Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 371



112 V 371

65. Auszug aus dem Urteil vom 9. Dezember 1986 i.S. Bundesamt für
Militärversicherung gegen Holbein und Versicherungsgericht des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 13 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 MVG. Zurückkommen auf eine formell
rechtskräftige Rentenverfügung; Voraussetzungen dafür.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Ein Zurückkommen des Bundesamtes für Militärversicherung (BAMV) auf
eine nach Art. 23 Abs. 1 MVG formell rechtskräftig verfügte Invalidenrente
ist zulässig, sofern - alternativ - einer der drei folgenden Rechtstitel
gegeben ist:

    a) Nach Art. 13 Abs. 1 MVG können die nicht weitergezogenen Verfügungen
der Militärversicherung Gegenstand einer Revision bilden, wenn der
Versicherte oder die Versicherung entscheidende neue Tatsachen entdeckt
oder entscheidende Beweismittel auffindet, deren Beibringung ihnen vor
Erlass der angefochtenen Verfügung unmöglich war. Art. 13 MVG bezweckt die
Verwirklichung des materiellen Rechts, indem eine Verfügung zurückgenommen
werden soll, die auf von Anfang an fehlerhaften tatsächlichen Grundlagen
beruht (EVGE 1968 S. 37 Erw. 2; unveröffentlichtes Urteil Beretta vom
28. September 1984). Diese Bestimmung des Militärversicherungsrechts
findet in den anderen Sozialversicherungszweigen ihre Parallele in der
- dem Art. 85 Abs. 2 lit. h AHVG nachgebildeten - Rechtsprechung über
die prozessuale Revision von Verwaltungsverfügungen. Danach ist der
Sozialversicherungsträger verpflichtet, auf eine formell rechtskräftige
Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen oder neue Beweismittel
entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern rechtlichen Beurteilung
zu führen (BGE 110 V 179 oben mit Hinweisen).

    b) Von dieser prozessualen Revision des Art. 13 MVG ist die Revision
nach Art. 26 Abs. 1 MVG zu unterscheiden, welcher lautet: "Wird in der
Folge der körperliche oder psychische Nachteil des Versicherten erheblich
grösser oder erheblich geringer, als bei der Festsetzung der Rente
angenommen wurde, so wird eine neue Rente festgesetzt; besteht überhaupt
kein Nachteil mehr, so wird die bisherige Rente aufgehoben." Diese
u.a. auf die Invalidenrente als ein Dauerrechtsverhältnis zugeschnittene
Revisionsart will die Anpassung an seit der verfügten Leistungszusprechung
eingetretene geänderte und in diesem Sinne neue tatsächliche Verhältnisse
ermöglichen (BGE 98 V 15 unten f). Art. 26 Abs. 1 MVG findet seine
Entsprechung u.a. in Art. 41 IVG (vgl. auch Art. 22 UVG). Aus der
grundsätzlichen Einheitlichkeit des Invaliditätsbegriffes in der
obligatorischen Unfall-, der Militär- und der Invalidenversicherung
(BGE 109 V 23) ergibt sich, dass die revisionsweise Anpassung des
Rentenanspruches an geänderte Verhältnisse in der Militärversicherung
nach den gleichen Regeln wie in der Invalidenversicherung zu erfolgen
hat (EVGE 1964 S. 141; in diesem Sinne auch das unveröffentlichte Urteil
Kretz vom 24. August 1984).

    Nach der Rechtsprechung zu Art. 41 IVG ist die Invalidenrente nicht
nur bei einer wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustandes, sondern
auch dann revidierbar, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich
gleich gebliebenen Gesundheitszustandes erheblich verändert haben (BGE 109
V 116, 107 V 221 Erw. 2, 105 V 30 mit Hinweisen). Ob eine solche Änderung
eingetreten ist, beurteilt sich durch Vergleich des Sachverhalts, wie er im
Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung bestanden hat, mit demjenigen
zur Zeit der streitigen Revisionsverfügung (BGE 109 V 265 Erw. 4a, 106 V 87
Erw. 1a, 105 V 30). Unerheblich unter revisionsrechtlichem Gesichtswinkel
ist dagegen nach ständiger Rechtsprechung die unterschiedliche Beurteilung
eines im wesentlichen unverändert gebliebenen Sachverhaltes (statt
vieler: unveröffentlichte Urteile Studer vom 29. März 1984 und Crosilla
vom 8. März 1984; vgl. auch ZAK 1985 S. 332). Auch eine neue Verwaltungs-
oder Gerichtspraxis rechtfertigt grundsätzlich keine Revision des laufenden
Rentenanspruches zum Nachteil des Versicherten (BGE 107 V 153).

