Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 7



112 Ia 7

3. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Januar 1986 i.S. M.
gegen Regierungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Pflichten des Vormundes (Art. 405 ff. ZGB); unentgeltliche Rechtspflege
(Art. 4 BV).

    Von einem als Juristen ausgebildeten Vormund kann nicht erwartet
werden, dass er über die Wahrung der persönlichen und vermögensrechtlichen
Interessen des Mündels hinaus in einem Scheidungsverfahren als Rechtsanwalt
des Mündels tätig werde, wenn er diesen Beruf nicht praktiziert. Sofern
die Voraussetzungen hiefür erfüllt sind, hat sein Mündel Anspruch auf
unentgeltliche Rechtspflege, welche die Bestellung eines Rechtsanwalts
als unentgeltlichen Rechtsbeistand mitumfasst.

Sachverhalt

    A.- M. steht unter Vormundschaft. Zu seinem Vormund ist lic.  oec. HSG
und lic. iur. V. ernannt worden. Seit Anfang März 1984 befindet sich
M. in Untersuchungshaft.

    Die Ehefrau von M. reichte am 15. Mai 1985 beim Bezirksgericht
St. Gallen die Ehescheidungsklage ein. Zur Führung dieses Prozesses wurde
ihr durch das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen am
22. Mai 1985 die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und damit auch ein
Rechtsanwalt als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt.

    Am 4. Juni 1985 ersuchte auch der Ehemann beim Justiz-
und Polizeidepartement des Kantons St. Gallen um unentgeltliche
Rechtspflege. Während ihm diese im Sinne der Befreiung von den
Verfahrenskosten bewilligt wurde, lehnte das Justiz- und Polizeidepartement
die unentgeltliche Rechtsverbeiständung mit der Begründung ab, M. sei
bevormundet und sein Vormund verfüge über die nötigen rechtlichen
Kenntnisse, um ihn im Scheidungsverfahren zu vertreten.

    Ein Wiedererwägungsgesuch wurde durch Verfügung des Justiz- und
Polizeidepartements vom 17. Juli 1985 abgewiesen, was den Vormund zum
Rekurs an den Regierungsrat des Kantons St. Gallen veranlasste. Dieser
Rekurs des durch den Vormund vertretenen M. wurde vom Regierungsrat am
24. September 1985 abgewiesen.

    B.- Mit Eingabe vom 30. Oktober 1985 erhob M., vertreten durch seinen
Vormund, staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss des Regierungsrats
des Kantons St. Gallen vom 24. September 1985, indem er eine Verletzung
von Art. 4 BV geltend machte.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer stützt seinen Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung ausschliesslich auf Art. 4 BV. Nach ständiger
Rechtsprechung des Bundesgerichts hat eine bedürftige Person in einem
für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess unmittelbar aufgrund dieser
Verfassungsbestimmung Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und
auf Ernennung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sofern sie eines
solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Interessen bedarf. Ob dieser Anspruch
verletzt sei, prüft das Bundesgericht frei (BGE 110 Ia 27 E. 2 und 88 E. 4,
mit Hinweisen).

