Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 V 1



112 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 15. Januar 1986 i.S. Furler gegen
Ausgleichskasse Basel-Stadt und Kantonale Rekurskommission für die
Ausgleichskassen, Basel Regeste

    Art. 52 AHVG, Art. 104 und 105 Abs. 2 OG.

    - Die vom Verwaltungsratsmitglied einer Aktiengesellschaft nach seiner
Demissionserklärung für die Gesellschaft vorgenommenen Handlungen gehören
zur Tatbestandsfeststellung, wogegen die Wirkungen jener Handlungen
bezüglich des Einflusses auf die Geschäftsführung (BGE 109 V 94) als
Rechtsfragen zu prüfen sind (Erw. 3b).

    - Dauer der Haftung des einzigen Verwaltungsrates einer
Aktiengesellschaft: i.c. Datum der Demissionserklärung als massgebend
erachtet (Erw. 3c, d).

Sachverhalt

    A.- Furler war ab 1. Januar 1982 einziger Verwaltungsrat der
Firma M. AG, einer Tochtergesellschaft der Firma A. Holding AG. Am
6. September 1982 legte er dieses Mandat mit sofortiger Wirkung nieder;
die entsprechende Publikation im Handelsamtsblatt erfolgte am 22. Februar
1983. Am 10. März 1983 fiel die Firma M. AG in Konkurs, und am 21. April
1983 wurde dieses Verfahren mangels Aktiven eingestellt. Dabei kam die
Ausgleichskasse Basel-Stadt mit einer Beitragsforderung von Fr. ... zu
Verlust.

    Mit Entscheid vom 7. Februar 1985 hiess die Kantonale Rekurskommission
für die Ausgleichskassen die Schadenersatzklage der Ausgleichskasse im
wesentlichen gut, wogegen Furler Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben
lässt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    I.2.- a) Es steht fest, dass die Firma M. AG entgegen der
Vorschrift von Art. 14 Abs. 1 AHVG paritätische bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge sowie Verwaltungskostenbeiträge, Verzugszinsen,
Betreibungs- und Mahngebühren der Ausgleichskasse nicht bezahlt hat
und dass dieser dadurch ein Schaden entstanden ist. Dazu macht der
Beschwerdeführer jedoch geltend, es hätten entgegen der Annahme der
Vorinstanz "komplexe Verhältnisse im Sinne der Rechtsprechung" vorgelegen,
weshalb er "nicht verpflichtet war, die Zahlungen an die Ausgleichskassen
ständig zu kontrollieren". Dem vorinstanzlichen Vorwurf, sich zu wenig
bzw. gar nicht um den Zahlungsverkehr der Gesellschaft gekümmert zu haben,
hält er entgegen, dass er unbestrittenermassen gar keine Möglichkeit
gehabt habe, Einblick in Buchhaltung und Zahlungsverkehr zu nehmen, weil
die administrativen Geschäfte über die Holding bzw. andere Gesellschaften
abgewickelt worden seien. Überdies habe er die Angaben der in ihrer
Eigenschaft als Verwaltungsräte der Muttergesellschaft A. Holding AG
effektiv massgebenden Herren X und Y, welche über alle wesentlichen
Vorgänge der Firma M. AG informiert gewesen seien und die Abrechnungen
teilweise selber vorgenommen hätten, als glaubhaft erachten dürfen,
wonach die Sozialversicherungsbeiträge pünktlich abgerechnet und bezahlt
würden. Zudem könne aus seiner Tätigkeit als Unternehmensberater bzw.
Treuhänder nichts in bezug auf seine Sorgfaltspflicht abgeleitet werden,
weil er sich als juristischer Laie lediglich mit Fragen der Werbung und
Sicherheit befasst habe.

