Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 16



112 II 16

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. März 1986
i.S. E.L., Y.S. und Vormundschaftskommission der Stadt Bern gegen U.L. und
Regierungsrat des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 68 OG; Art. 315 Abs. 1, 315a Abs. 3, 367 und 405 ZGB.

    1. Die Vormundschaftsbehörde ist zur Nichtigkeitsbeschwerde an
das Bundesgericht nur legitimiert, wenn sie nach kantonalem Recht als
antragstellende Partei und nicht als in erster Instanz verfügende Behörde
aufgetreten ist (E. 1).

    2. Der Vormund darf, auch wenn beiden Eltern durch das Scheidungsurteil
die elterliche Gewalt entzogen wurde, sicher dann die Kinder einem der
Elternteile zur Pflege und Erziehung auf Zusehen hin überlassen, wenn sich
die Verhältnisse bei den Eltern nachträglich in einer Weise geändert haben,
dass der Unterbringung beim Vater oder bei der Mutter in einem Zeitpunkt,
wo sich die Frage der Obhut aus nicht in der Person der Eltern liegenden
Gründen neu stellt, aus der Sicht des Kindeswohls keine schwerwiegenden
Hindernisse entgegenstehen. Die Zustimmung des Scheidungsrichters ist
nicht erforderlich (E. 5).

    3. Im vorliegenden Fall wird durch die Unterbringung der Kinder bei
der Mutter der Vater in seiner rechtlichen Stellung nicht unmittelbar
betroffen (E. 6).

Sachverhalt

    A.- Die beiden Knaben wurden bei der Grossmutter mütterlicherseits
und hernach bei zwei weiteren Verwandten der Mutter untergebracht. Anfang
1984 teilte der Vormund dem Vater L. mit, er beabsichtige, die Söhne
in die Obhut der Mutter zu geben. Hiegegen beschwerte sich L. bei der
Vormundschaftskommission der Stadt Bern, welche die Beschwerde abwies.

    Eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde des L. hiess
der Regierungsstatthalter des Kantons Bern gut, was die Mutter L.,
den Amtsvormund sowie die Vormundschaftskommission der Stadt Bern zur
Beschwerde an den Regierungsrat des Kantons Bern veranlasste. Dieser wies
die Beschwerden am 22. Mai 1985 ab.

    B.- Frau L., der Amtsvormund und die Vormundschaftskommission der Stadt
Bern reichten beim Bundesgericht Nichtigkeitsbeschwerde gegen den Entscheid
des Regierungsrats des Kantons Bern ein. Sie verlangten die Aufhebung des
angefochtenen Entscheides und die Rückweisung der Streitsache zu neuer
Entscheidung an den Regierungsrat.

    Das Bundesgericht trat auf die Nichtigkeitsbeschwerde der
Vormundschaftskommission der Stadt Bern nicht ein, hiess aber die
Nichtigkeitsbeschwerde der Frau L. und des Amtsvormundes gut mit folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die Beschwerdeführer rügen eine falsche Anwendung von Art. 315a
Abs. 3 ZGB in dem Sinne, dass nicht diese Vorschrift anwendbar sei, welche
die vormundschaftlichen Behörden zur Abänderung der vom Richter getroffenen
Kindesschutzmassnahmen ermächtigt, sondern die Zuständigkeitsvorschriften
des Vormundschaftsrechts, aufgrund deren der Vormund gehandelt habe. Damit
wird eine Verletzung der Vorschriften des eidgenössischen Rechts über
die sachliche Zuständigkeit der Behörden gerügt, wofür nach Massgabe
von Art. 68 Abs. 1 lit. b OG die Nichtigkeitsbeschwerde zur Verfügung
steht. Nicht beanstandet werden kann mit der Nichtigkeitsbeschwerde die
Anwendung von Bundeszivilrecht, insofern mehr als die Zuständigkeitsfrage
zum Gegenstand der Beschwerde gemacht wird.

    b) Der Regierungsrat des Kantons Bern spricht der
Vormundschaftskommission der Stadt Bern die Legitimation im
vorliegenden Verfahren ab; denn sie sei nicht als Partei, sondern
als Rechtsmittelinstanz im kantonalen Verfahren in Erscheinung
getreten. Vor dem Regierungsrat sei die Vormundschaftskommission nur
durch die Kostenauflage berührt gewesen und habe in diesem Rahmen
Parteirechte beanspruchen können. Vor Bundesgericht jedoch komme ihr
keine Parteistellung zu.

