120 km/h seien allein aus Gründen des Umweltschutzes nur gestützt auf
Vorschriften des Umweltschutzgesetzes (USG) und nicht des SVG erlassen
worden; diese Geschwindigkeitsbeschränkungen stellten somit keine
Verkehrsregeln im Sinne von Art. 16 Abs. 2 SVG dar und eine Gefährdung des
Verkehrs durch Nichtbeachtung derselben sei ausgeschlossen. Ausserdem wirft
er - mit dem Hinweis auf andere beim Bundesgericht hängige Beschwerden -
die Frage der Gesetzmässigkeit der Geschwindigkeitsbeschränkungen auf.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 16 Abs. 2 1. Satz SVG setzt der Ausweisentzug voraus,
dass der Führer Verkehrsregeln verletzt und dadurch den Verkehr gefährdet
hat. Für die Auslegung des Begriffs "Verkehrsregel" kann analog die Ordnung
herangezogen werden, wie sie in Art. 90 Ziff. 1 SVG für die strafrechtliche
Verfolgung von Widerhandlungen gegen Verkehrsbestimmungen getroffen wurde
(vgl. BGE 105 Ib 120). Als Verkehrsregel fallen danach die Bestimmungen
des SVG und der Vollziehungsvorschriften des Bundesrates in Betracht
(siehe auch BGE 100 IV 73). Zwar stellen nicht alle in diesen Erlassen
enthaltenen Vorschriften auch Verkehrsregeln dar. Bei einer Bestimmung,
welche die zulässige Höchstgeschwindigkeit festsetzt, handelt es sich
indessen ohne jeden Zweifel um eine Verkehrsregel; sie ordnet unmittelbar
das Verhalten auf der Strasse (SCHULTZ, Strafbestimmungen des SVG, S. 155)
und erhöht unmittelbar auch die Verkehrssicherheit (STAUFFER, Der Entzug
des Führerausweises, Diss. Bern 1966, S. 49 mit Hinweisen).

    Gemäss Art. 106 Abs. 1 SVG, welcher - neben Art. 57 SVG und Art. 12
USG - im Ingress der Verordnung über die Verkehrsregeln aufgeführt ist (AS
1984 II 1119), erlässt der Bundesrat die zum Vollzug des SVG notwendigen
Vorschriften. Dass er zur Festsetzung von Höchstgeschwindigkeiten
ermächtigt war, ergibt sich aus Art. 32 Abs. 2 SVG; danach hat er die
Kompetenz, die Geschwindigkeiten auf allen Strassen zu beschränken; nach
der ratio legis dienen die gestützt auf diese Bestimmung erlassenen
Geschwindigkeitslimiten der Verkehrssicherheit (vgl. BGE 108 IV 55
E. 4b). Auch wenn die Höchstgeschwindigkeiten von 80/120 km/h im
wesentlichen aus Gründen des Umweltschutzes erlassen wurden, ändert
dies nichts daran, dass eine Herabsetzung der Geschwindigkeitslimiten
gleichzeitig auch im Interesse der Verkehrssicherheit liegt. Indem der
Verordnungsgeber - wie bereits bemerkt - der Vorschrift von Art. 4a VRV
im Ingress neben Art. 12 Abs. 1 lit. c und 2 USG auch Art. 106 Abs. 1
SVG vorangestellt und in der systematischen Sammlung des Bundesrechts
(SR 741.11) die Bestimmung des Art. 32 Abs. 2 SVG beigefügt hat, hat er
zum Ausdruck gebracht, dass er durch deren Erlass positive Auswirkungen
auf die Sicherheit im Strassenverkehr mit in Betracht zog. Unter diesen
Umständen ist davon auszugehen, dass Art. 4a Abs. 1 lit. b und c VRV sich
nicht bloss auf eine Delegationsnorm im USG, sondern auch auf eine solche
im SVG stützen kann und insoweit eine von Art. 16 Abs. 2 SVG erfasste
Vollzugsvorschrift des Bundesrates darstellt.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer behauptet, die ihm zur Last gelegte
Geschwindigkeitsüberschreitung stelle - entgegen den vorinstanzlichen
Ausführungen - keine erhöht abstrakte Gefährdung dar; da die zulässige
Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ausserorts im Gegensatz zu der früher
gültigen Geschwindigkeitsbeschränkung von 100 km/h aus Umweltschutzgründen
angeordnet worden sei, dürfe ein mittelschwerer Fall im Sinne von Art. 16
Abs. 2 SVG nicht bei jeder Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr
als 30 km/h angenommen werden; vielmehr sei im Einzelfall zu prüfen,
welche Tempolimiten auf der gefahrenen Strecke vor der Herabsetzung
der Höchstgeschwindigkeit aus Umweltschutzgründen gegolten hätten;
nur wo schon vor 1985 die Höchstgeschwindigkeit 80 km/h betragen habe,
könne ohne weitere Prüfung der im konkreten Fall geschaffenen Gefährdung
auf die Richtlinien der Interkantonalen Kommission für Strassenverkehr
weiterhin abgestellt werden.

