Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 II 113



112 II 113

22. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. April 1986 i.S.
Thönen gegen Belle und Deaki (Berufung) Regeste

    Art. 924 Abs. 1 ZGB.

    Der Richter, dem eine Sache zu Beweiszwecken überlassen wird, hat nicht
die Stellung eines Besitzdieners für den mittelbaren Besitzer. Aber auch
unselbständiger Besitz im Sinne von Art. 924 Abs. 1 ZGB kommt dem Richter
an der Sache nicht zu. Eine Besitzanweisung ist daher ausgeschlossen.

Sachverhalt

    A.- Am 9. Februar 1979 betrieben Joseph Belle und Zoltan Deaki Karl
Thönen mit Zahlungsbefehl Nr. 73 395 des Betreibungsamtes Arlesheim
auf Verwertung eines Inhaberschuldbriefs für eine Forderung von
Fr. 260'000.-- nebst 5% Zins seit dem 1. Januar 1977. Der Betriebene erhob
Rechtsvorschlag, worauf die beiden Gläubiger beim Gerichtspräsidenten
von Arlesheim um die provisorische Rechtsöffnung nachsuchten. Im
Verlaufe dieses Verfahrens reichten sie dem Rechtsöffnungsrichter den
Inhaberschuldbrief ein, der ihnen in einem Herausgabeverfahren mit
rechtskräftigem Urteil vom 16. Mai 1983 des Zivilgerichts Basel-Stadt
zugesprochen und am 8. August 1983 durch Verfügung des Gerichtspräsidenten
von Arlesheim im Rahmen eines Hinterlegungsverfahrens ausgehändigt worden
war. Mit Urteil vom 27. Oktober 1983 ist den Gläubigern die provisorische
Rechtsöffnung erteilt worden.

    B.- Am 9. November 1983 reichte Karl Thönen beim Bezirksgericht
Arlesheim gegen Belle und Deaki Aberkennungsklage ein. In seiner
spätern Klagebegründung machte er geltend, die Beklagten seien an der
Forderung nicht mehr berechtigt, weil sie den Inhaberschuldbrief am 18.
November 1983 an die Immoorp AG in Stansstad veräussert hätten. Von
dieser Handänderung habe die Immoorp AG dem Bezirksgericht Arlesheim am
23. Dezember 1983 Kenntnis gegeben. Das Bezirksgericht wies die Klage
mit Urteil vom 5. Dezember 1984 ab.

    Dieses Urteil zog der Kläger an das Obergericht des Kantons
Basel-Landschaft weiter. Die Appellation wurde am 15. Oktober 1985
abgewiesen.

    C.- Der Kläger erhebt Berufung an das Bundesgericht mit dem Antrag,
das obergerichtliche Urteil vom 15. Oktober 1985 sei aufzuheben und die
Aberkennungsklage sei gutzuheissen.

    Die Beklagten beantragen die Abweisung der Berufung, eventuell die
Rückweisung der Sache zur Aktenergänzung und zu neuer Entscheidung an
die Vorinstanz.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab und bestätigt das angefochtene
Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht ist davon ausgegangen, dass die Übertragung des
Besitzes am Pfandtitel auf die Immoorp AG nur als Besitzanweisung im
Sinne von Art. 924 Abs. 1 ZGB habe vorgenommen werden können. Bei der
Besitzanweisung könne die körperliche Sachübergabe unterbleiben, weil der
Dritte, der die Sache aufgrund eines besondern Rechtsverhältnisses als
unselbständiger und meistens unmittelbarer Besitzer innehabe, sie auch für
den neuen mittelbaren Besitzer gestützt auf ein besonderes Rechtsverhältnis
weiterhin unselbständig besitze. Nun habe aber der Rechtsöffnungsrichter,
dem der Pfandtitel zu Beweiszwecken übergeben worden sei, zwar den
Gewahrsam, aber keinen Besitz erworben. Er sei nicht unmittelbarer und
unselbständiger Besitzer für die eine Partei im Rechtsstreit. Dem Richter
könne vielmehr nur die Stellung eines Besitzdieners zukommen. Damit sei
aber eine Besitzanweisung ausgeschlossen. Doch selbst wenn der Richter als
unselbständiger Besitzer bezeichnet werden müsste, so würde dies dem Kläger
nicht helfen. Begründung und Beendigung des unselbständigen Besitzes des
Richters für die eine Streitpartei müssten ausschliesslich auf hoheitlicher
Grundlage beruhen. Eine Besitzanweisung sei daher nur denkbar, wenn eine
entsprechend hoheitliche Anordnung getroffen werde. Eine solche Erklärung
bzw. Anordnung des Gerichts sei aber im vorliegenden Fall nie erfolgt.

