Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 113 IA 433



113 Ia 433

64. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Dezember
1987 i.S. A. Candrian AG gegen Gysi und Kantonsgericht von Graubünden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; Kantonales Zivilprozessrecht.

    a) Es ist nicht willkürlich, wenn im Bündner Zivilprozess die
richterliche Fragepflicht gemäss Art. 112 Abs. 1 ZPO auf Beweisofferten
nicht unbesehen angewendet wird (E. 1).

    b) Die Verhandlungsmaxime gemäss Art. 156 Abs. 2 und 3 der Bündner ZPO
wird in willkürlicher Weise verletzt, wenn die Klage mangels Beweisen
abgewiesen wird, obwohl die nicht bewiesene Tatsache aufgrund der
Vorbringen und des Verhaltens der Parteien eindeutig zugestanden ist
(E. 4).

Sachverhalt

    A.- Rudolf Gysi ist Eigentümer der Parzelle Nr. 6486, Plan 15, des
Grundbuches der Stadt Chur, auf der er ein Einfamilienhaus erstellen liess.

    Am 22. Oktober 1985 verfügte der Kreispräsident von Chur
zugunsten der A. Candrian AG superprovisorisch die Vormerkung eines
Bauhandwerkerpfandrechts im Betrage von Fr. 37'735.60. Diese Verfügung
wurde vom Kreispräsidenten am 11. Dezember 1985 bestätigt. Gleichzeitig
setzte er der A. Candrian AG Frist an zur Einleitung der Klage auf
definitive Eintragung des Pfandrechts.

    Das Bezirksgericht Plessur wies die Klage am 12. Dezember 1986 ab. Die
von der A. Candrian AG dagegen erhobene Berufung wies das Kantonsgericht
von Graubünden mit Urteil vom 27. April 1987 ebenfalls ab.

    Gegen diesen Entscheid wendet sich die A. Candrian AG mit
staatsrechtlicher Beschwerde an das Bundesgericht. Sie beantragt
die Aufhebung des angefochtenen Entscheides. Die Sache sei zu neuer
Entscheidung an das Kantonsgericht von Graubünden zurückzuweisen.

    Rudolf Gysi und das Kantonsgericht von Graubünden beantragen die
Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 112 Abs. 1 der bündnerischen Zivilprozessordnung
soll der Richter die Partei formfrei befragen, wenn das Vorbringen einer
Partei unklar, unvollständig oder unbestimmt bleibt. Die Beschwerdeführerin
behauptet, das Kantonsgericht habe diese Bestimmung willkürlich angewendet
und ihr rechtliches Gehör verletzt, weil ihr Verwaltungsratspräsident
nicht befragt worden ist.

    Das Kantonsgericht hat indessen von einer formfreien Befragung
abgesehen, weil die im Gesetz genannten Voraussetzungen für eine
richterliche Befragung nicht erfüllt seien. Sinn von Art. 112 Abs. 1 ZPO
könne nur sein, dass der Richter die Ausführungen tatsächlicher Art mit
Hilfe von Fragen zu verdeutlichen versuche. Davon könne hier keine Rede
sein. Die Beschwerdeführerin habe es lediglich unterlassen, einen Beweis
für ihre an sich klare Tatsachenbehauptung zu erbringen.

    Diese Auffassung ist nicht völlig unhaltbar. Wohl weist Guldener
darauf hin, die mangelnde Vollständigkeit von Parteivorbringen könne
auch darin bestehen, dass für wesentliche Behauptungen kein Beweis
anerboten werde (Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 165,
Anm. 15). Anderseits ist es den Kantonen anerkanntermassen freigestellt, ob
und inwieweit sie die Behauptungslast durch die richterliche Fragepflicht
mildern wollen (BGE 108 II 340). Es erscheint daher nicht als sachlich
völlig unvertretbar, wenn die Fragepflicht auf die Beweisofferten nicht
unbesehen angewendet wird. Andere Umstände, aus denen diesbezüglich
eine völlig unhaltbare Anwendung des kantonalen Prozessrechts hervorgehen
würde, werden nicht angeführt. Die Rüge, Art. 112 Abs. 1 Bündner ZPO sei
willkürlich angewendet worden, erweist sich somit - von der kaum genügenden
Substantiierung abgesehen - als unbegründet. Der Rüge der Gehörsverletzung
kommt im übrigen keine selbständige Bedeutung zu; diese geht in der Rüge
der willkürlichen Anwendung der Fragepflicht auf (vgl. STRÄULI/MESSMER,
Kommentar zur Zürcherischen Zivilprozessordnung, N. 2 zu § 55).