    a) Im vorliegenden Fall stellt sich allein die Frage, ob die
verlangte Rechtsverbeiständung entbehrlich sei, weil der Vormund des
Beschwerdeführers eine rechtskundige Person ist. Der Regierungsrat des
Kantons St. Gallen hat dies bejaht. Er hat im angefochtenen Beschluss
ausgeführt, die Frage der Kinderzuteilung entfalle im Scheidungsprozess
der Eheleute M. und die güterrechtliche Auseinandersetzung biete mangels
nennenswerten ehelichen Vermögens keine ungewöhnlichen Schwierigkeiten. Da
sich M. der Scheidung widersetze, stehe die Frage im Vordergrund, ob
die Ehe dermassen zerrüttet sei, dass den Ehegatten die Fortsetzung der
ehelichen Gemeinschaft nicht zugemutet werden könne. Der Scheidungsgrund
der tiefen Zerrüttung gehöre zum Grundwissen jedes ausgebildeten
Juristen; die Abklärung der Frage, ob eine solche vorliege, biete keine
besonderen Probleme. Sodann hat der Regierungsrat festgestellt, dass die
Lizentiatsprüfungen des Vormundes lediglich 4 1/2 Jahre zurückliegen,
weshalb angenommen werden könne, dass ihm das Rechtsproblem der Zerrüttung
geläufig sei. Andernfalls würde es ihm leichtfallen, sich innert Kürze
in das sich stellende Thema einzulesen. Zusammen mit dem Wissen des
Vormundes, welches er seinem Mündel zur Verfügung zu stellen habe,
sei in Betracht zu ziehen, dass das Verfahren - das heisst, die im
Ehescheidungsprozess geltende Offizialmaxime - den Parteien weitgehend
entgegenkomme. Die zeitliche Belastung, die der Prozess mit sich bringe,
sei dem Vormund zuzumuten. Wenngleich der klagenden Ehefrau vom Justiz-
und Polizeidepartement ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt
worden sei, verlange der Grundsatz der Waffengleichheit nicht gleiches
Recht für den Ehemann in Anbetracht dessen, dass sein Vormund durchaus
in der Lage sei, den Scheidungsprozess kundig zu führen. Darauf, dass
der Vormund nicht das Anwaltspatent besitze, könne es nicht ankommen,
weil unter der Herrschaft der Offizialmaxime prozessuale Vorkehren in den
Hintergrund träten. Ebensowenig sei entscheidend, dass sich der Vormund
des Rekurrenten bisher vorwiegend oder ausschliesslich mit Problemen des
Baurechts befasst habe.

    b) Die Frage, ob ein Vormund oder Beistand zum unentgeltlichen
Rechtsbeistand bestellt werden solle, hat sich bisher nur in
Vaterschafts- und Ehelichkeitsanfechtungsprozessen gestellt, wobei die
Rechtsprechung schwankend war (vgl. BGE 110 Ia 89). Immerhin wurde in
BGE 99 Ia 430 ff. ganz allgemein ausgeführt, der verfassungsmässige
Armenrechtsanspruch müsse der bevormundeten oder verbeiständeten Partei
offenstehen wie jedem anderen Rechtsuchenden; massgebend könne einzig
sein, ob sie selbst bedürftig sei oder nicht. Demgegenüber lehnte es
das Bundesgericht in BGE 100 Ia 115 ff. ab, in einem als aussichtslos
betrachteten Vaterschaftsprozess und dem damit verbundenen Verfahren der
staatsrechtlichen Beschwerde den Beistand des Kindes, der praktizierender
Anwalt war, zum unentgeltlichen Rechtsbeistand zu ernennen. Nach der
Auffassung des Bundesgerichts verfügte der Beistand über die nötigen
Rechtskenntnisse, um die Interessen des Kindes zu wahren, und war die
Anwaltsentschädigung für das Verfahren vor Bundesgericht Bestandteil der
Kosten der Beistandschaft.

    In dem zuletzt publizierten Entscheid zu einer vergleichbaren
Frage (BGE 110 Ia 87 ff., insbesondere S. 90) hat das Bundesgericht
ausgeführt, es komme unter dem Gesichtspunkt des unmittelbar aus
Art. 4 BV fliessenden Armenrechtsanspruchs allein darauf an, dass einer
bedürftigen Partei der Zugang zum Gericht nicht infolge ihrer Bedürftigkeit
verwehrt oder erschwert werde. Dieser durch die Verfassung garantierte
Minimalanspruch umfasse indessen nicht auch das Recht, von Verfahrens-
oder Vertretungskosten überhaupt befreit zu werden. Eine Partei, die über
einen geeigneten rechtskundigen Vertreter verfüge, der zu ihrer Vertretung
im Prozess nicht nur in der Lage, sondern ohne Vorschiessung der Kosten
auch bereit oder verpflichtet sei, könne daher nicht unter Berufung auf
Art. 4 BV die Ernennung eines Armenanwalts verlangen.

    c) Wie der Beschwerdeführer zutreffend dargelegt hat, lässt sich dieser
Judikatur nichts Entscheidendes für oder gegen den im vorliegenden Fall
doch recht unterschiedlichen Sachverhalt herleiten. Anders als etwa in
BGE 110 Ia 87 ff. wurde nicht eigens mit dem Auftrag, den Betroffenen im
Prozess zu vertreten, ein hiefür geeigneter Beistand bestellt. Vielmehr
hat die Ehefrau geraume Zeit nach Errichtung der Vormundschaft die
Ehescheidungsklage erhoben; im Augenblick, als der Vormund ernannt
wurde, war noch nicht vorauszusehen, dass das Mündel Beklagter in einem
Zivilprozess sein würde.