    In der Tat hat die Vormundschaftskommission der Stadt Bern am 6. April
1984 über eine Beschwerde des Vaters L. entschieden, der sich damit
gegen die Unterbringung seiner Söhne wandte. Die Vormundschaftskommission
hat somit als Beschwerdeinstanz entschieden. In Übereinstimmung mit der
Rechtsprechung (BGE 109 Ib 79, mit Hinweisen), welche die Legitimation
zur Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht nur bejaht, wenn die
Vormundschaftsbehörde nach kantonalem Recht als antragstellende Partei
und nicht als in erster Instanz verfügende Behörde aufgetreten ist, muss
daher im vorliegenden Fall der Vormundschaftskommission der Stadt Bern die
Legitimation versagt bleiben. Daran vermag der Umstand nichts zu ändern,
dass der Frage der Parteistellung der Vormundschaftskommission im Verfahren
vor dem Regierungsrat des Kantons Bern keine besondere Beachtung geschenkt
worden ist. Ebensowenig spielt es eine Rolle, dass ihr in jenem Verfahren
Kosten auferlegt wurden; denn diese Kosten bilden nicht Gegenstand der
Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht.

    Auf die Nichtigkeitsbeschwerde ist demnach insoweit nicht einzutreten,
als sie von der Vormundschaftskommission der Stadt Bern erhoben worden ist.

Erwägung 2

    2.- Der Regierungsrat des Kantons Bern hat sich im angefochtenen
Entscheid die Auffassung des Regierungsstatthalters von Bern zu
eigen gemacht, dass - ungeachtet des nach wie vor gültigen Entzugs
der elterlichen Gewalt - durch die Unterbringung der Knaben bei deren
Mutter die Stellung des Vaters L. unmittelbar berührt werde. Werde aber
der andere Elternteil unmittelbar berührt, so verbiete Art. 315a Abs. 3
ZGB einen Eingriff in die grundsätzliche Zuständigkeit des Zivilrichters
dadurch, dass die vormundschaftlichen Behörden die von jenem getroffenen
Kindesschutzmassnahmen ändern. Der Regierungsrat räumt zwar ein, dass
die Unterbringung der Kinder bei der Mutter nicht schon als solche die
Rechtsstellung des Vaters verändere; denn die Verantwortung für Pflege
und Erziehung liege nach wie vor ausschliesslich beim Vormund, und das
Besuchsrecht des Vaters bleibe ungeschmälert. Indessen sei nicht zu
übersehen, dass wegen des gespannten Verhältnisses zwischen den Eltern
dem Vater die Ausübung des Besuchsrechts faktisch erschwert werde von dem
Augenblick an, wo die Knaben bei der Mutter untergebracht sind. Anderseits
gewinne der Anspruch der Mutter auf persönlichen Verkehr, den der
Scheidungsrichter festgelegt habe, durch den Plazierungsentscheid. Auch
wirke sich die Unterbringung der Kinder bei der Mutter präjudizierend
auf eine allfällige Abänderung des Scheidungsurteils aus. Neben
der erheblichen tatsächlichen Veränderung, hat die Vorinstanz weiter
ausgeführt, beeinflusse die Plazierung der Kinder bei der Mutter deren
rechtliche Stellung hinsichtlich der Vertretungsbefugnis des Vormundes
unmittelbar. Zwar könne nicht generell gesagt werden, die Unterbringung
von Kindern, deren Eltern der Scheidungsrichter die elterliche Gewalt
entzogen hat, bei einem Elternteil berühre die Stellung des anderen
Elternteils. Im vorliegenden Fall aber habe der Regierungsstatthalter
die faktische und rechtliche Stellung des Vaters als unmittelbar berührt
betrachtet und mit sachlich vernünftigen Überlegungen seinen Entscheid
begründet. Er habe die Beschwerde des Vaters gutgeheissen, ohne das Gesetz
zu verletzen oder sein Ermessen zu missbrauchen.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer wenden ein, mit dem angefochtenen
Entscheid übersehe der Regierungsrat des Kantons Bern, dass nicht
die vormundschaftliche Behörde die Unterbringung der Kinder bei ihrer
Mutter angeordnet habe, sondern der Vormund. Damit werde in unzulässiger
Weise ein Sachverhalt unter Art. 315a ZGB subsumiert, werde doch durch
diese Bestimmung die Kompetenz des Richters auf der einen Seite und
der vormundschaftlichen Behörden auf der anderen Seite zum Erlass von
Kindesschutzmassnahmen abgegrenzt. Demgegenüber finde auf die Plazierung,
die der Vormund hier angeordnet habe, Art. 405 ZGB Anwendung, welcher es
dem Vormund zur Pflicht mache, für Unterhalt und Erziehung des unmündigen
Bevormundeten das Angemessene anzuordnen. Unter Vorbehalt der Mitwirkung
der vormundschaftlichen Behörden stünden dem Vormund zu diesem Zwecke
die gleichen Rechte zu wie den Eltern. Doch selbst wenn Art. 315a ZGB
auf den vorliegenden Fall grundsätzlich Anwendung finden sollte, bringen
die Beschwerdeführer sodann vor, könne nicht von einer Abänderung der
durch den Scheidungsrichter getroffenen Kindesschutzmassnahmen gesprochen
werden, durch welche die Stellung des anderen Elternteils unmittelbar
berührt werde.

