Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IV 9



112 IV 9

3. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. April 1986
i.S. B. gegen Generalprokurator des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    1. Art. 19 Abs. 2 ZGB.

    Der urteilsfähige Entmündigte kann im Rahmen der Ausübung
höchstpersönlicher Rechte, z.B. für die Erhebung einer eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde, durch Vollmachterteilung selbständig einen
gewillkürten Vertreter bestellen und mit diesem einen das Basisverhältnis
ordnenden Vertrag (Auftrag) abschliessen (E. 1).

    2. Art. 137 StGB.

    Gewahrsam des Eigentümers bejaht, der sein Portemonnaie in betrunkenem
Zustand in einer Telefonkabine liegengelassen hatte (E. 2).

Sachverhalt

    A.- B. behändigte am 17. September 1984 in einer Telefonzelle
das dort zuvor vom angetrunkenen A. liegengelassene Portemonnaie. Im
Appellationsverfahren sprach das Obergericht des Kantons Bern B. des
Diebstahls schuldig und verurteilte ihn zu 30 Tagen Gefängnis.

    B. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei an die Vorinstanz
zurückzuweisen, damit sie ihn bloss wegen Nichtanzeigens eines Fundes
bestrafe.

    B. ist bevormundet. Ende März 1985 erteilte der Vormund
Herrn Fürsprecher X., der den Verurteilten schon vor Obergericht
vertreten hatte, die "Erlaubnis", das Urteil des Obergerichts mit
Nichtigkeitsbeschwerde beim Bundesgericht anzufechten. Mit Schreiben
vom 2. April 1985 zog er indessen sein "Einverständnis zur Einreichung
der Nichtigkeitsklage" zurück, weil B. inzwischen wieder straffällig
geworden sei. Dessen ungeachtet meldete Fürsprecher X. am 4. April 1985
die Nichtigkeitsbeschwerde an, und am 3. Februar 1986 reichte er die
Beschwerdebegründung ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Vertreter des Beschwerdeführers macht geltend, gemäss BGE
75 IV 143 und 78 IV 21 E. 1 sei der Bevormundete unabhängig von seinem
Vormund berechtigt, eine Nichtigkeitsbeschwerde zu erheben und für diesen
Zweck einen Anwalt zu bevollmächtigen. Diese letztere Aussage findet sich
indessen in keinem der angeführten Urteile. In beiden Entscheiden ging es
um die Frage, ob auch der Vormund zur Nichtigkeitsbeschwerde befugt sei
und ob er dazu der Zustimmung des Bevormundeten bedürfe. Dagegen wurde
nichts darüber gesagt, ob das Mündel entgegen dem ausdrücklich erklärten
Willen des Vormunds einen Verteidiger beauftragen dürfe. Die Frage bedarf
deshalb der Prüfung.

    a) Urteilsfähige entmündigte Personen sind nach Art. 19 Abs. 2 ZGB
befugt, ohne Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters Rechte auszuüben,
die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen (s. auch Art. 410
ZGB). In BGE 88 IV 115 E. 3 hat der Kassationshof entschieden,
dass die Rechte, welche der strafrechtlich Verurteilte mit einem
Revisionsgesuch nach Art. 397 StGB geltend mache, ihm unzweifelhaft um
seiner Persönlichkeit willen zustünden, weshalb sie von ihm nach Art. 19
Abs. 2 ZGB selbständig ausgeübt werden könnten, sofern er urteilsfähig
sei; dabei mache es keinen Unterschied aus, ob es sich um die Einreichung
eines befristeten Rechtsmittels oder um ein an keine Frist gebundenes
Wiederaufnahmegesuch handle. Diese Überlegungen müssen analog für die
eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde gelten; auch mit dieser macht der
strafrechtlich Verurteilte Rechte geltend, die ihm um seiner Persönlichkeit
willen zustehen.

    b) Damit ist allerdings die Frage nicht entschieden, ob der
urteilsfähige Entmündigte im Rahmen der Ausübung höchstpersönlicher Rechte
durch Vollmachterteilung auch selbständig einen gewillkürten Vertreter
bestellen und mit diesem überdies einen das Basisverhältnis ordnenden
Vertrag (Auftrag) abschliessen kann. Sie ist - was die Vollmachterteilung
als einseitiges Rechtsgeschäft anbelangt - ohne weiteres zu bejahen
(BUCHER, Berner Kommentar, N. 199 und 313 zu Art. 19 ZGB). Die mit Art. 19
Abs. 2 ZGB angestrebte Handlungsfreiheit des beschränkt Handlungsfähigen
muss aber auch die Befugnis zum selbständigen Abschluss eines Auftrags
umfassen, ansonst die prozessuale Durchsetzung seiner höchstpersönlichen
Rechte im Strafprozess illusorisch würde, weil Anwälte als Verteidiger in
aller Regel nicht aufgrund einer blossen Vollmacht, sondern nur gestützt
auf ein Auftragsverhältnis tätig werden (BUCHER aaO N. 314 zu Art. 19
mit Verweisungen auf die entsprechende kantonale Rechtsprechung).

