Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 305



112 Ia 305

46. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21. Mai 1986 i.S. G.
und Mitbeteiligte gegen Gemeinde Bonaduz und Verwaltungsgericht des
Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, überspitzter Formalismus, fehlerhafte Rechtsbelehrung.

    Begriff des überspitzten Formalismus (E. 2a).

    Es ist überspitzter Formalismus, auf die Eingabe eines
Anwalts mit ausserkantonalem Fähigkeitsausweis aber ohne kantonale
Berufsausübungsbewilligung nicht einzutreten, ohne ihm eine Nachfrist
zur Beibringung dieser Bewilligung anzusetzen (E. 2b).

    Aus einer mangelhaften Rechtsbelehrung darf den Betroffenen
insbesondere dann kein Nachteil erwachsen, wenn sich deren Fehlerhaftigkeit
anhand des Gesetzes nicht erkennen liess (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Gemeindevorstand von Bonaduz auferlegte G.G. und weiteren
Mitbeteiligten mit Verfügung vom 3./4. Juli 1985 eine Busse von je Fr.
40.-- "wegen Missachtung von Fahr- und Campingverboten" und wies die
Genannten an, den zum Campieren benutzten Platz bis 10. Juli 1985 zu
verlassen. In der Verfügung wird angegeben, dass gegen diese gemäss
Art. 180 des kantonalen Gesetzes über die Strafrechtspflege innert 20
Tagen beim Verwaltungsgericht Graubünden Beschwerde geführt werden könne.

    Die Gebüssten gelangten hierauf - vertreten durch den St. Galler
Rechtsanwalt X. - an das kantonale Verwaltungsgericht und verlangten,
dass die angefochtene Verfügung aufgehoben und die Gemeinde Bonaduz
angewiesen werde, das Stationierungsgesuch der Beschwerdeführer zu
prüfen. Das Gericht trat mit Entscheid vom 1. Oktober 1985 auf den Rekurs
nicht ein. Es erwog, Rechtsanwalt X. habe zur Zeit der Rekurseingabe
keine Berufsausübungsbewilligung für den Kanton Graubünden besessen
und im Verlaufe des Verfahrens auch nicht um Erteilung einer solchen
nachgesucht. Nach Art. 22 des bündnerischen Verwaltungsgerichtsgesetzes,
das auf Art. 39 der Zivilprozessordnung verweise, seien jedoch nur
zur Berufsausübung zugelassene Rechtsanwälte zur Parteivertretung vor
Verwaltungsgericht befugt. Nun enthalte das bündnerische Verfahrensrecht
keine Vorschrift über die Rechtsfolge eines "Verstosses gegen die
Bestimmungen über die Stellvertretung im Prozess". Doch habe das
Kantonsgericht schon vor geraumer Zeit Prozesshandlungen eines vor
den bündnerischen Gerichten nicht zugelassenen Anwaltes als ungültig
betrachtet. Diese Auffassung sei vom Bundesgericht im Jahre 1961
unterstützt (vgl. PKG 1961 Nr. 1 Erw. 2) und in neuerer Zeit bei der
Beurteilung von Fällen in anderen Kantonen jedenfalls nicht ausdrücklich
abgelehnt worden (BGE 105 IV 286 und 105 Ia 79 E. 8).

    Die Gebüssten haben gegen den Verwaltungsgerichtsentscheid
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV eingereicht und
sich über Willkür, überspitzten Formalismus und formelle Rechtsverweigerung
beklagt. Sie machen geltend, die Verfügung des Gemeindevorstandes
Bonaduz sei im Rahmen eines "Strafverfahrens vor Verwaltungsbehörden"
im Sinne von Art. 177 ff. der kantonalen Strafprozessordnung ergangen
und könne, wie sich auch aus der erteilten Rechtsmittelbelehrung ergebe,
gemäss Art. 180 StPO mit Rekurs angefochten werden. Für die Beurteilung
solcher Rekurse sei nach Art. 5 der grossrätlichen Verordnung über die
Organisation, Geschäftsführung und Gebühren des Verwaltungsgerichts (VOG)
der Ausschuss des Verwaltungsgerichts zuständig, vor welchem gemäss Art. 15
VOG jeder handlungsfähige Bürger zur Parteivertretung berechtigt sei. Der
Nichteintretensentscheid stehe in klarem Widerspruch zu dieser Bestimmung
und sei daher willkürlich. Ausserdem sei dem Verwaltungsgericht formelle
Rechtsverweigerung und überspitzter Formalismus vorzuwerfen.

    Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden räumt in seiner
Beschwerdeantwort ein, dass Bussverfahren nach Art. 180 StPO und Art. 5
VOG durch den Ausschuss des Verwaltungsgerichtes zu beurteilen seien und
für diese Verfahren jeder handlungsfähige Bürger zur Parteivertretung
zugelassen werde. Die angefochtene Verfügung des Gemeindevorstandes
Bonaduz habe indessen auch einen Räumungsbefehl enthalten, mit dem zugleich
eine - nachträgliche - Campingbewilligung verweigert worden sei. Über
die Rechtmässigkeit dieses Räumungsbefehls sei nicht im Strafverfahren,
sondern im ordentlichen Rekursverfahren von der Vollkammer zu befinden,
vor welcher keine freie Rechtsvertretung möglich sei. Dass in einem solchen
"gemischten" Fall die Vollkammer auch über die Busse entscheide, entspreche
ständiger Praxis und rechtfertige sich aus prozessökonomischen Gründen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wie das Verwaltungsgericht in seiner Vernehmlassung zu Recht
bemerkt, enthält die umstrittene Verfügung des Gemeindevorstandes Bonaduz
einerseits einen Bussenbescheid und andererseits eine Wegweisungsanordnung.
Beide Teile dieser Verfügung können mit Rekurs beim Verwaltungsgericht
angefochten werden. Für die Beurteilung der Busse ist jedoch an sich
der Ausschuss des Verwaltungsgerichtes zuständig (Art. 5 Ziff. 3 der
Verordnung über die Organisation, Geschäftsführung und Gebühren des
Verwaltungsgerichtes/VOG vom 30. November 1966 in Verbindung mit Art. 180
des Gesetzes über die Strafrechtspflege vom 8. Juni 1958), vor welchem für
die Rechtsvertretung kein Fähigkeitsausweis für Rechtsanwälte erforderlich
ist (Art. 15 VOG), während die Überprüfung der Wegweisungsverfügung der
vollständig besetzten Kammer obliegt, für deren Verhandlungen sinngemäss
die Bestimmungen der Zivilprozessordnung über die Stellvertretung
gelten, wonach die Rechtsvertretung grundsätzlich nur Anwälten mit
Fähigkeitsausweis erlaubt ist (Art. 22 Abs. 1 des Gesetzes über die
Verwaltungsgerichtsbarkeit/VGG vom 9. April 1967; Art. 39 der hier
noch anwendbaren Zivilprozessordnung/ZPO vom 20. Juni 1954). Dass aus
Gründen der Prozessökonomie die Rekurssache insgesamt von der "Vollkammer"
behandelt worden ist, ist unter dem Gesichtswinkel von Art. 4 BV nicht zu
beanstanden. Allerdings fragt sich, ob hinsichtlich der Parteivertretung
ohne weiteres auf die strengere Norm von Art. 22 VGG abgestellt
werden dürfe, wie das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf seine Praxis
meint. Diese Frage kann indessen letztlich offenbleiben, da die Beschwerde
aus den im folgenden dargelegten Gründen gutzuheissen ist.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer halten das Nichteintreten des Bündner
Verwaltungsgerichtes auf den Rekurs eines Anwaltes, der wohl über einen
ausserkantonalen, aber (noch) über keinen kantonalen Fähigkeitsausweis
verfügt, für überspitzten Formalismus.

