Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 220



112 II 220

37. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 22. April 1986
i.S. C.X. gegen V. (Berufung) Regeste

    Genugtuungsanspruch des Ehegatten (Art. 47 und 49 OR).

    Genugtuungsanspruch des Ehemannes einer durch Unfall schwer invalid
gewordenen Frau wegen Verletzung der Persönlichkeit.

Sachverhalt

    A.- E. X., die Ehefrau von C. X., wurde am 16. April 1977 in Zürich auf
einem Fussgängerstreifen von einem Motorradfahrer angefahren und schwer
verletzt. Folge der Verletzung war namentlich die völlige Erblindung
sowie ein Zustand tiefer Bewusstlosigkeit. Frau X. lag in diesem Zustand
zunächst in der chirurgischen Universitätsklinik und seit Anfang 1978
in der Krankenstation Hegibach. Zwar erfolgte die Atmung nach einiger
Zeit wieder spontan, jedoch nur durch eine Öffnung am Hals. Obwohl sich
vereinzelt Phasen der Aufhellung einzustellen begannen, schlossen die
Ärzte damals eine auch nur geringfügige Besserung aus.

    Im Herbst 1980 wurde Frau X. ins Krankenheim Y. verlegt, wo ihr
Ehemann seit 1975 als Haustechniker angestellt war. Hier wurde die
Patientin erstmals aus dem Bett genommen, um sie mit anderen Menschen
in Kontakt zu bringen und physiotherapeutisch zu behandeln. Entgegen
den bisherigen Prognosen begann sie, sich sprachlich auf primitive
Weise auszudrücken. Sie lernte auch schlucken und vermochte wieder
Nahrung aufzunehmen, blieb jedoch pflegebedürftig und an den Rollstuhl
gebunden. Ihr Bewusstsein ist beeinträchtigt, indessen realisiert Frau
X., dass sie blind ist. Eine Wiederherstellung ist ausgeschlossen; die
Lebenserwartung erscheint als herabgesetzt.

    Die Ansprüche von Frau X. gegen die V. Versicherungs-Gesellschaft,
die Haftpflichtversicherung des verantwortlichen Motorradfahrers, wurden
vergleichsweise erledigt. Im Rahmen einer Pauschalabfindung erhielt
Frau X. u.a. eine Genugtuung von Fr. 60'000.-- nebst Zins. Der von
ihrem Ehemann geltend gemachte Genugtuungsanspruch wurde ausdrücklich vom
Vergleich ausgenommen und einer getrennten prozessualen Auseinandersetzung
vorbehalten.

    B.- Am 10. Januar 1985 klagte C.X. gestützt auf Art. 47 und 49 OR gegen
die V. Versicherungs-Gesellschaft beim Handelsgericht des Kantons Zürich
auf Zahlung von Fr. 40'000.-- nebst Zins zu 5% seit 16. April 1977 als
Genugtuung für die schwere Verletzung in den persönlichen Verhältnissen,
die ihm durch die bei seiner Frau eingetretenen Unfallfolgen zugefügt
worden sei. Am 9. Juli 1985 wies das Handelsgericht des Kantons Zürich
die Klage ab.

    C.- Gegen das Urteil des Handelsgerichts hat der Kläger Berufung
eingelegt und beantragt, das angefochtenen Urteil aufzuheben und die
Klage gutzuheissen.

    Die Beklagte schliesst auf Abweisung der Berufung.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der angefochtene Entscheid wird im wesentlichen damit begründet,
Art. 47 OR enthalte eine Haftungsbeschränkung, die es verbiete, dem
durch eine Körperverletzung nur reflexartig betroffenen Angehörigen einen
eigenen Anspruch zu gewähren. Daran ändere auch die allgemeine Vorschrift
von Art. 49 OR nichts, gehe doch Art. 47 als lex specialis vor.

