Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 26



112 II 26

5. Urteil der II. Zivilabteilung vom 24. Februar 1986 i.S. K.M. gegen
H.M., Grundbuchamt Wattwil und Regierungsrat des Kantons St. Gallen
(Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Prüfungsbefugnis des Grundbuchverwalters.

    1. Der Grundbuchverwalter hat die Urteilsfähigkeit des Verfügenden
grundsätzlich nicht zu überprüfen. Solange ein nach dem Grundbuch
Verfügungsberechtigter nicht zufolge eines förmlichen Entscheids der
zuständigen Behörde in seiner Handlungsfähigkeit beschränkt ist, ist
einer im übrigen ordnungsgemässen Anmeldung Folge zu leisten (E. 2).

    2. Zur Löschung eines dinglichen Rechts genügt die schriftliche
Erklärung der aus dem Eintrag berechtigten Person. Ein Ausweis über den
Rechtsgrund muss nicht vorgelegt werden (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 16. Oktober 1982 starb J.M. Zu seinem Nachlass gehörte das
landwirtschaftliche Grundstück Nr. 1743, Waldschwil, Gemeinde Wattwil.
Mit letztwilliger Verfügung hatte der Erblasser seinen Stiefsohn neben
seinen leiblichen Söhnen als Erben eingesetzt und dem Sohn H.M. ein
lebenslängliches und unentgeltliches Wohnrecht im Westteil des auf
dem Grundstück stehenden Wohnhauses eingeräumt. Am 28. November 1983
wurde das Grundstück von den Erben zum Preise von Fr. 130'000.-- an
den Miterben K.M. verkauft. Dabei wurde das Wohnrecht zugunsten von
H.M. ausdrücklich vorbehalten und zusammen mit dem Eigentumsübergang in
das Grundbuch eingetragen. Am 21. Februar 1984 unterzeichnete H.M. eine
Vereinbarung, in welcher er gegenüber K.M. erklärte, unwiderruflich auf
das Wohnrecht zu verzichten. Diese Vereinbarung sollte nach einem am
Schluss der Urkunde in Klammer beigefügten Vermerk öffentlich beurkundet
werden. Am gleichen Tag unterschrieb H.M. die Anmeldung zur Löschung des
Wohnrechts im Grundbuch. Die Echtheit seiner Unterschrift wurde durch
den Legalisationsbeamten der Gemeinde Wattwil amtlich beglaubigt.

    B.- Mit Verfügung vom 13. April 1984 wies das Grundbuchamt Wattwil
die Anmeldung ab. Zur Begründung führte es aus, noch bevor das vom
Grundbuchamt vorbereitete Formular "Löschungsbewilligung" H.M. zur
Unterzeichnung unterbreitet worden sei, habe dessen Bruder J. beim
Vormundschaftssekretariat Wattwil vorgesprochen und die Bestellung
eines Beirats für seinen schutzbedürftigen Bruder verlangt. In der Folge
habe das Vormundschaftssekretariat Wattwil diesen zu einer Aussprache
eingeladen. Bei der Besprechung, bei der auch der Grundbuchverwalter
zugegen gewesen sei, habe sich eindeutig ergeben, dass sich H.M. über
den Wohnrechtsverzicht und dessen Tragweite kein richtiges Urteil
habe bilden können, zumal er ausdrücklich festgestellt habe, keinen
Wohnrechtsverzicht, sondern ein Baugesuch unterzeichnet zu haben. Es
sei ganz offensichtlich gewesen, dass H.M. sehr leicht beeinflussbar sei
und der unentgeltliche Wohnrechtsverzicht nicht einem vernunftgemässen
Handeln entspreche. Jedenfalls seien seine Äusserungen derart verworren
und undefinierbar gewesen, dass bei der Vormundschaftssekretärin und
beim Grundbuchverwalter erhebliche Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit
hinsichtlich des Wohnrechtsverzichts aufgekommen seien. Deshalb habe man
die vorbereitete Löschungsbewilligung nicht unterzeichnen lassen. Auf
Begehren des Vertreters von K.M. sei das Löschungsbegehren in der Folge
aus formellen Gründen im Grundbuch (d.h. im Tagebuch) eingeschrieben
worden, doch müsse die Anmeldung wegen Urteilsunfähigkeit des Berechtigten
abgewiesen werden.

