Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IV 1



112 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 16. Juni 1986 i.S. X. gegen
Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 95 Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 StGB; Strafvollzug bei Jugendlichen.

    Unter gewissen Umständen (s. E. 3) kann in Einzelfällen eine
Einschliessungsstrafe abweichend von der gesetzlichen Regelung des Art. 95
Ziff. 3 Abs. 1 Satz 2 StGB in einem Bezirksgefängnis vollzogen werden.

Sachverhalt

    A.- Die ca. 16/17 Jahre alte Jugendliche X. wurde durch das
Jugendgericht des Bezirkes Zürich mit Urteilen vom 7. Februar und
30. April 1986 wegen Vermögens- und anderen Delikten zu unbedingten
Einschliessungsstrafen verurteilt, die sie zur Zeit im Bezirksgefängnis
Dielsdorf verbüsst.

    Mit Eingabe vom 19. März 1986 hatte die amtliche Verteidigerin
das Gesuch gestellt, es sei die Einschliessungsstrafe gemäss Art. 95
Ziff. 3 Abs. 1 StGB in einem Erziehungsheim zu vollziehen, weil die
Einschliessungsdauer einen Monat überschreitet. Die Jugendanwaltschaft
des Bezirkes Zürich wies das Gesuch mit Verfügung vom 11. April 1986
ab. Dieser Entscheid wurde durch die Jugendstaatsanwaltschaft des Kantons
Zürich im Rekursverfahren am 30. April 1986 bestätigt.

    Dagegen richtet sich die vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans
Bundesgericht mit dem Antrag, es seien die beiden vorgenannten Entscheide
aufzuheben.

    Das Bundesgericht weist sie ab

Auszug aus den Erwägungen:

                  aus folgenden Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Zu entscheiden ist allein, ob die Jugendliche abweichend
von der gesetzlichen Anordnung des Art. 95 Ziff. 3 Abs. 1 StGB in
ein Bezirksgefängnis eingewiesen werden durfte. Die Vollzugsbehörden
führten aus, bei der Beschwerdeführerin könne nur ein Erziehungsheim
mit geschlossener Abteilung seine Aufgabe erfüllen; solche Plätze
gebe es im Kanton Zürich aber nicht und zahlreiche Anfragen in anderen
Kantonen seien abschlägig beantwortet worden; zudem wäre der Vollzug der
Einschliessungsstrafe in einem Erziehungsheim gerade bei der ausdrücklich
als massnahmeunfähig bezeichneten Beschwerdeführerin wenig sinnvoll;
die getroffene Lösung entspreche dem "Willen des Gesetzes" und sei
jedenfalls eher zu vertreten als ein Verzicht auf die Strafe. Dieser
Auffassung widerspricht die Beschwerdeführerin mit dem Hinweis auf den
Gesetzeswortlaut des Art. 95 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Zudem macht sie geltend,
der Vollzug einer Einschliessungsstrafe in einem Gefängnis für Erwachsene
sei menschlich nicht vertretbar und verstosse gegen die EMRK.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 95 Ziff. 3 Abs. 1 StGB ist eine Einschliessung von
mehr als einem Monat bei einem Jugendlichen, der das 18. Altersjahr
noch nicht vollendet hat, in einem Erziehungsheim zu vollziehen. Diese
gesetzliche Regelung wurde in der Literatur verschiedentlich kritisiert,
da auf diese Weise "normale" mit schwererziehbaren und verwahrlosten
Jugendlichen zusammengebracht würden (REHBERG, Strafrecht II: Strafen und
Massnahmen, Zürich 1980, S. 108; BOEHLEN, Kommentar zum Schweizerischen
Jugendstrafrecht, Bern 1975, N 9 zu Art. 95 StGB S. 213; BEGLINGER,
Das Jugendstrafverfahren im Kanton Zürich ..., Diss. ZH 1972, S. 143)
bzw. weil der Unterschied zwischen Strafe und Massnahme verwischt werde
(SCHULTZ, AT II, 4. Aufl., Bern 1982, S. 241). Wie der vorliegende Fall
zeigt, weigern sich Heimleiter häufig, (länger dauernde) Einschliessungen
von Jugendlichen durchzuführen (HEINE/LOCHER, Jugendstrafrechtspflege in
der Schweiz, Freiburg i. Br., 1985, S. 80 f.; vgl. zur Praxis auch HUG,
Die Strafen im schweizerischen Jugendstrafrecht, Diss. ZH 1976, S. 102
f.). Das Bundesgericht hat im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass
für die Beschwerdeführerin tatsächlich kein Platz in einem geschlossenen
Erziehungsheim gefunden werden konnte.