    b) Die Interkantonale Kommission für Strassenverkehr hielt in einem an
den Präsidenten der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren
gerichteten Schreiben vom 3. Dezember 1985 an den vor der Herabsetzung
der allgemeinen Geschwindigkeitsbeschränkungen festgelegten Richtlinien
fest. Sie begründet ihre Stellungnahme damit, dass gegen ein Heraufsetzen
der bisherigen Toleranzwerte u.a. das bis heute mit der konsequenten
Handhabung der Richtlinien (hinsichtlich Verkehrssicherheit und
Umweltschutzbewusstsein des einzelnen Automobilisten) Erreichte spreche; es
müsse vermieden werden, dass sich der Fahrzeugführer in Zukunft die Frage
stelle, ob eine Geschwindigkeitsbeschränkung aus Gründen der Sicherheit
im Strassenverkehr oder zum Schutze der Umwelt erlassen worden sei. Es
liege im Interesse der Rechtssicherheit, dass die altbekannte Regel,
wonach bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 30 km/h der
Fahrzeugausweis entzogen werde, weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit
behalte.

    c) Das Bundesgericht hat in konstanter Rechtsprechung (BGE 108 Ib 66
f., 104 Ib 52) festgehalten, ein mittelschwerer Fall im Sinne von Art. 16
Abs. 2 SVG sei auch dann gegeben, wenn ein Geschwindigkeitsexzess "nur"
zu einer "virtuellen" Gefährdung führe; eine solche stehe einer erhöht
abstrakten Gefährdung nahe, wenn die Geschwindigkeitsüberschreitung mehr
als 30 km/h betrage; entsprechend den Richtlinien der Interkantonalen
Kommission für Strassenverkehr müsse diesfalls der Führerausweis auch
bei Vorliegen günstiger Verkehrsverhältnisse und gutem Leumund entzogen
werden. Diese Grundsätze behalten ihre uneingeschränkte Gültigkeit
für Höchstgeschwindigkeiten, welche im wesentlichen aus Gründen des
Umweltschutzes tiefer als bisher festgesetzt worden sind, wenn deren
Herabsetzung wie dargelegt ebenso die Verkehrssicherheit erhöht; denn auf
die Intensität der durch eine Geschwindigkeitsüberschreitung bewirkten
Gefährdung ist ohne jeden Einfluss, welches gesetzgeberische Motiv der
Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit vorwiegend zugrunde liegt. Es
darf sodann nicht ausser acht gelassen werden, dass bei tieferen
Geschwindigkeitslimiten sich die Gefahrenlage generell bereits erhöht,
wenn sie geringfügiger überschritten werden als höhere.

    Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, für die Anordnung von
Massnahmen gemäss Art. 16 SVG sei von den vor dem 1. Januar 1985 gültigen
Geschwindigkeitsbeschränkungen auszugehen, sticht seine Argumentation im
übrigen auch aus andern Gründen nicht. Wie die Interkantonale Kommission
für Strassenverkehr im oberwähnten Schreiben vom 3.12.85 zutreffend
feststellt, würde ein solches Vorgehen zu Rechtsunsicherheiten führen,
welche mit Blick auf die Sicherheit im Strassenverkehr unerwünscht
sind. Abgesehen davon, dass nur die mit den örtlichen Gegebenheiten gut
vertrauten Fahrzeuglenker nach Einführung der neuen Höchstgeschwindigkeiten
noch wissen, wo vor dem 1. Januar 1985 die Geschwindigkeitsbeschränkung
100 km/h betrug, ist es ausserdem möglich, dass die Geschwindigkeit auf
verschiedenen Strecken - sei es wegen stärkerem Verkehrsaufkommen, sei es
wegen anderer Linienführung oder neuer Sichtbeschränkungen - allein aus
Gründen der Verkehrssicherheit auf 80 km/h herabgesetzt worden wäre. Das
Bestehen derartiger Unsicherheiten über die im Administrativverfahren
gültigen Grenzwerte müsste sich (ohne auf die Frage der Praktikabilität
weiter einzugehen) negativ auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer
auswirken.

    Die Vorinstanz hat somit zu Recht den erstinstanzlich verfügten
Führerausweisentzug bestätigt. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist
demnach als in allen Teilen unbegründet abzuweisen.