    a) Im Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. März 1986 i.S. G. gegen
Schweizerische Eidgenossenschaft (BGE 112 II 121 ff.) hat das Bundesgericht
einem Vater, der wegen des Unfalltodes zweier Söhne einen Schock erlitten
hatte und darob invalid geworden war, eine Genugtuung zugesprochen. Es hat
den Einwand der Beklagten, blosse Reflexschäden seien nicht zu ersetzen,
ausdrücklich zurückgewiesen. Wer in seinen eigenen, durch absolute Rechte
geschützten Gütern beeinträchtigt werde, sei widerrechtlich und auch
dann unmittelbar geschädigt, wenn sich in der Kausalkette zwischen dem
schädigenden Ereignis und dem Geschädigten eine mit diesem in Beziehung
stehende Person befinde (E. 5e). Zum Genugtuungsanspruch aus Art. 47 OR
trete derjenige, der dazu bestimmt sei, die psychische Beeinträchtigung
als Folge der Invalidität auszugleichen (E. 6). Dem stehe Art. 45 OR
nicht entgegen, schränke diese Bestimmung doch lediglich den Kreis der
Drittansprecher ein, die rein vermögensrechtliche, zufolge des Todes
eines anderen entstandene Ansprüche geltend machen könnten; davon
würden jedoch die Forderungen des in seiner körperlichen Integrität
Beeinträchtigten nicht berührt (E. 5e). BGE 54 II 141 E. 3, der den
Eltern eines auf tragische Weise getöteten Kindes jeden Ersatz der ihnen
wegen Nervenschocks entstandenen Behandlungskosten verweigert habe, weil
Art. 45 und 47 OR die Ansprüche Angehöriger einschränkend aufzählten,
sei insoweit überholt (E. 5b und e).

    Vorliegend ist die Beeinträchtigung der persönlichen Verhältnisse
des Klägers zu beurteilen, die ebenfalls als absolutes Recht geschützt
sind (Art. 28 ZGB). Somit kann die Genugtuung nicht mit dem Hinweis
verweigert werden, bloss reflexartige Betroffenheit begründe keinen
eigenen Anspruch. Mit der neuen Praxis nicht mehr zu vereinbaren ist auch
die Annahme der Vorinstanz, Art. 47 OR schliesse als Spezialvorschrift
die Anwendbarkeit von Art. 49 OR schlechthin aus, verlangt doch der
Kläger Genugtuung für die Verletzung in seinen eigenen persönlichen
Verhältnissen. Im Gegensatz zum Urteil vom 11. März 1986 kann er sich
indes nicht zusätzlich auf eine physische Beeinträchtigung seiner Person
berufen; Ursache seiner psychischen Beeinträchtigung ist sodann nicht
der Tod, sondern ausschliesslich die Invalidität eines Angehörigen.

    b) Gemäss Art. 49 Abs. 1 OR in der vorliegend anzuwendenden
altrechtlichen Fassung (Botschaft des Bundesrates über die Änderung des
Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 5. Mai 1982, BBl 1982 II S. 683;
BROGGINI, Schweizerisches Privatrecht, Bd. I, S. 460) hat Anspruch
auf Leistung einer Geldsumme als Genugtuung, wer in seinen persönlichen
Verhältnissen verletzt wird, wenn es die besondere Schwere der Verletzung
und des Verschuldens rechtfertigen.

    Bereits nach dem Wortlaut ist jeder in seinen persönlichen
Verhältnissen Verletzte anspruchsberechtigt, wenn besondere Umstände
vorliegen. Ein Ausschluss bestimmter Personen lässt sich der Vorschrift
nicht entnehmen, ebensowenig eine Einschränkung auf bestimmte Ursachen
und Arten der Verletzung.

    c) In BGE 108 II 433 f. hat das Bundesgericht bei der Festsetzung
der Genugtuung für ein dauernd bewusstloses Mädchen der Beeinträchtigung
der es pflegenden Eltern Rechnung getragen und so der Sache nach auf
dem Umweg über den Verletzten auch nahen Angehörigen, obwohl von diesen
keine Klage erhoben worden ist, eine Genugtuung zugesprochen. Damit
berücksichtigte es, ohne von der bisherigen Praxis abzuweichen, die den
Angehörigen des Verletzten keinen eigenen Genugtuungsanspruch zugestand,
dass der seelische Schmerz von Angehörigen in derartigen Fällen womöglich
grösser ist als im Fall des Todes, für den Art. 47 OR ausdrücklich einen
Genugtuungsanspruch vorsieht (S. 433 f.).

