Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IB 235



112 Ib 235

39. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 19.
September 1986 i.S. X. gegen Gemeinde Y. und Regierungsrat des Kantons
Thurgau (Verwaltungsgerichtsbeschwerde und staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Welches bundesrechtliche Rechtsmittel ist gegen einen
letztinstanzlichen kantonalen Entscheid gegeben, der die Auferlegung
von Erschliessungsbeiträgen für eine Kanalisation oder die Aufhebung
einer früher bewilligten Stundung solcher Beiträge zum Gegenstand hat
(Art. 84 ff., Art. 97 ff. OG)?

    Die Auferlegung von Erschliessungsbeiträgen für eine Kanalisation und
die Bewilligung oder Aufhebung einer Stundung solcher Beitragsleistungen
stützen sich nicht auf öffentliches Recht des Bundes. Insbesondere
stellen die Bestimmungen des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes
vom 4. Oktober 1974 (SR 843) keine genügende gesetzliche Grundlage
für die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen dar. Ein entsprechender
letztinstanzlicher kantonaler Entscheid kann daher nicht mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, sondern nur mit staatsrechtlicher Beschwerde
angefochten werden (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- X. ist Eigentümer eines Grundstückes in der Gemeinde Y., das
sich in der Wohn- und Gewerbezone befindet, aber landwirtschaftlich
genutzt wird. Im Jahre 1976 belastete ihn die Gemeinde Y. mit einem
Perimeterbeitrag für eine Kanalisation, der jedoch gemäss einem Schreiben
vom 31. Dezember 1976 bis zu einer allfälligen Handänderung oder Überbauung
des Grundstückes gestundet wurde.

    Im Jahre 1985 hob die Gemeinde Y. unter Hinweis auf das neue Baugesetz
des Kantons Thurgau vom 28. April 1977 und auf die neue Beitrags- und
Gebührenordnung zur Finanzierung der öffentlichen Erschliessungswerke
der Gemeinde Y. vom 4. Oktober/29. November 1982 die Stundung
auf. Der Regierungsrat des Kantons Thurgau wies eine von X. gegen
den Gemeindebeschluss erhobene Beschwerde ab. Gegen den Entscheid des
Regierungsrates des Kantons Thurgau führt X. Verwaltungsgerichtsbeschwerde
und staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht tritt auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht ein aus den folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 97 Abs. 1 OG beurteilt das Bundesgericht
letztinstanzlich Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im
Sinne von Art. 5 VwVG, die von einer der in Art. 98 OG aufgeführten
Vorinstanzen ausgehen und die unter keine der Ausnahmebestimmungen
der Art. 99 bis 102 OG fallen. Als Verfügungen gelten Anordnungen der
Behörden im Einzelfall, die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen
(Art. 5 Abs. 1 VwVG) oder hätten stützen sollen (BGE 110 Ia 68 E. 2; 110
Ib 257 E. 1, je mit weiteren Nachweisen). Verfügungen, die richtigerweise
sowohl auf kantonales bzw. kommunales als auch auf Bundesrecht hätten
abgestützt werden sollen, können dementsprechend, soweit eine Verletzung
von Bundesrecht in Frage steht, mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
angefochten werden (BGE 108 Ib 74 E. 1a, mit Nachweisen). Dabei kann
mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde jede Verletzung von Bundesrecht gerügt
werden, einschliesslich der Rüge der Verletzung von Bundesverfassungsrecht,
soweit diese eine Angelegenheit betrifft, die in die Sachzuständigkeit
der eidgenössischen Verwaltungsrechtspflegeinstanz fällt (BGE 108 Ib 74
E. 1a; 104 Ib 120/1 E. 1, mit weiteren Nachweisen).

    Der Regierungsrat des Kantons Thurgau setzt sich im angefochtenen
Entscheid, der einen Perimeterbeitrag für eine Kanalisation zum Gegenstand
hat, nur mit kantonalem und kommunalem Recht auseinander. In diesem Bereich
bestehen indessen auch öffentlichrechtliche Vorschriften des Bundes, die
allenfalls die Zuständigkeit des Bundesgerichts als Verwaltungsgericht
begründen könnten.

    b) Auf das Gewässerschutzrecht des Bundes könnte sich der angefochtene
Entscheid nicht stützen. Da Art. 17 Abs. 4 des Gewässerschutzgesetzes
vom 8. Oktober 1971 (SR 814.20; GSchG) die Art und Weise der Finanzierung
von Abwasseranlagen nicht regelt, ist gegen die Anwendung kantonalen und
kommunalen Rechts in diesem Bereich im allgemeinen die staatsrechtliche
Beschwerde gegeben (vgl. dazu ausführlich BGE 109 Ib 142 ff.).