    C.- Mit Beschluss vom 25. April 1984 errichtete die
Vormundschaftsbehörde Wattwil über H.M. eine Mitwirkungs- und
Verwaltungsbeiratschaft nach Art. 395 Abs. 1 und 2 ZGB.

    D.- Gegen die Verfügung des Grundbuchamtes Wattwil erhob
K.M. Beschwerde an das Justiz- und Polizeidepartement des
Kantons St. Gallen. Dieses beauftragte den Bezirksarzt Ober- und
Neutoggenburg, H.M. auf seine Urteilsfähigkeit bei der Unterzeichnung
des Wohnrechtsverzichts hin zu untersuchen. Gestützt auf den Bericht
des Bezirksarztes wies das Departement die Beschwerde mit Entscheid vom
1. Oktober 1984 ab. Dagegen beschwerte sich K.M. beim Regierungsrat
des Kantons St. Gallen. Nachdem dieser beim Sozialpsychiatrischen
Dienst des Kantons St. Gallen ein Gutachten über den Geisteszustand von
H.M. eingeholt hatte, wies er die Beschwerde mit Entscheid vom 13. August
1985 ab, wobei er sich im wesentlichen auf das Gutachten stützte, gemäss
welchem H.M. anlässlich der Unterzeichnung des Wohnrechtsverzichts
hinsichtlich dieser Handlung urteilsunfähig war.

    E.- Gegen den Entscheid des Regierungsrats hat K.M. beim Bundesgericht
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben, mit der er beantragt, die Abweisung
der Anmeldung betreffend Löschung des Wohnrechts durch das Grundbuchamt
Wattwil vom 13. April 1984 aufzuheben und das Grundbuchamt anzuweisen,
die Löschung des Wohnrechts im Grundbuch unverzüglich zu vollziehen. H.M.,
der Regierungsrat und das Grundbuchamt stellen in ihren Vernehmlassungen
den Antrag, die Beschwerde abzuweisen, während das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement deren Gutheissung beantragt.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer ist als Eigentümer des mit dem Wohnrecht
belasteten Grundstücks durch den angefochtenen Entscheid berührt und hat
ohne Zweifel ein schutzwürdiges Interesse daran, dass die Anmeldung der
Löschung des Wohnrechts im Grundbuch vollzogen werde. Er ist daher im Sinne
von Art. 103 lit. a OG zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert. Dass
nach Art. 103 Abs. 1 GBV nur der Anmeldende zur Grundbuchbeschwerde befugt
ist, ändert daran nichts (BGE 105 II 45 E. 1 104 Ib 378 ff.).

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die
Urteilsfähigkeit des Beschwerdegegners hinsichtlich des Verzichts auf
das Wohnrecht in Verletzung von Art. 16 ZGB verneint; sie habe die zu
dieser Frage angebotenen Beweise zu Unrecht nicht abgenommen und sich
nicht mit den Einwendungen gegen das Gutachten des Sozialpsychiatrischen
Dienstes vom 29. April 1985 auseinandergesetzt, worin eine Verweigerung
des rechtlichen Gehörs zu erblicken sei. Das Bundesgericht ist bei der
Beurteilung einer Verwaltungsgerichtsbeschwerde nach Art. 114 Abs. 1 OG
nicht auf die Prüfung der vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen beschränkt,
sondern hat das Recht von Amtes wegen anzuwenden. Es ist daher vorerst zu
prüfen, ob die Vorinstanz überhaupt befugt war, mit Hilfe eines Gutachtens
oder anderer Beweismittel Feststellungen über die Urteilsfähigkeit des
Beschwerdegegners zu treffen.