Erwägung 4

    4.- Willkür erblickt die Beschwerdeführerin schliesslich darin,
dass das Kantonsgericht das prozessuale Verhalten des Beschwerdegegners
nicht berücksichtigt habe. Aus diesem gehe ganz klar hervor, dass der
Grundbucheintrag nicht bestritten, ja sinngemäss sogar zugestanden
worden sei. Eines besonderen Beweises habe es daher nicht bedurft.

    b) Die Rüge ist begründet. Die Beschwerdeführerin hat bereits
in der Klageschrift vom 25. April 1986 behauptet, der vorsorgliche
Pfandeintrag sei am 22. Oktober 1985 rechtzeitig vollzogen worden. In der
Klageantwort vom 11. Juli 1985 hat der Beschwerdegegner diese Behauptung
nicht konkret bestritten, sondern sich mit einer Pauschalbestreitung
sämtlicher Vorbringen der Gegenpartei begnügt. Gemäss Art. 156 Abs. 1
Satz 2 der Bündner ZPO gilt zwar als bestritten, was nicht zugestanden
wird. Ob diese Bestimmung dahingehend zu relativieren sei, dass die
prozesserheblichen oder prozessentscheidenden Behauptungen einzeln zu
bestreiten sind (vgl. GULDENER, aaO, S. 168; und auch STRÄULI/MESSMER, aaO,
N. 4 und 13 zu § 113), kann im vorliegenden Fall offen bleiben. Gemäss
Art. 156 Abs. 2 und 3 der Bündner ZPO müssen nämlich die von einer
Partei vor Gericht zugestandenen Tatsachen nicht bewiesen werden. Ob ein
Geständnis einer Tatsache vorliegt, hat der Richter unter Berücksichtigung
des gesamten Inhalts der Vorbringen und des Verhaltens der Partei im
Prozess zu beurteilen.

    Hier hat sich der Beschwerdegegner in der Klageantwort auf den
Standpunkt gestellt, die Dreimonatsfrist gemäss Art. 839 Abs. 2 ZGB sei
in bezug auf die Heizungsanlage nicht eingehalten worden. Die Arbeiten
seien spätestens am 12. Juli 1985 vollendet worden. Auch in bezug auf
die Sanitärinstallationsarbeiten könne "mit gutem Grund" nicht davon
gesprochen werden, die Frist sei gewahrt worden. Der Beschwerdegegner
beantragte deshalb die Abweisung der Klage. Eventuell verlangte er die
Gutheissung der Klage im Umfange der Sanitärinstallationsarbeiten.

    Hieraus ergibt sich Verschiedenes: Erstens hätten sich die
Ausführungen über die Fristwahrung erübrigt, wenn sich das Hauptbegehren
des Beschwerdegegners, die Klage abzuweisen, auf die fehlende Vormerkung
des Bauhandwerkerpfandrechts im Grundbuch gestützt hätte. Zweitens wäre
das Eventualbegehren auf teilweise Gutheissung der Klage unverständlich,
wenn der Beschwerdegegner nicht zumindest davon ausgegangen wäre, dass
das Bauhandwerkerpfandrecht provisorisch eingetragen sein könnte. Drittens
setzten die Ausführungen über die Dreimonatsfrist stillschweigend voraus,
dass der provisorische Grundbucheintrag erfolgt sei. Etwas anderes könnte
nur dann gelten, wenn die behauptete Nichteinhaltung der Dreimonatsfrist
ausdrücklich oder aufgrund sämtlicher Ausführungen wenigstens sinngemäss
als Eventualstandpunkt bezeichnet worden wäre. Hievon kann jedoch keine
Rede sein. Vielmehr betrafen auch die Beweisofferten des Beschwerdegegners
vor Bezirksgericht ausschliesslich den Zeitpunkt der Ausführung der
Arbeiten.

    In der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht verweigerte
der Beschwerdegegner dann seine Zustimmung zur Vorlegung eines
Grundbuchauszuges. Wohl mag die gemäss Art. 108 Abs. 2 ZPO erforderliche
Zustimmung der Gegenpartei zur Einreichung von Urkunden, die in den
Rechtsschriften nicht erwähnt worden sind, ihren guten Grund darin
haben, dass ein überraschendes Vorbringen neuer Beweismittel in der
Hauptverhandlung verhindert werden soll, wie das Kantonsgericht ausführt.

    Es ist auch nicht zu beanstanden, wenn danach getrachtet wird,
einer Prozessverzögerung keinen Vorschub zu leisten, und daher
der Gegenpartei ermöglicht werden soll, allfällige Gegenbeweise
rechtzeitig bereitzustellen. Im vorliegenden Fall war eine solche
prozessuale Benachteiligung jedoch nicht zu befürchten. Es ist nicht
ersichtlich, welche Gegenbeweise der Beschwerdegegner gegen die Angaben des
Grundbuchauszuges hätte nennen können. Ein langwieriges Beweisverfahren,
auf das er sich nicht rechtzeitig hätte vorbereiten können, lag somit kaum
im Bereich des Möglichen. Das Verhalten des Beschwerdegegners kann unter
diesen Umständen nur damit erklärt werden, dass er den Urkundenbeweis
über die erfolgte Grundbucheintragung vereiteln wollte, obwohl er sich
nie auf die fehlende Eintragung berufen hatte.

    c) Es ergibt sich somit, dass die Beschwerdeführerin nach
Treu und Glauben davon ausgehen durfte, ihre Behauptung, wonach
die Grundbucheintragung erfolgt sei, werde vom Beschwerdegegner
zugestanden. Das Kantonsgericht hat sich in unhaltbarer Weise über
die Vorbringen und das Verhalten des Beschwerdegegners im Prozess
hinweggesetzt und damit Art. 156 Abs. 2 und 3 der Bündner ZPO
willkürlich angewendet. Angesichts der gesamten Umstände waren von der
Beschwerdeführerin zur Frage der Grundbucheintragung in Anwendung der
Verhandlungsmaxime gemäss Art. 156 Abs. 2 und 3 ZPO keine Beweise zu
verlangen.