    b) Dieser Betrachtungsweise kann nicht gefolgt werden. Bei der
Firma M. AG handelte es sich um ein kleines Unternehmen mit einfacher
Verwaltungsstruktur; das Aktienkapital belief sich auf Fr. 50'000.--;
der Beschwerdeführer war einziger und einzelzeichnungsberechtigter
Verwaltungsrat. Bei derart einfachen und leicht überschaubaren
Verhältnissen muss vom einzigen Verwaltungsrat einer Aktiengesellschaft,
der als solcher die Verwaltung der Gesellschaft als einzige Person
in Organstellung zu besorgen hat, der Überblick über alle wesentlichen
Belange der Firma selbst dann verlangt werden, wenn gewisse Befugnisse von
aussenstehenden Personen wahrgenommen werden. Er kann mit der Delegation
von Funktionen an Dritte nicht zugleich auch seine Verantwortung als
einziges Verwaltungsorgan an diese Dritten delegieren. Es liegt hier
daher kein Sonderfall eines Grossunternehmens im Sinne von BGE 103
V 124 vor, was allenfalls eine Beschränkung der Kontrollpflicht des
Beschwerdeführers gerechtfertigt hätte. Er kann sich seiner gesetzlichen
Verantwortung auch nicht mit der Begründung entschlagen, er habe
keine Einsicht in Buchführung und Zahlungsverkehr gehabt. Wenn er sich
aufgrund des sog. Treuhandvertrages vom 1. Januar 1982 als blosser
Strohmann der Holding zur Verfügung stellte und seine Kontrollrechte
nicht ausübte, so liegt darin eine grobe Fahrlässigkeit im Sinne der
Rechtsprechung. Dass er sich dessen auch tatsächlich bewusst war,
geht aus dem Treuhandvertrag hervor, wo er sich die "ihm in seiner
Eigenschaft als Verwaltungsrat nach Gesetz zustehenden Rechte und
Pflichten" vorbehielt, "insbesondere seine Kontrollrechte gemäss
Art. 722 OR". Der Einwand, dass er Treuhänder bzw. Unternehmensberater
"ohne bestimmte Qualifikationen" gewesen sei und dass es an den Herren
X und Y gelegen hätte, die Sozialversicherungsbeiträge abzurechnen,
worauf er sich verlassen habe, vermag den Beschwerdeführer somit nicht
zu entlasten. Auch wenn es zutreffen mag, dass die genannten Personen
teilweise die AHV-Abrechnungen selbst vornahmen und über diese Belange im
einzelnen besser orientiert waren, so ändert dies doch nichts daran, dass
dem Beschwerdeführer selber im Sinne der vorstehenden Darlegungen grobe
Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist. Er kann sich als einziger Verwaltungsrat
- entgegen seinen Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde -
namentlich auch nicht darauf berufen, dass sich seine Tätigkeit vor allem
"auf die Beratung ... bezüglich Fragen der Sicherheit und der Werbung"
beschränkt habe.