    Diese Grundsätze hat das Eidg. Versicherungsgericht für den Bereich
der Militärversicherung in den von den Verfahrensbeteiligten erwähnten
Urteilen Kipfer und Käser vom 10. Februar 1986 bestätigt, ebenso im Urteil
Willauer vom 22. September 1986.

    c) Schliesslich unterliegt eine formell rechtskräftige
Rentenverfügung der Wiedererwägung. Gemäss einem allgemeinen Grundsatz des
Sozialversicherungsrechts kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige
Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung
gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos unrichtig und
ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 110 V 178 Erw. 2a
und 292 Erw. 1 mit Hinweisen). Wird die zweifellose Unrichtigkeit der
ursprünglichen Rentenverfügung erst vom Richter festgestellt, so kann
er die auf Art. 41 IVG gestützte Revisionsverfügung der Verwaltung
mit dieser substituierten Begründung schützen (BGE 110 V 275 Erw. 3b,
296, 106 V 87 Erw. 1b mit Hinweisen; vgl. auch BGE 107 V 84 ff.). Diese
Grundsätze gelten auch im Rahmen von Art. 26 Abs. 1 MVG.

    Bei der Beurteilung, ob eine Wiedererwägung wegen zweifelloser
Unrichtigkeit zulässig sei, ist vom Rechtszustand auszugehen, wie er im
Zeitpunkt des Verfügungserlasses bestanden hat, wozu auch die seinerzeitige
Rechtspraxis gehört; eine Praxisänderung vermag aber kaum je die frühere
Praxis als zweifellos unrichtig erscheinen zu lassen (BGE 103 V 128,
100 V 25 Erw. 4b).

    Auch hieran hat das Eidg. Versicherungsgericht für den Bereich der
Militärversicherung in den drei erwähnten Urteilen festgehalten.

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall steht nach den Akten fest und ist
unbestritten, dass kein Revisionsgrund im Sinne von Art. 13 Abs. 1 MVG
vorliegt.

    b) Was die Frage einer Rentenaufhebung nach Art. 26 Abs. 1 MVG
anbelangt, hat sich im Gesundheitszustand seit der Rentenzusprechung
(28. Januar 1963) bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung (18. Oktober
1985) keine wesentliche Änderung ergeben, welche die Aufhebung der
Invalidenrente rechtfertigen würde. Gegenteils ist aufgrund der
kreisärztlichen Untersuchung vom 11. Oktober 1984 eine praktische
Blindheit des linken Auges ausgewiesen, welches zudem wegen interkurrent
auftretenden Beschwerden (Reizungen, Infektionen etc.) behandelt werden
muss. In erwerblicher Hinsicht hat das kantonale Gericht erwogen,

    "dass nach wie vor Behinderungen vorliegen, die geeignet sind, sich im

    Erwerbsleben ungünstig auszuwirken... Insbesondere kann der

    Beschwerdeführer wegen seiner Einäugigkeit keine Lenkerbewilligung für

    Lastwagen erwerben. Ein konkreter wirtschaftlicher Nachteil lässt
sich zwar
   nicht angeben. Andererseits sind die Verhältnisse aber auch nicht
   so, dass gesagt werden könnte, im Gegensatz zu 1963 liege heute kein
   wirtschaftlicher Nachteil mehr vor. Was sich geändert hat, ist allein
   die rechtliche Beurteilung. Der medizinisch-theoretische Schaden wird
   heute nicht mehr als Indiz für eine Erwerbsunfähigkeit betrachtet,
   sondern nur noch als Anlass für eine Integritätsentschädigung. Diese
   blosse

    Neubeurteilung hat den Charakter einer Wiedererwägung."

    Diese Erwägungen treffen durchaus zu. Als die Militärversicherung
dem Beschwerdegegner mit der Verfügung vom 28. Januar 1963 die 25%ige
Invalidenrente zusprach, war er bereits als diplomierter Maschineningenieur
HTL in der Firma W. als Leiter der Abteilung Schwertransporte bei einem
Monatslohn von Fr. 1'450.-- erwerbstätig. Auf anfangs April 1971 stieg
er zum technischen Betriebsleiter in der Firma E. auf, bei welcher er
im Jahre 1973 monatlich Fr. 3'720.-- verdiente. Von 1975 bis 1977 war
er technischer Assistent in der Firma B., wo er rund 4'000-4'500 Franken
monatlich verdiente. Auf den 1. Januar 1978 trat er wieder bei der Firma
E. ein, wo er es mit den Jahren zu einer monatlichen Bruttobesoldung von
Fr. 6'080.-- brachte (Aussendienstbericht vom 21. August 1984). Dieser
berufliche Werdegang entspricht einer normalen, durchschnittlichen
Karriere eines diplomierten Maschineningenieurs HTL und hat mit
(verbesserten) erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen
Gesundheitszustandes (BGE 109 V 116, 107 V 221 Erw. 2, 105 V 30 mit
Hinweisen) nichts zu tun. Wie in den Fällen Kipfer und Käser ist vorliegend
festzustellen, dass der Beschwerdegegner sowohl bei der ursprünglichen
Rentenzusprechung als auch im Revisionszeitpunkt in gesundheitlich
zumutbarer und seinen persönlichen Verhältnissen entsprechender Weise
erwerbstätig und eingegliedert war. Mangels erheblicher tatsächlicher
Änderungen ist daher eine revisionsweise Aufhebung der Invalidenrente nicht
zulässig. Das BAMV verkennt, dass es vorliegend nicht um eine erstmalige
Invaliditätsbemessung, sondern um einen Revisionsprozess geht, dessen
Thema sich auf die Prüfung erheblicher tatsächlicher Änderungen beschränkt.