    a) Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der
Rechtsverweigerung. Eine solche liegt vor, wenn für ein Verfahren
rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge
sachlich gerechtfertigt wäre, wenn die Behörde formelle Vorschriften
mit übertriebener Schärfe handhabt oder an Rechtsschriften überspannte
Anforderungen stellt und dem Bürger den Rechtsweg in unzulässiger Weise
versperrt (vgl. etwa BGE 108 Ia 107 E. 2 mit Hinweisen auf weitere
Entscheide). Wohl hat das Bundesgericht immer wieder betont, dass im
Rechtsgang prozessuale Formen unerlässlich sind, um die ordnungsgemässe
und rechtsgleiche Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des
materiellen Rechts zu gewährleisten. Nicht jede prozessuale Formstrenge
steht demnach mit Art. 4 BV im Widerspruch. Überspitzter Formalismus ist
nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine
schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck
wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise
erschwert oder verhindert (ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem
Gesetze gleich, S. 121 ff).

    b) Diese Grundsätze sind insbesondere auch für die Anwendung der
Vorschriften über die Parteivertretung massgebend. Zwar kann von einer
formellen Rechtsverweigerung nicht die Rede sein, wenn das Bestehen eines
rechtsgenüglichen Vertretungsverhältnisses als Prozessvoraussetzung
qualifiziert und bei Fehlen derselben auf ein Rechtsmittel nicht
eingetreten wird. In diesem Sinne ist die vom Verwaltungsgericht
erwähnte Praxis (PVG 1983 Nr. 83 S. 178) nicht zu beanstanden. Eine
andere Frage ist indessen, ob dem Anwalt, der unbestrittenermassen über
einen ausserkantonalen Fähigkeitsausweis verfügt, im konkreten Fall
nicht von Verfassungs wegen eine kurze Nachfrist zur Beibringung der
vom kantonalen Verfahrensrecht geforderten Berufsausübungsbewilligung
anzusetzen sei. Diese Frage ist zu bejahen.

    Das Bundesgericht hat bereits in BGE 81 I 117 f. dargelegt, es
gehe nicht an, eine Prozesshandlung für ungültig zu erklären, wenn bei
ihrer Vornahme die Zulassungsbewilligung des Parteivertreters noch nicht
vorgelegen habe. Vorschriften über die Zulassung von Anwälten hätten
den Zweck, die Vertretungsbefugnis den hiezu aufgrund ihrer Kenntnisse
und ihres Charakters geeigneten Personen vorzubehalten. Dieser Zweck
erfordere keineswegs, dass der Anwalt schon innert der Beschwerdefrist um
Zulassung zum Handeln vor den fraglichen Gerichten ersuche, es genüge auch,
wenn ein solches Begehren erst später gestellt werde. Allerdings hat das
Bundesgericht in dem vom Bündner Verwaltungsgericht angerufenen Urteil
vom 29. März 1961 (das in der Amtlichen Sammlung nicht veröffentlicht
worden ist, jedoch in PKG 1961 Nr. 1 wiedergegeben wird) das Gegenteil
ausgeführt und, ohne sich mit BGE 81 I 113 ff. auseinanderzusetzen,
die Annahme als nicht verfassungswidrig erklärt, dass Prozesshandlungen
ungültig seien, die ein Vertreter vor dem Erwerb des bündnerischen
Fähigkeitsausweises vornimmt. In der neueren bundesgerichtlichen Praxis
sind verschiedentlich die Fälle, in denen ein Rechtsmittel von einer zur
Vertretung nicht berechtigten Person eingereicht wird und daher sofort
als ungültig betrachtet werden darf, von jenen unterschieden worden,
in denen die Vertretungsbefugnis an sich gegeben ist, aber irgendein
Formmangel vorliegt, der während einer von der Behörde anzusetzenden
Nachfrist ohne weiteres geheilt werden kann (vgl. BGE 111 Ib 201 nicht
publ. E. 5c, 108 Ia 103 f., Urteil vom 16. August 1982, ASA 53 S. 166
ff., BGE 107 IV 68 ff. je mit Hinweisen auf weitere Entscheide). Zu
dieser zweiten Gruppe sind auch diejenigen Fälle zu zählen, in denen
ausserkantonale Rechtsanwälte in Kantonen mit Anwaltsmonopol tätig
werden, noch bevor ihnen die Zulassungsbewilligung erteilt worden ist.
Dies muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie im Kanton Graubünden - die
Zulassungsbewilligung von keiner anderen Bedingung als vom Besitz eines
ausserkantonalen Anwaltspatentes abhängig gemacht wird (vgl. Art. 36
Abs. 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 24. September 1978). Im
übrigen bestimmt Art. 28 Abs. 2 VGG ausdrücklich, dass der Partei
eine kurze Nachfrist zur Behebung formeller Mängel einer Rechtsschrift
anzusetzen ist. Das Verwaltungsgericht wäre somit verpflichtet gewesen,
dem Vertreter der Rekurrenten eine kurze Nachfrist zur Beibringung der
bündnerischen Berufsausübungsbewilligung anzusetzen.