    c) Der angefochtene Entscheid wäre aber mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde anfechtbar, wenn er statt auf
kantonalem oder kommunalem Recht richtigerweise auf dem Wohnbau- und
Eigentumsförderungsgesetz des Bundes vom 4. Oktober 1974 (SR 843; WEG)
beruhen müsste. Dessen Art. 6 enthält verschiedene Bestimmungen über
die Erschliessungsbeiträge. So erheben gemäss Art. 6 Abs. 1 WEG die nach
kantonalem Recht zuständigen öffentlichrechtlichen Körperschaften von den
Grundeigentümern angemessene Beiträge an die Kosten der Groberschliessung;
die Beiträge werden kurz nach Fertigstellung der Anlagen fällig. Die
Kosten der Feinerschliessung sind ganz oder zum überwiegenden Teil den
Grundeigentümern zu überbinden (Art. 6 Abs. 2 WEG). Der Bundesrat ist
verpflichtet, Rahmenbestimmungen, insbesondere über Höhe und Fälligkeit
der Beitragsleistungen, zu erlassen (Art. 6 Abs. 3 WEG), hat dies aber
bis jetzt unterlassen.

    In BGE 108 Ib 71 ff. hat das Bundesgericht erklärt, die
Kostenverteilung beim Bau von Erschliessungsanlagen werde sowohl durch
Bundesrecht als auch durch kantonales bzw. kommunales Recht geregelt. Für
die für den Wohnungsbau bestimmten Bauzonen (Art. 5 Abs. 1 WEG) sei die
Regelung der Kostenverteilung im Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz
aber unmittelbar anwendbares Bundesrecht, das damit unvereinbares
kantonales Recht verdränge. Die Bestimmungen würden den Rahmen festlegen,
innert welchem die Kosten der Erschliessungsanlagen auf die Grundeigentümer
abzuwälzen seien; dem kantonalen bzw. kommunalen Recht könne in diesem
Bereich nur noch die Aufgabe der Feinregulierung der effektiv zu
erhebenden Kosten zukommen (BGE 108 Ib 76). Dementsprechend behandelte
das Bundesgericht eine als staatsrechtliche Beschwerde bezeichnete
Eingabe gegen ein Urteil des Obwaldner Verwaltungsgerichts, das die
Kostenverteilung einer Kanalisationsanlage in Alpnach zum Gegenstand hatte,
als Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Dieses Urteil ist nicht ohne Kritik geblieben (GYGI, Die
verwaltungsrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichtes im Jahre 1982,
ZBJV 120/1984 S. 418; RUCH, Bemerkung zum Urteil vom 29. März 1985,
ZBl 87/1986 S. 117). GYGI macht geltend, Art. 6 WEG stelle keine
genügende gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Beiträgen dar. Die
Beitragspflicht der Grundeigentümer werde erst durch entsprechendes
kantonales oder kommunales Recht begründet, und die zu ihrer Festlegung
im Einzelfall dienende Verfügung regle ein kantonales Rechtsverhältnis,
ergehe also nicht gestützt auf öffentliches Recht des Bundes. Auch
RUCH weist darauf hin, dass die von den Kantonen und Gemeinden
vorzunehmenden Regelungen nicht bloss der "Feinregulierung" dienten,
sondern eigenständiges kantonales oder kommunales Recht seien.

    Das Bundesgericht selbst hat in seinem Urteil vom 29. März 1985 i.S.
Einwohnergemeinde Frick gegen Sch. (ZBl 87/1986 S. 114 ff.) BGE 108
Ib 71 ff. in Zweifel gezogen. Es hat dabei insbesondere erkannt, dass
Art. 6 WEG ohne Ausführungserlasse entweder des Bundes oder der Kantone
bzw. der Gemeinden nicht ohne weiteres anwendbar sei (aaO E. 3, S. 115/6).