Erwägung 3

    3.- Trotz gewisser Bedenken ist der von den Zürcher Behörden gefundenen
Lösung zuzustimmen. Obwohl sie nicht dem Wortlaut des Gesetzes entspricht,
vermag sie bis zur Errichtung entsprechender Vollzugsinstitutionen
jedenfalls unter den konkreten Umständen zu überzeugen.

    a) Die Vorinstanz stellte für den vorliegenden Fall zutreffend fest,
der "erzwungene" Verzicht auf die vom Gericht unbedingt ausgesprochene
Strafe sei nicht zu vertreten. Die Beschwerdeführerin ist eine jener
jugendlichen Zigeunerinnen, die einzig zur Verübung von Straftaten
in die Schweiz einreisen. Ob sie jünger oder älter als 18 Jahre
(d.h. voll strafmündig) ist, konnte nicht mit hinreichender Sicherheit
abgeklärt werden. Ein Kapitulieren in der Frage des Strafvollzuges hätte
schwerwiegende Folgen und wäre insbesondere geeignet, "entsprechende Kreise
im Ausland zu animieren, in der Schweiz ... noch vermehrt Diebstähle
zu verüben". Die Beschwerdeführerin musste denn auch nach ihrer ersten
bedingten Entlassung und Ausschaffung aus der Schweiz Ende Februar 1986
bereits am 4. März 1986 wegen neuer Straftaten verhaftet werden. Solange
die passenden Heime nicht erstellt sind (dazu HUG, aaO S. 107 oben),
werden die Behörden in Fällen der vorliegenden Art um eine Ersatzlösung
nicht herumkommen, bei der allerdings die unten in E. 3b aufzuzeigenden
Gesichtspunkte beachtet werden müssen.

    b) Die Behörden des Kantons Zürich haben nicht verkannt, dass eine
für die Betroffene aussergewöhnliche Vollzugsform gewählt worden ist, und
sie haben deshalb spezielle Vorkehren getroffen. Die Beschwerdeführerin
befindet sich mit einer ebenfalls italienisch sprechenden jungen Frau
in einer Gemeinschaftszelle, wo sie über einen Fernsehapparat verfügt,
für den die Jugendanwaltschaft Kostengutsprache leistet. Zudem wird sie
zusammen mit anderen Insassen zur Arbeit angehalten, die sie offenbar ohne
besondere Schwierigkeiten verrichtet. Schliesslich haben die Behörden den
gefängnispsychiatrischen Dienst der Klinik Rheinau ersucht, die jugendliche
Straftäterin im Hinblick auf ihre Hafterstehungsfähigkeit zu "überwachen".

    Bei der vorliegenden aussergewöhnlichen Vollzugsform ist
ausschlaggebend, dass die Jugendliche nicht isoliert ist, zu einer
Arbeitstätigkeit angehalten und regelmässig betreut wird. Unter diesen
Voraussetzungen lässt sich in Einzelfällen die Einweisung in ein
Bezirksgefängnis verantworten, und es kann dann auch nicht von einem
"unmenschlichen" Vollzug gesprochen werden, wie es die Verteidigung tut.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerde lässt sich nicht entnehmen, inwieweit die EMRK im
vorliegenden Fall missachtet worden sein soll. Insbesondere wurde unter
den konkreten Umständen Art. 5 Ziff. 1 lit. d EMRK nicht verletzt. Der
Freiheitsentzug wurde in einem geregelten Verfahren angeordnet, hat
eine materielle Grundlage und entspricht auch dem - weit auszulegenden
- Zweckgedanken der überwachten Erziehung (TRECHSEL, Die Europäische
Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen Freiheit und die
schweizerischen Strafprozessrechte; Bern 1974, S. 189, 209).