Erwägung 3

    I.3.- a) Somit ist zu prüfen, in welchem Umfang der eingetretene
Schaden auf einem Verschulden des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 52
AHVG beruht. Diesbezüglich lässt der Beschwerdeführer beantragen, er
sei nur in reduziertem Umfang für schadenersatzpflichtig zu erklären
und die Sache sei "zur Ermittlung des Quantitativs an die Vorinstanz
zurückzuweisen". Zur Begründung macht er im wesentlichen geltend, er sei
laut seinem Schreiben an die Firma A. Holding AG vom 6. September 1982
mit sofortiger Wirkung als Verwaltungsrat der Firma M. AG zurückgetreten;
nach diesem Zeitpunkt habe er keine Möglichkeit zur Beeinflussung der
Geschäftsführung mehr gehabt, weshalb er für die Beiträge vom 3. Quartal
1982 hinweg nicht haftbar gemacht werden könne. Auf die gleichen, schon
vor der Rekurskommission erhobenen Einwände hat diese darauf hingewiesen,
wohl habe der Beschwerdeführer am 6. September 1982 seinen Rücktritt
als Verwaltungsrat der Gesellschaft erklärt; indessen habe er noch
am 1. November 1982 namens der Firma M. AG eine Vollmacht für Herrn Y
ausgestellt; sodann habe er mit Schreiben vom 2. Dezember 1982 an die Firma
A. Holding AG festgehalten, dass es entgegen den Abmachungen unterlassen
worden sei, seinen Rücktritt dem Handelsregister zu melden, weshalb er
diese Mitteilung selber vornehmen werde; im weiteren habe er angekündigt,
er werde für seine Bemühungen im Interesse der Firma A. Holding AG
resp. der betroffenen Tochtergesellschaft seit 6. September 1982 eine
Honorarrechnung stellen. Damit stehe aber fest, dass der Beschwerdeführer
am 6. September 1982 nicht effektiv aus dem Verwaltungsrat ausgeschieden
sei, weil er auch nach diesem Datum die Geschäftsführung noch massgeblich
habe beeinflussen können (BGE 109 V 86 ff.). Als Zeitpunkt des effektiven
Austritts müsse daher die Löschung im Handelsregister betrachtet werden.

    b) Soweit diese Ausführungen der Vorinstanz Feststellungen
tatsächlicher Natur - insbesondere solche über die konkreten Handlungen
des Beschwerdeführers nach dem 6. September 1982 - betreffen, sind
sie für das Eidg. Versicherungsgericht verbindlich (Art. 105 Abs. 2
OG). Näher zu prüfen ist dagegen, ob die nach dem Zeitpunkt der Demission
vorgenommenen Handlungen die Schlussfolgerung der Vorinstanz zulassen,
der Beschwerdeführer habe dadurch die Geschäftsführung noch massgeblich
beeinflussen können bzw. es liege trotz der Rücktrittserklärung
kein effektives Ausscheiden aus dem Verwaltungsrat vor (BGE 109 V 94
f.). Bei dieser vorinstanzlichen Schlussfolgerung geht es - entgegen
der Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung - nicht um eine
Sachverhaltsfeststellung, sondern um eine Rechtsfrage, die durch das Eidg.
Versicherungsgericht frei überprüfbar ist (Art. 104 lit. a OG).

    c) Der Beschwerdeführer hat der Firma A. Holding AG mit
Schreiben vom 6. September 1982 erklärt, dass er sein Mandat als
Verwaltungsrat der Firma M. AG per sofort niederlege. Mit dieser -
an sich unbestrittenermassen korrekt erklärten - Demission trat die
Beendigung des Amtes als Verwaltungsrat ein, und zwar mit sofortiger
Wirkung (BÜRGI, Zürcher Kommentar, N. 8 zu Art. 705 OR; VON STEIGER,
Das Recht der Aktiengesellschaft in der Schweiz, 4. Aufl., S. 226
f.; SCHUCANY, Kommentar zum Schweizerischen Aktienrecht, 2. Aufl.,
N. 2 zu Art. 705 OR; PATRY, Précis du droit Suisse des Sociétés,
vol. II, S. 250; BGE 104 Ib 323 Erw. 2b). Eine faktische Fortsetzung
des Mandats über den genannten Zeitpunkt hinaus mit der Möglichkeit,
die Geschäftsführung der Gesellschaft noch massgeblich zu beeinflussen,
ist trotz der Vollmachterteilung vom 1. November 1982 bzw. des Schreibens
vom 2. Dezember 1982 zu verneinen. Es erscheint nämlich als glaubhaft,
dass der Beschwerdeführer gewisse Handlungen nur noch zur Liquidation
seines Mandats im Sinne der Erfüllung einer Sorgfaltspflicht vornahm,
weil die Aktiengesellschaft infolge der fristlosen Demission ihres
einzigen Verwaltungsrates formell handlungsunfähig wurde. Wenn sich
der Beschwerdeführer zu diesen Handlungen - sei es zu Recht oder zu
Unrecht - berechtigt oder verpflichtet fühlte, so kann daraus nicht
abgeleitet werden, er habe seine Demission vorläufig suspendiert.
Dies muss vorliegend um so mehr gelten, als er bereits im Schreiben vom 6.
September 1982 um die entsprechende Publikation im Handelsregister ersucht
hatte und in der Folge wiederholt und unwidersprochen geltend machte, die
Löschung des Eintrages sei durch die Verantwortlichen der Firma A. Holding
AG hinausgezögert worden (vgl. hiezu FORSTMOSER/MEIER-HAYOZ, Aktienrecht,
2. Aufl., S. 171 N. 23; BGE 104 Ib 324 f. Erw. 2b und 3b). Bei diesen
Gegebenheiten kann entgegen der Meinung von Verwaltung und Vorinstanz nicht
auf die Löschung des Eintrags im Handelsregister abgestellt werden. Als
massgebender Zeitpunkt des effektiven Ausscheidens aus dem Verwaltungsrat
muss vielmehr der 6. September 1982 betrachtet werden.