    Wie sich im weiteren zeigt, hätte das Verwaltungsgericht hier
allerdings aufgrund der in der umstrittenen Verfügung enthaltenen
Rechtsmittelbelehrung sofort auf den Rekurs eintreten müssen.

Erwägung 3

    3.- In der Rechtsmittelbelehrung des Gemeindevorstandes von Bonaduz
wird ausschliesslich auf Art. 180 des kantonalen Strafrechtspflegegesetzes
und damit auf die Möglichkeit hingewiesen, an den Ausschuss des
Verwaltungsgerichtes zu rekurrieren. Die Rechtsmittelbelehrung war daher
insofern unvollständig, als sie nur die Möglichkeit der Anfechtung
des Bussenbescheides erwähnt und den Wegweisungsbefehl ausser acht
lässt, und hat sich schliesslich sogar als unrichtig erwiesen, weil das
Verwaltungsgericht nach seinen Angaben "gemischte" Verfügungen gesamthaft
in Vollbesetzung überprüft, was die Anwendung strengerer Vorschriften über
die Parteivertretung zur Folge hat. Nach ständiger bundesgerichtlicher
Rechtsprechung darf einer Partei, welche sich auf eine fehlerhafte
Rechtsmittelbelehrung verlässt und verlassen durfte, daraus kein Nachteil
erwachsen (vgl. die in BGE 106 Ia 16 f. zitierten Entscheide). Nur wer
die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung kennt oder sie bei gebührender
Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, darf sich nach Treu und Glauben
nicht auf diese berufen. Wie das Bundesgericht in BGE 106 Ia 17 f. E. 3b
ausgeführt hat, sind nur grobe Fehler der von der Verfügung betroffenen
Partei oder ihres Vertreters geeignet, eine falsche Rechtsmittelbelehrung
aufzuwiegen. So geniesst der Private keinen Vertrauensschutz, wenn er
oder sein Anwalt die Mängel der Rechtsmittelbelehrung durch Konsultierung
des massgebenden Gesetzestextes allein erkennen könnte, während von ihm
nicht erwartet werden kann, dass er neben diesem Text auch Literatur oder
Rechtsprechung nachschlage.

    Aus diesen Grundsätzen ergibt sich klar, dass die Rekurrenten bzw. ihr
Anwalt sich auf die Rechtsmittelbelehrung des Gemeindevorstandes Bonaduz
verlassen durften: In wessen Kompetenz die Beurteilung "gemischter"
Verfügungen fällt, geht aus dem kantonalen Recht nicht hervor, sondern
ergibt sich nur aus der Praxis des Verwaltungsgerichts, die übrigens
- soweit ersichtlich - in den Veröffentlichungen keinen Niederschlag
gefunden hat. Unter diesen Umständen durfte dem Anwalt der Rekurrenten -
und demnach den Rekurrenten selber - kein prozessualer Nachteil daraus
erwachsen, dass er sich aufgrund der erwähnten Rechtsmittelbelehrung für
befugt hielt, die umstrittene Verfügung vom 3./4. Juli 1985 anzufechten.
Der Nichteintretensentscheid des Verwaltungsgerichtes verletzt auch aus
diesem Grunde Art. 4 BV und ist in Gutheissung der staatsrechtlichen
Beschwerde aufzuheben.