Erwägung 4

    4.- Gegen diese Betrachtungsweise wendet der Kläger ein, die Vorinstanz
verletze Art. 924 Abs. 1 ZGB, indem sie zu hohe Anforderungen an den Besitz
des Dritten stelle, wenn sie nicht jede tatsächliche Innehabung der auf den
Erwerber zu übertragenden Sache als Grundlage dieses Besitzes anerkenne.
Der Besitz sei weder eine Tatsache noch ein Recht, sondern eine durch
unterschiedliche praktische Bedürfnisse bestimmte Rechtslage. Es sei nicht
einzusehen, weshalb bei der Besitzübertragung durch Besitzanweisung nicht
auf die Innehabung der zu übertragenden Sache allein abzustellen sei. Nach
Auffassung des Klägers sollte demnach der blosse Gewahrsam des Dritten
über die Sache genügen, um im Zusammenhang mit der Besitzanweisung nach
Art. 924 Abs. 1 ZGB von unmittelbarem Besitz sprechen zu können.

    Damit übt der Kläger aber nicht nur Kritik an den vorinstanzlichen
Ausführungen, sondern auch an der herrschenden Lehre, die den blossen
Gewahrsam des Besitzdieners nicht als ausreichende Grundlage anerkennt,
um den Besitz des Besitzherrn auf einen neuen mittelbaren Besitzer zu
übertragen (STARK, N. 12 zu Art. 924 ZGB mit Hinweisen). Indessen wird die
Ausübung der unmittelbaren Sachherrschaft durch den Besitzdiener mit Recht
nicht als für eine Besitzanweisung genügend betrachtet. Der Besitzdiener
steht in einem besondern Abhängigkeitsverhältnis zum mittelbaren Besitzer,
der seinen Besitz nur mit Hilfe des ersteren ausüben kann (BGE 58 II 375
und 80 II 238; HINDERLING, Der Besitz, in Schweiz. Privatrecht, Bd. V/1,
S. 421 ff.). Mit der Übertragung dieses mittelbaren Besitzes auf einen
Erwerber der Sache tritt der Besitzdiener aber nicht ohne weiteres in eine
ähnliche Abhängigkeit zum neuen mittelbaren Besitzer wie zum Veräusserer,
so dass auch vom Erwerber gesagt werden könnte, er übe seinen Besitz
mit Hilfe des Besitzdieners aus. Insofern ist der Vorinstanz, welche
in ihren Ausführungen auf STARK, N. 12 zu Art. 924 ZGB, verwiesen hat,
beizupflichten.

    Entgegen der Auffassung des Klägers kann somit der Vorinstanz nicht
vorgeworfen werden, sie habe Bundesrecht verletzt, weil sie die Möglichkeit
der Besitzanweisung gegenüber dem Besitzdiener verneint habe. Indessen
bestehen begründete Zweifel, ob der Richter, dem eine Sache im Rahmen
eines Rechtsstreits zu Beweiszwecken überlassen wird, als Besitzdiener
bezeichnet werden könne. Von einer Weisungsbefugnis, die dem mittelbaren
Besitzer gegenüber dem Besitzdiener zukommt, kann im Verhältnis der
Streitpartei zum Richter nicht die Rede sein. Bei den Beweismitteln, die
dem Gericht eingereicht werden, steht die Sachherrschaft des Richters
als solche keineswegs im Vordergrund, sondern es geht vielmehr um die
Ermöglichung der Beweisführung mit der dem Richter oft nicht freiwillig
überlassenen Sache. Entscheidend bleibt somit allein, ob die durch das
Zivilprozessrecht oder das materielle Recht begründete Rechtslage genügt,
um den Richter, nachdem keine Besitzdienerschaft angenommen werden kann,
als unselbständigen Besitzer der Beweisstücke im Sinne von Art. 924 Abs.
1 ZGB in Erscheinung treten zu lassen, der diese Stellung gestützt auf eine
Besitzanweisung auch dem neuen mittelbaren Besitzer gegenüber einnimmt.