Erwägung 4

    4.- Die Vorbringen der Beschwerdeführer laufen somit im wesentlichen
darauf hinaus, die Unterbringung der Knaben bei ihrer Mutter, welche
der Vormund veranlasst hat, stelle keine Kindesschutzmassnahme im
Sinne der Art. 307 ff. ZGB - mit der ausschliesslichen Kompetenz der
Vormundschaftsbehörde zu ihrer Anordnung - dar.

    Daran ist soviel richtig, dass in der Unterbringung der Kinder der
Vollzug einer vom Scheidungsrichter angeordneten Kindesschutzmassnahme -
nämlich der Entziehung der elterlichen Gewalt und der dadurch notwendig
gewordenen Bevormundung - zu erblicken ist. So gesehen, findet die
Anordnung des Vormundes ihre Stütze nur mittelbar in Art. 315 Abs. 1
ZGB und unmittelbar in den Art. 367 und 405 ZGB. Die Unterbringung der
Kinder bei einer dafür geeigneten Pflegefamilie wird an sich denn auch
von keiner Seite als eine Kindesschutzmassnahme bezeichnet, durch welche
die vom Richter getroffenen Kindesschutzmassnahmen (im Sinne von Art. 315a
Abs. 3 ZGB) abgeändert würden.

    Es geht somit nicht um einen Konflikt zwischen den vom Richter
angeordneten Kindesschutzmassnahmen und diesen allenfalls widersprechenden
Anordnungen der Vormundschaftsbehörde. Vielmehr spitzt sich die hier
zu beurteilende Streitsache auf die Frage zu, ob beim Vollzug der vom
Richter getroffenen Kindesschutzmassnahmen gewisse Grenzen zu beachten
seien. Eine solche Grenze sieht der Vater darin, dass ihm die Unterbringung
der Knaben bei deren Mutter unzulässig erscheint angesichts der Tatsache,
dass der Scheidungsrichter beiden Elternteilen die elterliche Gewalt
über die Kinder entzogen hat. Sollte der Scheidungsrichter mit seiner
Kindesschutzmassnahme solche Grenzen gesetzt haben und sollten diese vom
Vormund mit Billigung der Vormundschaftsbehörde nicht beachtet worden sein,
so mag sich allerdings die Frage stellen, ob die Anordnung des Vormundes
im Ergebnis einer Abänderung der vom Scheidungsrichter getroffenen
Kindesschutzmassnahme gleichkomme und daher von Art. 315a Abs. 3 ZGB
erfasst werde.

Erwägung 5

    5.- Der Vormund darf, auch wenn beiden Eltern durch das
Scheidungsurteil die elterliche Gewalt entzogen wurde, die Kinder
einem der Elternteile zur Pflege und Erziehung überlassen (Kommentar
BÜHLER/SPÜHLER, N. 196 zu Art. 156 ZGB, mit weiteren Hinweisen). Das
kann allerdings nicht absolut gelten, liegt doch ein gewisser Widerspruch
darin, wenn mit dem Entzug der elterlichen Gewalt die Eltern als unfähig
erklärt werden, die elterlichen Rechte und Pflichten gegenüber den Kindern
richtig auszuüben, und in der Folge diese trotzdem bei einem Elternteil
untergebracht werden (Kommentar HEGNAUER, N. 58 zu aArt. 285 ZGB). Eine
solche Übertragung der Obhut kann deshalb gleichzeitig mit dem Entzug der
elterlichen Gewalt grundsätzlich nur auf Zusehen hin erfolgen, und es ist
dafür Sorge zu tragen, dass das Kindeswohl gewährleistet ist (HEGNAUER,
aaO, N. 57 zu aArt. 285 ZGB). Indessen mag es vorkommen, dass sich die
Verhältnisse bei den Eltern nachträglich in einer Weise geändert haben,
dass der Unterbringung beim Vater oder bei der Mutter in einem Zeitpunkt,
wo - wie hier - sich die Frage der Obhut aus nicht in der Person der
Eltern liegenden Gründen neu stellt, aus der Sicht des Kindeswohls keine
schwerwiegenden Hindernisse entgegenstehen.