    Die Vorinstanz ist unter Hinweis auf die Lehre an sich zu Recht davon
ausgegangen, dass die Prüfungspflicht des Grundbuchverwalters auch die
Frage umfasst, ob der Verfügende handlungsfähig sei (HOMBERGER, N. 9 und
41 zu Art. 965 ZGB; OSTERTAG, N. 9 zu Art. 965 ZGB; DESCHENAUX, Traité de
droit privé suisse, vol. V t. II, 2, S. 403/404; BRÜCKNER, Sorgfaltspflicht
der Urkundsperson und Prüfungsbereich des Grundbuchführers bei Abfassung
und Prüfung des Rechtsgrundausweises, ZBGR 64/1983 S. 73). Dabei geht
es aber in erster Linie um die formelle Seite der Handlungsfähigkeit. So
hat der Grundbuchverwalter beispielsweise eine allfällige Entmündigung,
Verbeiratung oder Verbeiständung des Verfügenden zu beachten, ebenfalls
einen vorläufigen Entzug der Handlungsfähigkeit im Sinne von Art. 386
Abs. 2 ZGB. Bestehen diesbezüglich Zweifel, so kann er gegebenenfalls die
Vorlegung eines sogenannten Handlungsfähigkeitszeugnisses verlangen. Dass
der Grundbuchverwalter auch die Urteilsfähigkeit des Verfügenden zu prüfen
habe, sagen die erwähnten Autoren nicht. Zu einer solchen Prüfung wäre er
gar nicht in der Lage. Die Urteilsfähigkeit einer Person lässt sich in der
Regel nur aufgrund eines Gutachtens beurteilen. Der Grundbuchverwalter
hat jedoch im Eintragungsverfahren grundsätzlich allein gestützt auf
die ihm vorgelegten Urkunden zu entscheiden; er kann weder Gutachten
einholen noch Zeugen einvernehmen (HOMBERGER, N. 52 zu Art. 965 ZGB;
DESCHENAUX, aaO, S. 401, 435). Soweit sich die Lehre überhaupt zu dieser
Frage äussert, ist sie deshalb der Auffassung, der Grundbuchverwalter habe
die Urteilsfähigkeit des Verfügenden nicht zu prüfen (DESCHENAUX, aaO,
S. 376, 403; OSTERTAG, N. 9 zu Art. 965 ZGB). Er darf vielmehr von der
Regel ausgehen, wonach die Urteilsfähigkeit im Rechtsverkehr zu vermuten
ist. Es ist grundsätzlich Sache der vormundschaftlichen Behörden und nicht
des Grundbuchverwalters, für den Schutz urteilsunfähiger mündiger Personen
zu sorgen. Kann aber der Grundbuchverwalter die Urteilsfähigkeit des
Verfügenden nicht überprüfen, so gilt dies auch für die Aufsichtsbehörde,
deren Mittel zur Erforschung des Sachverhalts im Beschwerdeverfahren in
gleicher Weise beschränkt sind (DESCHENAUX, aaO, S. 163). Die Vorinstanz
war daher nicht befugt, den Geisteszustand des Beschwerdegegners durch
ein Gutachten abklären zu lassen.