Erwägung 5

    5.- Dass auch weisungsungebundene Behörden ungeachtet ihrer
hoheitlichen Stellung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben als unselbständige
Besitzer im Sinne von Art. 924 Abs. 1 ZGB auftreten können, ergibt sich aus
der Lehre und der Rechtsprechung (STARK, N. 69 zu Art. 920 ZGB). Indessen
sind sich Rechtsprechung und Lehre nicht darüber einig, wann im konkreten
Fall unselbständiger Besitz einer Behörde angenommen werden kann. Das
Bundesgericht hat in BGE 52 II 52 aufgrund einer in einer Strafuntersuchung
lediglich vorsorglich erlassenen Beschlagnahme-Verfügung den Behörden
keinen unselbständigen Besitz zugesprochen, der die Eigentumsvermutung
zugunsten des bisherigen Besitzers bzw. die bisherigen zivilrechtlichen
Besitzesverhältnisse umzustossen vermöchte (gleicher Meinung HOMBERGER,
N. 4 zu Art. 921 ZGB; anderer Meinung STARK, N. 69 zu Art. 920 ZGB). In
BGE 47 II 269 f. hat das Bundesgericht dagegen dem Gerichtsschreiber, der
eine bei ihm hinterlegte Geldsumme in Verwahrung nahm, unselbständigen
Besitz an dieser zuerkannt (zustimmend STARK, N. 69 zu Art. 920 ZGB),
der die Passivlegitimation gegenüber dem Herausgabeanspruch des früheren
Besitzers begründete.

    Auch wenn die Umschreibung des unselbständigen Besitzes in
Rechtsprechung und Lehre Schwierigkeiten bereitet und im konkreten Fall
nicht immer Übereinstimmung zu erzielen ist, so sind sich Doktrin und
Praxis immerhin darin einig, dass sich die Bejahung des unselbständigen
Besitzes nach den in Frage stehenden Rechtsfolgen richtet. Bei der
Besitzanweisung gilt es somit zu beachten, dass der unselbständige Besitz
nicht länger für den bisherigen mittelbaren Besitzer ausgeübt werden soll,
sondern für einen neuen mittelbaren Besitzer. Geht es hingegen um eine
Beweiseingabe in einem vor dem Richter auszutragenden Rechtsstreit, so
ist nicht zu übersehen, dass der Richter zum Beweisstück nicht in eine so
intensive Beziehung tritt, wie dies bei der Hinterlegung oder der amtlichen
Beschlagnahme einer Sache der Fall wäre. Diese Beziehung bleibt ungeachtet
der vom bisherigen mittelbaren Besitzer gewünschten Besitzübertragung
weiterhin auf das Verhältnis der einen Streitpartei zum Richter beschränkt
und berührt den neuen mittelbaren Besitzer, der auf dieses Verhältnis
auch keinen Einfluss auszuüben vermag, in keiner Weise. Der Frage, ob
Sachherrschaft kraft hoheitlicher Aufgabenerfüllung nur dann zu einer
privatrechtlichen Besitzanweisung Anlass geben könne, wenn die Behörde
eine zustimmende Erklärung abgegeben habe, die von der Vorinstanz bejaht,
in der Lehre jedoch unterschiedlich beantwortet worden ist (HOMBERGER,
N. 3 zu Art. 924 ZGB, und STARK, N. 14 zu Art. 924 ZGB), kommt demnach
für den vorliegenden Fall keine entscheidende Bedeutung zu. Der Vorinstanz
ist vielmehr aus den angeführten Gründen keine Verletzung von Bundesrecht
vorzuwerfen, weil sie einen hinreichenden unselbständigen Besitz des
Richters im Sinne von Art. 924 Abs. 1 ZGB an dem zu Beweiszwecken von
den Beklagten eingereichten Inhaberschuldbrief verneint hat. Die Berufung
erweist sich damit als offensichtlich unbegründet.