    Diese Auffassung scheint auch der Regierungsrat des Kantons Bern
zu teilen. Er ist jedoch der Meinung, die Übertragung der Obhut über
die Kinder bedürfe in jedem Fall der Zustimmung des Scheidungsrichters,
welcher den Entzug der elterlichen Gewalt und die Bevormundung
angeordnet hat. Wie die Materialien zum revidierten Kindesrecht zeigen,
hat aber der Gesetzgeber neben die Befugnisse des Scheidungsrichters
in Art. 315a Abs. 3 ZGB auch jene der vormundschaftlichen Behörden
gestellt, damit Veränderungen der Verhältnisse ohne Komplikationen und
vor allem ohne Zeitaufschub Rechnung getragen werden kann (BBl 1974 II,
S. 86 f.). Dies soll nicht nur in dem vom Gesetzgeber insbesondere ins
Auge gefassten Fall möglich sein, wo zum Schutze des Kindes sofort
(stärkere) vorsorgliche Massnahmen zu ergreifen sind, sondern auch
in einem Fall wie dem vorliegenden, wo die Änderung der Verhältnisse
bei einem Elternteil es rechtfertigen mag, die vom Scheidungsrichter
getroffene Kindesschutzmassnahme zu lockern. Solche Anpassung an die
veränderten Verhältnisse steht nur unter dem Vorbehalt - wie Art. 315a
Abs. 3 ZGB unmissverständlich festhält -, dass dadurch die Stellung des
anderen Elternteils nicht unmittelbar berührt wird.

Erwägung 6

    6.- Nach der Ansicht der Vorinstanz ist nicht daran zu zweifeln,
dass die Übertragung der Obhut auf die Mutter der Kinder die Stellung des
Vaters unmittelbar berührt. Immerhin räumt der Regierungsrat ein, dass die
unmittelbare Betroffenheit des anderen Elternteils nicht in jedem Fall,
wo Kinder beim einen Elternteil untergebracht werden, bejaht werden könne;
vielmehr sei im Einzelfall zu prüfen, welche faktischen und rechtlichen
Wirkungen die Übertragung der Obhut zeitige.

    Der Regierungsrat des Kantons Bern verkennt indessen die Bedeutung
von Art. 315a Abs. 3 ZGB, wenn er die Stellung des anderen Elternteils
schon deshalb als unmittelbar berührt betrachtet, weil das Besuchsrecht
des Vaters gegenüber der geschiedenen Frau möglicherweise nicht mehr
so reibungslos ausgeübt werden kann wie gegenüber Dritten, bei denen die
Kinder untergebracht sind. Viel weniger noch lässt sich die Behauptung, der
andere Elternteil sei unmittelbar berührt, mit dem Vorbringen aufstellen,
die Tatsache der mütterlichen Obhut wirke sich präjudizierend auf ein
späteres Abänderungsurteil aus. Der Gesetzgeber spricht ausdrücklich von
unmittelbaren Auswirkungen auf die Stellung des anderen Elternteils. Das
träfe gewiss zu, wenn - unter Ausschluss des anderen Elternteils - die
elterliche Gewalt des einen Elternteils wiederhergestellt oder wenn das
Besuchsrecht geändert würde (vgl. die Beispiele unmittelbarer Betroffenheit
im Kommentar BÜHLER/SPÜHLER, N. 29 zu Art. 157 ZGB). Im vorliegenden
Fall jedoch, wo es um die Unterbringung der Kinder bei der Mutter geht,
welcher die elterliche Gewalt entzogen worden ist, kann nicht die Rede
davon sein, dass der Vater in seiner rechtlichen Stellung durch diese
Anordnung unmittelbar betroffen wäre.