    c) Somit bleibt zu prüfen, ob die Aufhebung der Invalidenrente
vermittelst der substituierten Begründung der Wiedererwägung bestätigt
werden kann. Auch dies ist nicht der Fall. Zwar erlitt der Beschwerdegegner
schon im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenzusprechung keine feststellbare
Erwerbseinbusse, dies insbesondere nicht im Vergleich zum erlernten Beruf
eines Bauschlossers. Doch kann die Zusprechung der Invalidenrente nicht
als zweifellos unrichtig bezeichnet werden; denn die Rentenzusprechung
erfolgte, wie das BAMV selber einräumt, "mit einer damals verbreiteten
Bemessungsmethode, der medizinisch-theoretischen Schätzung" und somit in
Übereinstimmung mit der damaligen Verwaltungspraxis.

Erwägung 4

    4.- Das BAMV beanstandet in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erneut die in den Urteilen Kipfer, Käser und Willauer bestätigten
Revisionsgrundsätze (Erw. 2b) und deren Anwendung im vorliegenden
Fall. Unter Berufung auf BGE 104 V 148 macht das Bundesamt einen
Wechsel in der Methode der Invaliditätsbemessung geltend; dabei sei
es unerheblich, ob sich der Methodenwechsel bei gleich gebliebener
Gesetzesregel und Rechtspraxis aus einer nachträglichen Veränderung der
Tatsachen ergebe oder ob kraft Rechts- oder Verwaltungspraxisänderung zum
Revisionszeitpunkt "eine neue, richtigere Bemessungsmethode angewandt
sein" wolle. Dieser Einwand geht fehl. BGE 104 V 148 (bestätigt in BGE
110 V 285 Erw. 1a) betrifft den Wechsel im IV-rechtlichen Status als
Erwerbs- oder Nichterwerbstätiger und stellt fest, dass die alternativen
Kriterien der Erwerbsunfähigkeit einerseits und der Unmöglichkeit der
Betätigung im nichterwerblichen Aufgabenbereich anderseits im Einzelfall
einander ablösen können. Um einen solchen Wechsel der gesetzlichen
Invaliditätsbemessungskriterien geht es vorliegend offensichtlich nicht.
Ausschlaggebend für die angefochtene Revisionsverfügung ist vielmehr
einzig die Anwendung einer neuen Verwaltungspraxis in dem Sinne, dass die
Militärversicherung seit einigen Jahren ihre Invaliditätsbemessungen
den Erfordernissen des allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen
Invaliditätsbegriffes angepasst hat und unter diesem Gesichtswinkel die
alten Rentenbestände überprüft. Eine neue Verwaltungspraxis rechtfertigt
jedoch nach der Rechtsprechung (Erw. 2b in fine), an der festzuhalten
ist, grundsätzlich keine Revision des laufenden Rentenanspruches zum
Nachteil des Versicherten. Was in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
hiegegen vorgebracht wird, überzeugt nicht. Insbesondere würde die vom BAMV
vertretene Behandlung "zeitlich offener Dauersachverhalte" im Ergebnis dazu
führen, dass Rentenzusprechungen bei Eintritt irgendwelcher tatsächlicher
Veränderungen aufgehoben oder herabgesetzt werden könnten. Für eine solche
- praktisch voraussetzungslose - Neubeurteilung besteht nach Art. 26 Abs. 1
MVG kein Raum (in diesem Sinne schon SCHATZ, Kommentar zur Eidgenössischen
Militärversicherung, S. 155). Vielmehr ist im Rahmen der gesetzlichen
Revisionsbestimmung und zur Wahrung der Rechtssicherheit in jedem einzelnen
Fall zu prüfen, ob erhebliche tatsächliche Veränderungen ausgewiesen
sind. Bejahendenfalls führt dies zur Aufhebung oder Herabsetzung der
Invalidenrente, wie z.B. der Fall Willauer zeigt, wo die erwerblichen
Auswirkungen der versicherten Gesundheitsschädigung sich in den Jahren nach
der Rentenzusprechung vermindert hatten, indem es dem Versicherten mit der
Zeit gelungen war, sich an seine Einhändigkeit zu gewöhnen und nach der
Rentenzusprechung eine Anstellung als Magaziner bzw. Magazin-Vorarbeiter
anzutreten und dauerhaft auszuüben. Dass nach den Grundsätzen über das
Zurückkommen auf eine formell rechtskräftig verfügte Leistungszusprechung
(Erw. 2b) nicht alle Invalidenrenten des alten Bestandes in Revision bzw.
Wiedererwägung gezogen werden können, schafft weder einen rechtsungleichen
noch sonstwie unhaltbaren Zustand und entbindet das BAMV insbesondere nicht
davon, die Revisionsgrundsätze gemäss Art. 26 Abs. 1 MVG zu respektieren.