Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 11



112 V 11

3. Urteil vom 17. Februar 1986 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Klopfenstein und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 21 Abs. 1 und 21bis Abs. 2 IVG: Dienstleistungen Dritter anstelle
eines Hilfsmittels.

    - Der Anspruch auf Dienstleistungen ist gegeben, wenn der Invalide
die Voraussetzungen für die Abgabe eines bestimmten Hilfsmittels erfüllen
würde, dieses aber wegen Gegebenheiten, die in seiner Person liegen,
nicht benützen kann (Präzisierung zu EVGE 1968 S. 272; Erw. 1a).

    - Wie das Hilfsmittel selber, darf auch die Dienstleistung lediglich
den Ausfall gewisser Teile oder Funktionen des menschlichen Körpers
ersetzen, um den Invaliden zu befähigen, den Arbeitsweg zurückzulegen
oder selber seine beruflichen Funktionen zu verrichten (Präzisierung zu
BGE 96 V 84; Erw. 1b).

Sachverhalt

    A.- Der hochgradig sehschwache Versicherte liess sich nach Absolvierung
der Blindenschule mit Unterstützung der Invalidenversicherung zum Masseur
ausbilden, welchen Beruf er seit 1980 selbständig ausübt. Nachdem ihm
die Invalidenversicherung seit 1978 verschiedene Hilfsmittel und eine
Hilflosenentschädigung zugesprochen hatte, ersuchte er im August 1983
um Übernahme der Kosten einer administrativen Hilfskraft in der Höhe
von monatlich Fr. 297.60. Dieses Begehren begründete er damit, dass er
verschiedene, von ihm näher umschriebene administrative Aufgaben nicht
selbständig erfüllen könne und dafür während etwa zwei Wochenstunden eine
Hilfskraft benötige.

    Die Ausgleichskasse des Kantons Bern verneinte den geltend gemachten
Anspruch mit Verfügung vom 15. November 1983.

    B.- Der Versicherte liess diesen Verwaltungsakt beschwerdeweise
an das Versicherungsgericht des Kantons Bern weiterziehen. Dieses hob
die Kassenverfügung auf und wies die Sache zur näheren Abklärung an die
Verwaltung zurück. Die Begründung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Aufgrund der Akten könne nicht beurteilt werden, ob der Versicherte
allenfalls einen grundsätzlichen Anspruch auf blindenspezifische Lese-
und Schreibgeräte bzw. auf Anpassung seines Arbeitsplatzes habe, um die
anfallenden Büroarbeiten selber erledigen zu können. Wäre dies zu bejahen,
so müsste geprüft werden, ob es auf dem Sektor der blindenspezifischen
Hilfsmittel überhaupt entsprechende Geräte und Einrichtungen gäbe,
welche die gesetzlichen Voraussetzungen der Einfachheit, Zweckmässigkeit
und Verhältnismässigkeit erfüllen und dem Versicherten erlauben würden,
die vielseitigen administrativen Arbeiten selbständig zu besorgen. Sofern
dies bejaht werden könnte, stelle sich schliesslich die Frage, ob sich
dieses Hilfsmittel durch die Dienstleistung einer Drittperson ersetzen
lasse (Entscheid vom 13. Juni 1984).

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Wiederherstellung der
Kassenverfügung. Zur Begründung wird mit dem Hinweis auf BGE 96 V 84 im
wesentlichen vorgebracht: Für die Erledigung von Arbeiten, die in den
Aufgabenbereich des Invaliden gehören, von ihm aber wegen der Invalidität
nicht selber besorgt werden könnten, dürfe keine Entschädigung ausgerichtet
werden. Das bedeute, "dass Hilfsmittel am Arbeitsplatz jedenfalls dann
nicht durch Dienstleistungen im Sinne von Art. 21bis Abs. 2 IVG ersetzt
werden können, wenn der menschliche Arbeitsaufwand gesamthaft nicht
vergrössert wird". Von Dienstleistungen im gesetzlichen Sinne könne nur
gesprochen werden, "wenn anstelle des Hilfsmittels infolge Invalidität
notwendigerweise die Arbeitskraft eines Dritten zusätzlich in Anspruch
genommen werden muss". Deshalb sei nicht zu prüfen, ob der Versicherte
zur Ausübung seiner Erwerbstätigkeit eines Hilfsmittels bedürfe.
"Die Problematik liegt vielmehr darin, dass es auch einem nichtinvaliden
Masseur freisteht, die anfallenden administrativen Arbeiten selber
auszuführen oder aber mit deren Ausführung eine Hilfskraft zu beauftragen."