    BUCHER ist der Ansicht, der Grundbuchverwalter habe "im Interesse des
Schutzes des potentiell handlungsunfähigen Eigentümers" als berechtigt
zu gelten, eine Eintragung zu verweigern; der Entscheid über die
Handlungsfähigkeit des Verfügenden werde dann vom Richter im Prozess
zusammen mit dem Entscheid über die Prozessfähigkeit des Betreffenden
gefällt (N. 223 zu Art. 17/18 ZGB). Wann eine Person als "potentiell
handlungsunfähig" zu betrachten sei, sagt er jedoch nicht. Sollte
damit gemeint sein, der Grundbuchverwalter habe eine Anmeldung schon
dann abzuweisen, wenn irgendwelche Zweifel an der Urteilsfähigkeit des
Verfügenden bestehen, so könnte dieser Ansicht nicht gefolgt werden. Eine
solche Lösung wäre mit den Interessen des Verkehrs nicht vereinbar. Solange
ein nach dem Grundbuch Verfügungsberechtigter nicht zufolge eines
förmlichen Entscheids der zuständigen Behörde in seiner Handlungsfähigkeit
beschränkt ist, hat der Grundbuchverwalter grundsätzlich einer im übrigen
ordnungsgemässen Anmeldung Folge zu leisten. Eine Ausnahme wäre höchstens
in aussergewöhnlichen Fällen angezeigt, z.B. wenn eine völlig betrunkene
Person persönlich auf dem Grundbuchamt erscheint und dort eine Erklärung
unterschreibt oder wenn die Urteilsunfähigkeit des Verfügenden notorisch
ist. Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor. Der Beschwerdegegner
hat die Löschungsbewilligung nicht auf dem Grundbuchamt unterzeichnet,
sondern diesem die bereits unterzeichnete Anmeldung zukommen lassen. Diese
Anmeldung, die übrigens unverzüglich ins Tagebuch hätte eingeschrieben
werden müssen (Art. 948 Abs. 1 ZGB, 14 Abs. 1 GBV), war äusserlich in
Ordnung. Dass der Beschwerdegegner drei Monate nach der Eintragung
des Wohnrechts bereits wieder auf dieses verzichten wollte, bildete
kein Indiz für seine Urteilsunfähigkeit, da ohne weiteres denkbar war,
die Parteien hätten sich inzwischen über eine entgeltliche Ablösung des
Wohnrechts geeinigt (der Beschwerdeführer behauptet denn auch, er habe
dem Beschwerdegegner für den Verzicht auf das Wohnrecht 15'000 Franken
bezahlt, und er hat eine entsprechende Quittung des Beschwerdegegners
ins Recht gelegt). Dass die Urteilsunfähigkeit des Beschwerdegegners
notorisch wäre, behauptet der Grundbuchverwalter selbst nicht und ergibt
sich auch nicht aus den Akten. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte der
Grundbuchverwalter die Anmeldung zweifellos unverzüglich abgewiesen
und nicht erst nach der Intervention der Vormundschaftsbehörde. Auch
hätte er den vom Beschwerdegegner mitunterzeichneten Kaufvertrag vom
28. November 1983 zwischen den Erben von J.M. und dem Beschwerdeführer
nicht öffentlich beurkundet und ins Grundbuch eingetragen. Im Zeitpunkt
des Eingangs der Anmeldung bestand für den Grundbuchverwalter somit
kein Grund, die Anmeldung abzuweisen. Dass beim Grundbuchverwalter
nachträglich, anlässlich des Gesprächs mit dem Beschwerdegegner auf dem
Vormundschaftssekretariat, Zweifel an dessen Urteilsfähigkeit aufkamen,
ist ohne Belang. Informelle Beweiserhebungen sind im Eintragungsverfahren
nicht zulässig. Auf sein privates Wissen durfte der Grundbuchverwalter in
diesem Zusammenhang ohnehin nicht abstellen (DESCHENAUX, aaO, S. 436). Das
eingeleitete Verbeiratungsverfahren wäre für den Grundbuchverwalter
nur dann beachtlich gewesen, wenn die Vormundschaftsbehörde noch vor dem
Eingang der Löschungsanmeldung eine dem Wohnrechtsverzicht entgegenstehende
vorsorgliche Massnahme im Sinne von Art. 386 ZGB getroffen hätte. Das
ist jedoch nicht geschehen.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdegegner weist in seiner Vernehmlassung noch darauf
hin, die Parteien hätten in der Verzichtsvereinbarung vom 21. Februar 1984
die öffentliche Beurkundung dieser Vereinbarung vorgesehen. Eine solche
sei dann aber nicht erfolgt. Die Anmeldung müsse daher auch deswegen
abgewiesen werden, weil die von den Parteien vertraglich vorbehaltene
Form nicht eingehalten worden sei.

    Ob die Vereinbarung vom 21. Februar 1984 gültig sei, kann indessen
dahingestellt bleiben, da zur Löschung eines dinglichen Rechts die
schriftliche Erklärung der aus dem Eintrag berechtigten Person gemäss
Art. 964 Abs. 1 ZGB genügt und ein Ausweis über den Rechtsgrund im Sinne
von Art. 965 Abs. 1 ZGB gar nicht vorgelegt werden muss (HOMBERGER, N. 6 zu
Art. 964 ZGB; LIVER, N. 9-14 zu Art. 734 ZBG; DESCHENAUX, aaO, S. 387).
Selbst wenn sich der Beschwerdegegner in der Vereinbarung vom 21. Februar
1984 gegenüber dem Beschwerdeführer nicht gültig zum Verzicht auf das
Wohnrecht verpflichtet hätte, bliebe es bei der von ihm am gleichen Tag
vorbehaltlos unterzeichneten Anmeldung der Löschung dieses Rechts, die als
Grundlage für die Vornahme der Löschung ausreichte. Der Grundbuchverwalter
hätte die Anmeldung somit auch aus diesem Grund nicht abweisen dürfen. Die
Beschwerde ist deshalb gutzuheissen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid
des Regierungsrats des Kantons St. Gallen vom 13. August 1985 aufgehoben
und das Grundbuchamt Wattwil angewiesen, das auf der Parzelle Nr. 1743,
Grundbuch Wattwil, zugunsten von H.M. eingetragene Wohnrecht zu löschen.