    d) Da der Beschwerdeführer am 6. September 1982 effektiv aus
dem Verwaltungsrat ausgeschieden ist, hatte er ab diesem Datum keine
Möglichkeit mehr, Zahlungen an die Ausgleichskasse zu veranlassen. Es
wird auch von keiner Seite behauptet, noch bestehen Anhaltspunkte dafür,
dass der Sonderfall einer grobfahrlässig verursachten Zahlungsunfähigkeit,
welche die Bezahlung der Forderungen innert den jeweiligen Zahlungsfristen
zum vornherein verunmöglicht hätte, gegeben war (ZAK 1985 S. 581
f.). Demnach kann der Beschwerdeführer namentlich für die Beiträge des
3. Quartals 1982, welche erst am 30. September 1982 fällig geworden sind
und die bis zum 10. Oktober 1982 hätten bezahlt werden müssen (Art. 34
Abs. 1 lit. a und Abs. 4 AHVV), nicht haftbar gemacht werden. Eine
Schadenersatzpflicht fällt vielmehr nur für die von der Kasse in
der Abrechnung angeführten ersten drei Positionen (22. Juli, 5. und
12. August 1982) sowie allenfalls noch teilweise für jene vom 2. August
1983 (Nachforderung für das Jahr 1982) in Betracht.

    Hinsichtlich der zuletzt genannten Position geht aus den Akten nicht
hervor, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sie sich auf Beiträge
bezieht, die vor dem Demissionsdatum vom 6. September 1982 hätten bezahlt
werden müssen. Sodann ist auch unklar, auf welche Schadenpositionen die
in der "Schlussabrechnung 1982" vom 25. April 1983 vermerkten Zahlungen,
welche zu einer Gutschrift von insgesamt Fr. ... führten, angerechnet
worden sind. Hiezu ist zu sagen, dass diese Zahlungen vorab an die
ältesten und nicht an jüngere, allenfalls dem Beschwerdeführer nicht
mehr zur Last fallende Schadenpositionen anzurechnen sind. Dabei ist
- entgegen der Auffassung der Kasse - der Zeitpunkt dieser Zahlungen
unerheblich; auch wenn sie erst nach dem 6. September 1982 geleistet
worden sein sollten, liegt insoweit kein Schaden (mehr) vor, als sie auf
die fraglichen Positionen anrechenbar sind. Ob und allenfalls inwieweit
diese Zahlungen bei der Schadenersatzforderung richtig berücksichtigt
worden sind, lässt sich aufgrund der vorliegenden Akten nicht abschliessend
beurteilen. Die Sache ist daher an die Verwaltung zurückzuweisen. Diese
wird die notwendigen Erhebungen durchzuführen und hernach über die
Schadenersatzforderung neu zu befinden haben. In diesem Sinne erweist
sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Beschwerdeführers teilweise
als begründet.