    Der Versicherte lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Vernehmlassung zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

      Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte im Rahmen der
im Anhang zur Verordnung über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die
Invalidenversicherung (HVI) aufgestellten Liste Anspruch auf jene
Hilfsmittel, deren er für die Ausübung u.a. der Erwerbstätigkeit
bedarf. Sodann sieht Art. 21bis Abs. 2 IVG vor, dass die
Invalidenversicherung an die Kosten von Dienstleistungen Dritter, die
anstelle eines Hilfsmittels benötigt werden, Beiträge leisten kann. Der
Anspruch auf Vergütung von Dienstleistungen ist nach Art. 9 Abs. 1 HVI (in
der bis Ende 1985 gültig gewesenen Fassung) auf solche Dienstleistungen
beschränkt, die notwendig sind, damit der Versicherte den Arbeitsweg
zurücklegen oder den Beruf ausüben kann.

    Zu Art. 21bis Abs. 2 IVG, der am 1. Januar 1968 in das IVG
eingefügt wurde, wird in der bundesrätlichen Botschaft zur betreffenden
Gesetzesnovelle (BBl 1967 I 677) festgehalten:

    "Bei gewissen Hilfsmitteln, beispielsweise bei Motorfahrzeugen,
   erfordert die Bedienung bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten. Erfüllt
   ein Invalider diese Voraussetzungen nicht, so ist er anstelle eines

    Hilfsmittels auf Dienstleistungen Dritter angewiesen. Die Tatsache,
dass
   als Kompensation für ausfallende und beeinträchtigte Körperfunktionen
   in der Invalidenversicherung die Abgabe von Geräten, nicht aber
   auch die Übernahme von Kosten für Dienstleistungen vorgesehen ist,
   benachteiligt jene Versicherten, welche das betreffende Gerät nicht
   selbst einsetzen können."

    Aus diesen Ausführungen hat das Eidg. Versicherungsgericht den Schluss
gezogen, dass die Invalidenversicherung Dienstleistungen von Drittpersonen
nur entschädigen kann, wenn der Invalide die gesetzlichen Voraussetzungen
für die Gewährung eines bestimmten Hilfsmittels an sich erfüllen würde,
"aber wegen der Art seines Gebrechens ausserstande ist, dieses Hilfsmittel
selber zu bedienen". Durch Beiträge an Dienstleistungen werde jeglicher
Anspruch auf ein bestimmtes Hilfsmittel abgegolten, dessen Bedienung
"bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten erfordere, die dem Invaliden wegen
ausfallender und beeinträchtigter Körperfunktionen" aber verunmöglicht ist
(EVGE 1968 S. 272). In ZAK 1970 S. 402 hat das Eidg. Versicherungsgericht
wiederholt, der Anspruch auf Vergütung von Dienstleistungen setze voraus,
dass ein Anspruch auf ein bestimmtes Hilfsmittel an sich gegeben, der
Versicherte aber "wegen der Art seines Gebrechens" ausserstande ist, dieses
Hilfsmittel zu gebrauchen. Die Formulierung, dass der Invalide ausserstande
sein muss, das Hilfsmittel "wegen der Art seines Gebrechens" zu gebrauchen
bzw. einzusetzen, hätte indessen zur Folge, dass kaum je einem Invaliden
ein Dienstleistungsanspruch zustände; denn wenn der Invalide gerade
wegen seines Gebrechens ein bestimmtes Hilfsmittel benötigt, so ist es
widersprüchlich, den Anspruch auf Vergütung von Dienstleistungen davon
abhängig zu machen, dass der Invalide wegen des gleichen Gebrechens dieses
Hilfsmittel nicht bedienen kann. Die bundesrätliche Botschaft spricht
denn auch ausdrücklich von Hilfsmitteln, deren Bedienung bestimmte
Fertigkeiten und Kenntnisse erfordert, und davon, dass der Invalide,
der diese Voraussetzungen nicht erfüllt, auf Dienstleistungen Dritter
angewiesen ist. Ferner lässt sich der Botschaft entnehmen, dass jene
Versicherten nicht benachteiligt werden sollen, die - eben mangels der
erwähnten Kenntnisse und Fertigkeiten - dieses Hilfsmittel nicht selber
einsetzen können. "Im Hinblick darauf, dass solche Dienstleistungen
für den Versicherten eine wesentliche finanzielle Belastung bedeuten
können", wurde in der Botschaft die Aufnahme einer Gesetzesbestimmung
vorgeschlagen, "wonach die Invalidenversicherung Beiträge gewährt an
die Kosten von Dienstleistungen Dritter, die anstelle eines Hilfsmittels
benötigt werden" (BBl 1967 I 678). Daraus geht in genereller Weise hervor,
dass die Invalidenversicherung Dienstleistungen Dritter jedenfalls dann
zu entschädigen hat, wenn der Invalide die Voraussetzung für die Abgabe
eines bestimmten Hilfsmittels zwar erfüllen würde, dieses aber wegen
Gegebenheiten, die in seiner Person liegen, nicht benützen kann. Diese
Gegebenheiten können, müssen aber nicht notwendigerweise mit seinem
Gebrechen zusammenhängen. In diesem Sinne ist die in EVGE 1968 S. 272
dargelegte Rechtsprechung zu präzisieren.