    d) An der Rechtsprechung von BGE 108 Ib 71 ff. kann bei erneuter
Prüfung nicht festgehalten werden. Es trifft in der Tat zu, dass die
Bestimmungen des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes keine genügende
gesetzliche Grundlage für die Erhebung von Erschliessungsbeiträgen
darstellen. Art. 6 WEG setzt nur den Rahmen und die Grundsätze fest, nach
denen das kantonale Recht über die Finanzierung der Erschliessungen
durch Kausalabgaben auszugestalten ist. Offenbleiben kann zur
Zeit, ob der Bundesrat durch eine auf Art. 6 Abs. 3 WEG gestützte
Verordnung die notwendige gesetzliche Grundlage für die Erhebung der
Erschliessungsbeiträge schaffen könnte oder ob ihn diese Bestimmung
nur ermächtigt, genauere Richtlinien für eine durch kantonale Gesetze
zu ordnende Abgabe aufzustellen. Vorderhand kann die Erhebung von
Erschliessungsbeiträgen auf jeden Fall nur auf kantonales Recht
gestützt werden (gl. M. CLAVADETSCHER, Erschliessungspflicht und
Erschliessungsanspruch in der Bauzone insbesondere nach bündnerischem
Recht, Diss. Bern 1982, S. 205; weniger eindeutig STÜDELI, Bericht
über Grundeigentümerbeiträge und Gebühren an Erschliessungsanlagen, S.
25, sowie SCHÜRMANN, Bau- und Planungsrecht, 2. Aufl., S. 95/6). Dem
entsprechenden kantonalen Recht kommt daher nicht bloss die Aufgabe der
Feinregulierung der zu erhebenden Abgaben zu (a. M. SCHÜRMANN, aaO, 2.
Aufl., S. 91); es hat vielmehr eigenständige Bedeutung. Verfügungen,
die die Überbindung von Erschliessungsbeiträgen auf Grundeigentümer
zum Gegenstand haben, stützen sich daher ebenso wie Entscheide, die die
Verteilung der Erschliessungskosten unter den beteiligten Grundeigentümern
regeln (vgl. dazu bereits das nicht publizierte Urteil vom 20. Dezember
1983 i.S. M. gegen Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh., E. 1),
auf kantonales Recht und nicht auf öffentliches Recht des Bundes.

    e) Die Auffassung, es sei Aufgabe des kantonalen Rechts, die Erhebung
von Erschliessungsbeiträgen zu regeln, scheint im übrigen auch von den
politischen Instanzen geteilt zu werden. Schon in den parlamentarischen
Beratungen zum Gewässerschutzgesetz war unbestritten, dass der Bund nicht
befugt sei, über das Beitrags- und Gebührenwesen zu legiferieren (vgl. dazu
ausführlich BGE 109 Ib 145, mit Nachweisen). Sodann sieht Art. 19 Abs. 2
des ca. fünf Jahre nach dem Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz in Kraft
getretenen Raumplanungsgesetzes (SR 700; RPG) ausdrücklich vor, dass das
kantonale Recht die Beiträge der Grundeigentümer an Erschliessungsprojekte
in Bauzonen zu regeln habe. Dies entspricht der angestrebten neuen
Aufgabenverteilung zwischen Bund und Kantonen. Folgerichtig wurde in der
"Botschaft über erste Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen
Bund und Kantonen" vom 28. September 1981 die ersatzlose Aufhebung
der Vorschriften des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes über die
Erschliessung beantragt (BBl 1981 III S. 813). Dass der Nationalrat im
Gegensatz zum Ständerat auf die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen
des Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes nicht eintrat und die
Vorlage demgemäss von der (parlamentarischen) Geschäftsliste gestrichen
wurde (vgl. Art. 21 Abs. 1 GVG sowie Amtl. Bull. NR 1984 II S. 1257),
ändert daran nichts, führten doch vor allem sozialpolitische Überlegungen
(Wohnbausubventionierung) zu diesem Beschluss (vgl. dazu ausführlich
Amtl. Bull. NR 1984 I S. 116 ff.).

    f) Der Entscheid des Thurgauer Regierungsrates vom 15. Oktober 1985
befasst sich nur mit der Frage, ob die Ortsvorsteherschaft Y. die dem
Beschwerdeführer im Jahre 1976 gewährte Stundung der Erschliessungsbeiträge
zu Recht aufgehoben hat oder nicht. Ist schon die Frage, ob und in welchem
Umfang die Parzelle des Beschwerdeführers mit Perimeterbeiträgen zu
belasten ist, nach kantonalem Recht zu beurteilen (vgl. oben E. 2b-e),
so stützt sich der Entscheid über die Beitragsstundung oder über die
Aufhebung der früher bewilligten Stundung erst recht auf kantonales
Recht. Der angefochtene Entscheid beruht demnach nicht auf öffentlichem
Recht des Bundes. Er kann nicht mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde
gemäss Art. 97 ff. OG i.V.m. Art. 5 VwVG angefochten werden. Auf die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nicht eingetreten werden.