    Der vom Bundesgericht eingeschlagene Umweg über den Verletzten blieb
jedoch nicht ohne Kritik und veranlasste TERCIER, in der Diskussion
dieses Urteils die Frage aufzuwerfen, ob es nicht konsequenter wäre,
nahen Angehörigen ein direktes Klagerecht zuzugestehen, sei es in analoger
Anwendung von Art. 47 OR, sei es unmittelbar aufgrund von Art. 49 OR (SJZ
80 (1984) S. 54 f.; vgl. auch TERCIER, Le nouveau droit de la personnalité,
N. 1992 f.; TERCIER in Gedächtnisschrift Jäggi, S. 253 mit Hinweisen in
FN 52; DESCHENAUX/TERCIER, La responsabilité civile, 2. Auflage, 1982,
S. 93 N. 26; MERZ, Schweizerisches Privatrecht, Band VI/1, S. 240 FN 11;
P. GIOVANNONI, ZSR 1977 I S. 42 f., Ziff. 2.2; P. STEIN, Die Genugtuung,
3. Auflage, 1976, S. 9 oben).

    d) In zwei Urteilen kantonaler Gerichte ist eine Anspruchsberechtigung
Angehöriger für Genugtuung prinzipiell bejaht worden, so in einem Urteil
des Kantonsgerichts St. Gallen vom 9. Mai 1967 (SJZ 65 (1969) S. 97
f., Ziff. 42) zugunsten eines Vaters, dessen Kind durch einen Dritten
gezüchtigt worden war, sofern der Eingriff in die Vater-Kind-Sphäre
besonders schwer wiege und ein besonders schweres Verschulden gegeben
sei, eine Voraussetzung, die im zu beurteilenden Fall allerdings nicht
erfüllt war; das Tribunal civil de l'arrondissement de la Sarine hat
in einem Urteil vom 5. November 1984 i.S. M. den Eltern eines schwer
unfallgeschädigten Kindes aufgrund von Art. 49 OR in Verbindung mit Art. 28
ZGB Genugtuung für die Beeinträchtigung ihrer eigenen Persönlichkeitsrechte
zugesprochen.

    e) Die französische Praxis erkennt bei schwerer Körperverletzung seit
langem nahen Angehörigen einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen
Schadens zu (ZWEIGERT/KÖTZ, Einführung in die Rechtsvergleichung auf
dem Gebiete des Privatrechts, Bd. II, 2. Auflage 1984, S. 358; MAZEAUD,
Traité de la responsabilité civile, 6e éd., II, n. 1874, p. 950).

    Aus der italienischen Praxis ist ein Urteil bekanntgeworden, das
der Mutter eines durch Unfall schwerverletzten minderjährigen Sohnes
eine Genugtuung zuspricht (Tribunale civile di Busto Arsizio, Urteil vom
26. September 1984, Archivio giuridico della circolazione e dei sinistri
stradali 1985, S. 818 ff., Anmerkung G. Gussoni, S. 823 f.) mit der
Begründung, der seelische Schmerz von Angehörigen eines schwer Verletzten
könne gleich gross oder gar grösser sein, als wenn dieser gestorben wäre
(S. 820).

    f) Aus der Revision von Art. 27 ff. ZGB und 49 OR ergibt sich nichts
für die Frage der Anspruchsberechtigung von Angehörigen. Weder in der
Botschaft über die Änderung des schweizerischen Zivilgesetzbuches vom
5. Mai 1982 (BBl 1982 II S. 636 ff.) noch in den Ratsprotokollen findet
sich eine Stellungnahme zu diesem Problem, obwohl das am 19. September
1973 dem Ständerat überwiesene Postulat Dillier (Amtl.Bull. S. 514)
auf die seelische Unbill Angehöriger hingewiesen hat, die bei schweren
Verletzungen sicher nicht kleiner sei als bei einem Unfalltod. Dem
Postulat Dillier ist durch die Revision denn auch nur teilweise Rechnung
getragen worden (BBl 1982 II 681). Die neue Fassung von Art. 49 OR setzt
für Genugtuung kein schweres Verschulden mehr voraus; überdies ist, wenn
Schadenersatz ohne Verschulden geleistet werden muss, auch für Genugtuung
kein Verschulden erforderlich (vgl. Amtl.Bull. Ständerat 1983, S. 654
f. Votum Hänsenberger; TERCIER, Le nouveau droit de la personnalité, S. 266
N. 2022). In der Revision von Art. 49 OR liegt somit keine gesetzgeberische
Entscheidung für oder gegen die Anspruchsberechtigung Angehöriger.