    b) Praxisgemäss ist unter einem Hilfsmittel des IVG ein Gegenstand zu
verstehen, dessen Gebrauch den Ausfall gewisser Teile oder Funktionen des
menschlichen Körpers zu ersetzen vermag (BGE 101 V 269). Weil Beiträge an
Dienstleistungen Dritter im Sinne von Art. 21bis Abs. 2 IVG lediglich einen
Ersatz für ein Hilfsmittel darstellen, auf das der Invalide grundsätzlich
Anspruch hat, das er aber aus Umständen, die in seiner Person liegen,
nicht selber einzusetzen vermag, kommt auch der ersatzweisen Dienstleistung
Dritter bloss Hilfscharakter zu. Diese Dienstleistungen sollen demnach
lediglich anstelle des betreffenden Hilfsmittels den erwähnten "Ausfall
gewisser Teile oder Funktionen des menschlichen Körpers" ersetzen,
dürfen aber ihrem Wesen nach nicht über den blossen Hilfscharakter des
Hilfsmittels hinausgehen, an dessen Stelle sie gewährt werden. In diesem
Sinne ist es zu verstehen, wenn in BGE 96 V 84 der Verwaltungspraxis
zugestimmt worden ist, wonach nicht als Dienstleistungen gemäss Art. 21bis
IVG anerkannt werden "die Arbeitsleistungen Dritter, die in Ausübung
einer Erwerbstätigkeit ... anstelle des Invaliden erbracht werden".

Erwägung 2

    2.- Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist einzig die Frage,
ob die Invalidenversicherung im Sinne von Art. 9 HVI die Kosten der vom
Beschwerdegegner beschäftigten Bürohilfskraft zu übernehmen hat. Hierzu
ist festzustellen, dass sich deren Tätigkeit nicht darin erschöpft, dem
Beschwerdegegner im Sinne eines ihm wegen seiner Sehbehinderung allenfalls
zustehenden Hilfsmittels - bzw. einer entsprechenden Dienstleistung
gemäss Art. 9 Abs. 1 HVI - die Bewältigung des administrativen Teils
seines Betriebes zu ermöglichen; vielmehr hat diese Bürohilfskraft den
administrativen Bereich des Betriebes anstelle des Beschwerdegegners -
wenn auch unter seiner Anleitung und Aufsicht - selber zu erledigen. Diese
Tätigkeit liegt trotz der relativ kurzen zeitlichen Beanspruchung von
jeweils ca. zwei Wochenstunden ihrem Wesen nach ausserhalb des Rahmens
einer Dienstleistung Dritter gemäss Art. 9 Abs. 1 HVI.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 13. Juni 1984 aufgehoben.