    Es kann deshalb nur darauf ankommen, ob der unbestritten bedürftige
Beschwerdeführer in dem auf ihn zugekommenen Scheidungsprozess - der
nicht als für ihn zum vornherein aussichtslos bezeichnet werden kann
- sich gehörig zur Wehr zu setzen vermag. Unter dem Gesichtspunkt der
Waffengleichheit mit der durch einen Rechtsanwalt vertretenen Ehefrau ist
insbesondere zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer nur während
gut fünf Jahren die Schule besucht hat. Ungeachtet der Ausbildung und
beruflichen Qualifikation des Vormundes fällt entscheidend ins Gewicht,
wie leicht die sich stellenden prozess- und materiellrechtlichen
Fragen zu beantworten sind. Der Umstand, dass im Ehescheidungsverfahren
für die wichtigsten Fragen die Offizialmaxime gilt, darf dabei nicht
überbewertet werden. Vielmehr muss sichergestellt werden, dass der
Beschwerdeführer rechtskundig vertreten ist, das heisst, dass sein
Vertreter im Ehescheidungsprozess über die hiefür - und nicht bezüglich
anderer Rechtsprobleme - erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten in
der Weise verfügt, dass die von einem Rechtsanwalt vertretene Gegenpartei
sich nicht vorweg in einer günstigeren Lage befindet (BGE 110 Ia 28).

Erwägung 3

    3.- Der Regierungsrat hat mit dem angefochtenen Beschluss die
Anforderungen, die an den Rechtsvertreter in einem Ehescheidungsverfahren
ganz allgemein und in einer Kampfscheidung im besonderen gestellt werden,
unterschätzt. Er hat den Hochschulabschlüssen des Vormundes eine zu
grosse Bedeutung zugemessen und ohne Berücksichtigung der Kenntnisse und
Erfahrungen, die vom Rechtsvertreter in einem Zivilprozess erwartet werden,
die juristische Versiertheit des Vormundes bejaht. Der vom Regierungsrat
eingenommene Standpunkt führt im Ergebnis dazu, dass die Waffengleichheit
in dem Scheidungsprozess, den der Beschwerdeführer mit seiner Ehefrau
austrägt, gefährdet ist.

    a) Der Scheidungsprozess ist für den Beschwerdeführer, wie der
Regierungsrat selber einräumt, "von etwelcher Bedeutung". Da sich M. der
Ehescheidung widersetzt, müssen denn auch vor dem Richter nicht nur
Aussagen zur tiefen Zerrüttung gemacht oder Beweisanträge dazu gestellt
werden. Vielmehr wird das Scheidungsverfahren in die heikle Rechtsfrage
einmünden, ob der klagenden Gattin die Fortsetzung der ehelichen
Gemeinschaft zugemutet werden dürfe. Möglicherweise stellt sich auch
die Frage, ob das überwiegende Verschulden an der Zerrüttung vorwiegend
dem einen Ehegatten zuzuschreiben sei, so dass dem anderen Ehegatten
die Klage wegen Art. 142 Abs. 2 ZGB verwehrt wäre. Schon deshalb muss
dem Beschwerdeführer, der unbestrittenermassen nicht rechtskundig ist,
Gelegenheit gegeben werden, einen in Scheidungsprozessen erfahrenen Anwalt
als unentgeltlichen Rechtsbeistand zu wählen.