    g) Wenn zur psychischen wie im Urteil G. gegen Schweizerische
Eidgenossenschaft vom 11. März 1986 noch eine physische Beeinträchtigung
hinzutritt, so kann diese die von Art. 49 OR vorausgesetzte Schwere
der Verletzung in den persönlichen Verhältnissen zwar mitbegründen;
notwendige Bedingung ist sie jedoch nicht. Für die Genugtuung kommt es
auf die Intensität der Auswirkung an, die das schädigende Ereignis auf
die unter dem Persönlichkeitsschutz stehende eheliche Gemeinschaft und
damit auch auf die Persönlichkeitssphäre des Klägers zeitigt.

Erwägung 3

    3.- Aus dem Dargelegten erhellt, dass die Anspruchsberechtigung
des Klägers zu bejahen ist. Zu prüfen bleibt, ob die Voraussetzungen
von Art. 49 OR im vorliegenden Fall erfüllt sind. Dabei kann auch dem
mit Resolution 75-7 vom 14. März 1975 durch das Ministerkomitee des
Europarates empfohlenen Grundsatz Nr. 13 Rechnung getragen werden, der nur
bei ausserordentlichem seelischem Schmerz ("souffrances d'un caractère
exceptionnel") der Angehörigen Genugtuung vorsieht (vgl. J.-F. Egli in
Mélanges André Grisel, S. 325 und 338). Die tatsächlichen Feststellungen
der Vorinstanz gestatten es dem Bundesgericht, diese Voraussetzungen
selbst zu prüfen; sie sind zweifellos erfüllt.

    a) Nach dem angefochtenen Urteil sind die Eheleute X. im Zeitpunkt
des Unfalls 24 Jahre verheiratet gewesen. Der Unfall hat die bisherigen
Lebensverhältnisse des Klägers geradezu umgestürzt. Die eheliche
Gemeinschaft ist weitgehend zerstört, was um so schwerer wiegt, als
die Ehe kinderlos geblieben ist. Der Kläger, der an der Pflege seiner
Ehefrau intensiv Anteil nimmt, hat ausserhalb seiner Berufstätigkeit im
Krankenheim kaum mehr Zeit für sich. Eine zusätzliche Belastung ergibt sich
daraus, dass Frau X. ihren Zustand wenigstens teilweise realisiert. Die
Beeinträchtigung in den persönlichen Verhältnissen des Klägers ist
so schwer, dass offenbleiben kann, ob und inwiefern sich seine eigene
Krankheit - nach seiner Darstellung leidet er an einer Art Arthritis -
durch die weggefallene Pflege durch seine Ehefrau verschlimmert hat.

    Auch am besonders schweren Verschulden des Schädigers kann kein
Zweifel bestehen, da der Motorradfahrer Frau X. auf dem Fussgängerstreifen
angefahren hat und mit Urteil vom 6. April 1978 vom Einzelrichter für
Strafsachen am Bezirksgericht Zürich wegen fahrlässiger Körperverletzung
zu 14 Tagen Haft und 500 Franken Busse verurteilt worden ist. Überdies
stellt die Beklagte die Schwere des Verschuldens in der Berufungsantwort
nicht in Frage.

    b) Die verlangte Genugtuung wird von der Beklagten der Höhe nach
nicht bestritten. Der Betrag von 40'000 Franken nebst Zins zu 5% seit
dem Umfalldatum ist deshalb zuzusprechen.