Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 85



112 Ia 85

14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
17. Mai 1986 i.S. H. gegen Staatsanwaltschaft und Kantonsgericht des
Kantons Schaffhausen (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV, Art. 86 Abs. 2 und 3 OG; Zeitpunkt der Einreichung
einer Beschwerde wegen Verletzung der Garantie des verfassungsmässigen
Richters.

    Die Regelung gemäss Art. 86 Abs. 2 und 3 OG bedeutet nicht, dass in
jedem beliebigen Zeitpunkt des Verfahrens Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 58 BV geführt werden kann.

Sachverhalt

    A.- H. hatte in einem Strafprozess, der gegen ihn vom 23.
September bis zum 22. November 1985 vor dem Kantonsgericht Schaffhausen
stattfand, zu Beginn der Hauptverhandlung ein Ablehnungsbegehren gegen
den Gerichtspräsidenten und in der Folge ein solches gegen alle in jenem
Prozess amtierenden Richter gestellt. Das Gericht wies diese Begehren
mit Beschlüssen vom 23. und 27. September 1985 ab. Am 22. November 1985
fällte es das Strafurteil. H. legte dagegen Berufung beim Obergericht
des Kantons Schaffhausen ein. Ausserdem erhob er gegen das Strafurteil
staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, es sei dieses Urteil
aufzuheben und die Sache zu neuer Durchführung der Hauptverhandlung an das
Kantonsgericht zurückzuweisen. Er macht geltend, der Gerichtspräsident,
der das Verfahren vor Kantonsgericht geleitet habe, sei befangen gewesen,
so dass seine Mitwirkung eine Verletzung von Art. 58 Abs. 1 BV und Art. 6
Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bedeute.

    Das Bundesgericht tritt nicht auf die Beschwerde ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Ob auf die vorliegende Beschwerde eingetreten werden kann, ist aufgrund
von Art. 86 Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes über die Organisation der
Bundesrechtspflege vom 16. Dezember 1943 (OG) zu beurteilen. Demnach
sind grundsätzlich Beschwerden wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch
gemacht worden ist. Ausgenommen hievon sind bestimmte Beschwerden, zu
denen diejenige wegen Verletzung der Garantie des verfassungsmässigen
Richters im Sinne von Art. 58 BV gehört. Dasselbe gilt für die materiell
identische Rüge nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK (BGE 102 Ia 199 ff., 101 Ia
69). Auch in diesen Fällen steht es dem Beschwerdeführer jedoch frei,
zunächst die kantonalen Rechtsmittel einzusetzen.