    b) Entgegen der Auffassung des Regierungsrates kann der
Beschwerdeführer seinen von der Verfassung gewährleisteten Anspruch
auf unentgeltliche Verbeiständung nicht schon deswegen einbüssen,
weil sein Vormund Jurist mit Hochschulabschluss ist. Es lässt sich
nicht behaupten, der Beschwerdeführer sei rechtskundig und ausreichend
vor Gericht unterstützt aufgrund des Umstandes, dass sein Vormund eine
juristische Ausbildung genossen hat; insbesondere ist dadurch nicht a
priori Waffengleichheit mit der durch einen Rechtsanwalt vertretenen
Gegenpartei hergestellt. Wie der Beschwerdeführer zutreffend darlegt,
setzt eine sachkundige Vertretung im Scheidungsprozess nicht nur
theoretische Kenntnisse des materiellen Scheidungsrechts voraus, die sich
mit entsprechendem Zeitaufwand allenfalls aneignen liessen (wobei es sich
freilich fragt, ob das, wie der Regierungsrat ohne weiteres annimmt,
noch zum Aufgabenbereich eines aus anderem Grunde bestellten Vormundes
gehöre). Vonnöten ist vielmehr auch eine minimale praktische Erfahrung im
Umgang mit zivilprozessualen Problemen, über welche man nicht schon deshalb
verfügt, weil man ein juristisches Studium abgeschlossen hat. Der Vormund
erklärt selber, dass er in seiner bisherigen Tätigkeit nie mit Fragen des
Familien- und insbesondere des Scheidungsrechts befasst war. Es spricht
für das Verantwortungsbewusstsein des Vormundes gegenüber dem Mündel,
dass er sich ausserstande fühlt, dessen persönliche Interessen in einem
so wichtigen Verfahren, wie es der Scheidungsprozess für die Betroffenen
ist, fachkundig wahrzunehmen.

    c) Auch das Argument des Regierungsrates, prozessuale Überlegungen
träten in den Hintergrund, weil das Ehescheidungsverfahren von der
Offizialmaxime beherrscht werde, vermag nicht zu überzeugen. Die
Offizialmaxime enthebt die Parteien nicht der Verantwortung für das
Sammeln des Prozessstoffes, dem gerade bei einer Kampfscheidung,
wie sie im vorliegenden Fall zu erwarten ist, entscheidende
Bedeutung zukommt. Bezüglich Art. 142 Abs. 2 ZGB gilt insofern die
Dispositionsmaxime, als der Richter nicht von Amtes wegen der Schuldfrage
nachzugehen und allenfalls das überwiegende Verschulden des Klägers
festzustellen hat (Kommentar BÜHLER/SPÜHLER, N. 132 zu Art. 142 ZGB). Im
übrigen würde man sich wohl kaum mehr der Offizialmaxime erinnern, wenn
dem Vormund als Rechtsvertreter im Scheidungsverfahren Fehler unterliefen,
sondern man würde ihn wiederum bei seiner juristischen Ausbildung behaften.

    d) Soweit entsprechend der ursprünglichen Absicht des Gesetzgebers
das Amt des Vormundes Privaten übertragen wird, darf man selbst von einem
Vormund mit qualifizierter Ausbildung nicht erwarten, dass er über die
Wahrung der persönlichen und vermögensrechtlichen Interessen des Mündels
hinaus - mit der an sich eine Prozessführung verbunden sein mag (Kommentar
EGGER, N. 28 zu Art. 407 ZGB) - geradezu als dessen Rechtsanwalt tätig
wird, ohne dass er diesen Beruf praktiziert. Qualifizierte Berufsleute
würden von der Übernahme einer Vormundschaft abgehalten, wenn man sie
unter Berufung auf ihre Ausbildung zwänge, Aufgaben in grossem Umfang
zu erfüllen, die zwar den Interessen des Mündels dienen, aber doch nicht
in unmittelbarem Zusammenhang mit der Vormundschaft stehen und bei deren
Übernahme nicht vorausgesehen werden konnten. Dem Bevormundeten steht wie
jedem Rechtsuchenden der verfassungsmässige Anspruch auf unentgeltliche
Rechtsverbeiständung zu, sofern die Voraussetzungen hiefür erfüllt
sind. Dieser Anspruch darf nicht deswegen beeinträchtigt werden, weil
dem Mündel zufällig ein als Jurist ausgebildeter Vormund zur Seite steht,
der aber nicht über die Kenntnisse und die Erfahrung eines patentierten
Rechtsanwaltes verfügt.