    c) B. konnte somit selbständig Fürsprecher X. einen Auftrag zu
seiner Verteidigung und namentlich zur Einreichung der eidgenössischen
Nichtigkeitsbeschwerde erteilen, sofern er insoweit als urteilsfähig
anzusehen ist. Aufgrund des angefochtenen Urteils ist einzig bekannt,
dass der Beschwerdeführer seit 1971 unter Vormundschaft steht. Auch geht
aus einem psychiatrischen Bericht des Jahres 1977 hervor, dass er an einer
Geisteskrankheit, nämlich an einer schleichenden paranoiden Schizophrenie
leidet. Dagegen ist weder diesem Gutachten noch dem angefochtenen Urteil
zu entnehmen, ob die genannte Krankheit der Grund der Bevormundung
war. Indessen ergibt sich aus den Akten, dass B. im kantonalen Verfahren
zur Sache sowie zu dem Schadenersatzbegehren des A. einvernommen wurde
und dabei durchaus vernünftige Antworten gegeben hat. Es besteht deshalb
kein Grund zur Annahme, es habe ihm die Urteilsfähigkeit gefehlt, um
sich auch über die Tragweite einer Vollmacht- und Auftragserteilung an
einen Anwalt zwecks Wahrnehmung seiner Interessen im Strafverfahren
Rechenschaft zu geben. Ist dem aber so, war Fürsprecher X., als er
die Nichtigkeitsbeschwerde anmeldete und begründete, rechtsgültig
bevollmächtigt. Demzufolge ist die Beschwerde an die Hand zu nehmen.

Erwägung 2

    2.- In der Sache selbst nahm das Obergericht an, der Beschwerdeführer
habe sich des Diebstahls schuldig gemacht, weil A. den Gewahrsam an seinem
Portemonnaie nicht aufgegeben gehabt habe. B. bestreitet dies.

    a) Wegnehmen im Sinne des Art. 137 StGB ist Bruch fremden und
Begründung neuen Gewahrsams. Dieser besteht in der tatsächlichen
Sachherrschaft, verbunden mit dem Willen, sie auszuüben (BGE 100 IV 158,
97 IV 196). Verlegte oder vergessene Sachen sind nicht gewahrsamslos,
solange sie sich in einem der faktischen Herrschaft des Gewahrsamsinhabers
unterliegenden oder der Öffentlichkeit zugänglichen Raum (z.B. einer
Telefonkabine) befinden, und jener weiss oder sich doch alsbald mit
Bestimmtheit erinnern kann, wo sie sind. So wurde in BGE 71 IV 184 der
Gewahrsam in einem Falle bejaht, in dem jemand seine Uhr auf dem Tisch des
Rauchersalons eines Schiffes vergass, dies jedoch kurz darauf bemerkte
und sofort wusste, wo er sie liegengelassen hatte. Dagegen wurde der
Gewahrsam verneint, wo eine Person, ohne sich dessen gewahr zu werden,
Banknoten auf dem Ladentisch eines Geschäftes liegenliess und sich nach
Entdecken des Verlustes an den Standort der Banknoten nicht zu erinnern
vermochte, sondern an anderer Stelle zu suchen begann (BGE 71 IV 90;
in diesem Sinne auch STRATENWERTH, Schweiz. Strafrecht, Besonderer Teil
I, 3. Aufl. S. 195 f.; a.M. bezüglich ausserhalb des Zugriffsbereichs
vergessener Sachen REHBERG, Grundriss/Strafrecht III S. 33 lit. c).

    Eine vorübergehende Verhinderung an der Ausübung der tatsächlichen
Sachherrschaft lässt den Gewahrsam nicht untergehen (BGE 100 IV 159 80 IV
153). Der Herrschaftswille, der zur tatsächlichen Herrschaftsmöglichkeit
hinzutreten muss, braucht nicht ständig "auf der Wacht zu sein"; durch
Schlaf oder Bewusstlosigkeit wird die Fortdauer des einmal begründeten
Willens nicht aufgehoben (MAURACH, Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil,
5. Aufl. S. 202; SCHÖNKE/SCHRÖDER, Strafgesetzbuch, Kommentar, 22. Aufl.,
N. 30 zu § 242). Das muss analog auch für den Zustand der Trunkenheit
gelten.

    b) Im vorliegenden Fall steht fest, dass A. sein Portemonnaie in
der Telefonkabine liegenliess und sich, als er beim anschliessenden
Besuch des Restaurants "Bahnhof" die Konsumation bezahlen wollte, des
Verlustes gewahr wurde. Auch realisierte er in diesem Zeitpunkt, dass er
im Restaurant "Waldrand" noch im Besitz des Geldbeutels gewesen war, da
er damals seine Konsumation bezahlt hatte. Dagegen konnte er sich, als
er später bei der Polizei vernommen wurde, nicht mehr daran erinnern,
dass er die Telefonkabine aufgesucht hatte. Nach der verbindlichen
Feststellung der Vorinstanz war der Grund dieser Erinnerungslücke einzig
der übermässige Alkoholgenuss. Entsprechend erinnerte sich A. anderntags,
als er wieder nüchtern war, an seinen Aufenthalt in der Telefonkabine,
nachdem die Polizei ihm gemeldet hatte, dass das Portemonnaie dort von
B. behändigt worden sei. Die Annahme des Obergerichts, wonach A. nach
"erfolgter Ausnüchterung" sein Erinnerungsvermögen mit Sicherheit auch
ohne das Zutun der Polizei wiedererlangt und in der Folge die Suche an
der betreffenden Stelle aufgenommen hätte, ist - wie im Entscheid zur
staatsrechtlichen Beschwerde ausgeführt wurde - sachlich vertretbar. Geht
man aber davon aus, kann nicht gesagt werden, der Gewahrsam des A. sei
an dem in der Telefonkabine zurückgelassenen Portemonnaie aufgehoben
gewesen, als B. dieses an sich nahm. Hat der Beschwerdeführer demnach
mit dessen Aneignung fremden Gewahrsam gebrochen und eigenen begründet,
so hat er den objektiven Tatbestand des Art. 137 StGB erfüllt; denn die
Wegnahme geschah zumindest ohne den Willen des Geschädigten, und dass es
sich um eine fremde Sache gehandelt hat, steht ausser Frage.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit auf sie einzutreten
ist.