    Wenn das OG dem Betroffenen in den Fällen gemäss Art. 86 Abs. 2
(zweiter Satzteil) das Recht einräumt, direkt an das Bundesgericht zu
gelangen, ohne vorgängig den kantonalen Instanzenzug auszuschöpfen,
so bedeutet dies nicht, dass in jedem beliebigen Zeitpunkt Beschwerde
geführt werden kann. Vielmehr bleibt es bei der allgemeinen Regel,
wonach die Beschwerde binnen dreissig Tagen, von der nach dem kantonalen
Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung des Entscheides an
gerechnet, erhoben werden muss. Mit einer Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 58 BV kann der Betroffene innert dieser Frist entweder gleich
den erstinstanzlichen oder aber erst den letztinstanzlichen Entscheid
über die Ausstandsfrage beim Bundesgericht anfechten. Im hier zu
beurteilenden Fall hat der Beschwerdeführer innerhalb der genannten
Frist eine Beschwerde gestützt auf Art. 58 BV im Anschluss an die
mündliche Eröffnung des erstinstanzlichen Strafurteils vom 22. November
1985 eingereicht. Mit diesem Endentscheid wurde indessen nicht über die
Ausstandsfrage befunden. Die Ablehnungsbegehren des Beschwerdeführers
sind vom Kantonsgericht bereits wesentlich früher beurteilt worden: das
erste, das sich nur gegen den Präsidenten Dr. Pfister richtete, von den
übrigen Mitgliedern des Strafgerichts am 23. September 1985, das zweite,
das alle im hängigen Verfahren amtierenden Richter betraf, von einer mit
andern Richtern besetzten Kammer am 27. September 1985. Diese Beschlüsse
werden denn auch in der staatsrechtlichen Beschwerde erwähnt. Den
kantonalen Akten ist zu entnehmen, dass der Beschluss vom 23. September
1985 mündlich eröffnet und derjenige vom 27. September 1985 schriftlich
mitgeteilt wurden. Es wäre dem Beschwerdeführer somit ohne weiteres
möglich gewesen, die Ausstandsfrage innert dreissig Tagen von der Eröffnung
bzw. Mitteilung der genannten Beschlüsse an gerechnet mit staatsrechtlicher
Beschwerde dem Bundesgericht zu unterbreiten. Dieses hat in einem Urteil
vom 1. Februar 1943 (BGE 69 I 16/17) erklärt, es liesse sich mit der
Prozessökonomie nicht vereinbaren und wäre stossend, wenn eine Partei mit
der staatsrechtlichen Beschwerde gegen einen Ablehnungsentscheid bis zum
Endentscheid zuwarten könnte, und es ist demgemäss wegen Verspätung auf
eine Beschwerde dieser Art nicht eingetreten. Zwar erging dieses Urteil
noch unter der Herrschaft des alten, bis 31. Dezember 1944 massgebenden
Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege vom 22. März
1893. Es ist jedoch nicht einzusehen, weshalb der darin zum Ausdruck
kommende Grundgedanke nicht auch unter dem seit 1. Januar 1945 geltenden
OG vom 16. Dezember 1943 Gültigkeit haben sollte. Eine Einschränkung muss
allerdings insoweit gelten, als Art. 86 Abs. 3 OG dem Beschwerdeführer
ausdrücklich das Recht einräumt, statt direkt ans Bundesgericht zu
gelangen zunächst den kantonalen Rechtsmittelweg zu beschreiten. Er kann
sogar beide Rechtsbehelfe nebeneinander ergreifen, in welchem Falle das
Bundesgericht nach Erwägungen der Zweckmässigkeit darüber befindet, ob
es die bei ihm erhobene Beschwerde sofort behandeln oder das Verfahren
bis zur Erledigung des kantonalen Rechtsmittels sistieren will (BGE 101
Ia 68 E. 2a, 83 I 105 E. 1b, 82 I 83). Ein solches Vorgehen des Gerichts
setzt indes immer voraus, dass beide Rechtsbehelfe rechtzeitig erhoben
worden sind, was hier nach dem Gesagten hinsichtlich der direkt beim
Bundesgericht eingereichten Beschwerde nicht zutrifft. Die Regelung
gemäss Art. 86 Abs. 3 OG hat in Fällen dieser Art lediglich zur Folge,
dass auf die direkt gegen den Entscheid der unteren Instanz erhobene
Beschwerde wegen Verspätung nicht eingetreten wird; einer nochmaligen
Anrufung des Bundesgerichts nach Behandlung des zulässigen kantonalen
Rechtsmittels (hier: Berufung; Art. 234 ff. in Verbindung mit Art. 26
der Strafprozessordnung des Kantons Schaffhausen) steht dagegen nichts
im Wege. Anders entscheiden hiesse, dass auch nach der Behandlung
eines Ablehnungsbegehrens durch die kantonale Behörde jeder beliebige
von einem abgelehnten Richter gefällte oder unter seiner Mitwirkung
zustande gekommene Entscheid innert dreissig Tagen mit staatsrechtlicher
Beschwerde an das Bundesgericht weitergezogen werden könnte, ein Ergebnis,
das mit den Anforderungen der Prozessökonomie in Widerspruch stünde und
vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann. Schliesslich ist zu bemerken,
dass der Rechtsschutz des Beschwerdeführers durch das Nichteintreten auf
die im Anschluss an das erstinstanzliche Strafurteil erhobene Beschwerde
materiell nicht geschmälert wird: der abgelehnte Richter wird im hängigen
Strafprozess - vorbehältlich eines allfälligen Rückweisungsurteils
des Obergerichts - nichts mehr vorzukehren haben, und das Urteil des
Obergerichts wäre mit allen Rügen, die nicht nur eine Verletzung von
Art. 4 BV zum Gegenstand haben, auch dann beim Bundesgericht anfechtbar,
wenn es keinen Endentscheid darstellen sollte.