Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 142



112 Ia 142

25. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16.
April 1986 i.S. P. gegen Regierungsrat des Kantons Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 58 Abs. 1 BV; Geltungsbereich.

    Die Garantie des verfassungsmässigen Richters gilt auch für
Strafuntersuchungs- und Anklagebehörden, sofern diese in richterlicher
Funktion tätig sind (E. 2a; Änderung der Rechtsprechung).

    Voraussetzungen, unter denen Art. 58 Abs. 1 BV auf die zürcherischen
Bezirks- und Staatsanwälte anwendbar ist (E. 2b und 2c).

Sachverhalt

    A.- Im August 1984 stellte P. beim Obergericht des Kantons Zürich ein
Revisionsbegehren hinsichtlich eines Strafurteils, das dieses Gericht am
27. September 1982 gegen ihn ausgefällt hatte. Am 22. November 1984 reichte
er bei der Justizdirektion des Kantons Zürich ein Ausstandsbegehren gegen
Staatsanwalt Dr. H. Müller ein, der schon früher in den Strafverfahren des
P. tätig war und im Revisionsverfahren die in § 452 der zürcherischen
Strafprozessordnung vorgesehene Begutachtung erstatten musste. Die
Justizdirektion wies das Begehren ab, und ein daraufhin erhobener Rekurs
an den Regierungsrat des Kantons Zürich hatte keinen Erfolg.

    P. führt gegen den Entscheid des Regierungsrates staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 58 BV. Das Bundesgericht weist
die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer erblickt darin, dass sein Ausstandsbegehren
gegen Staatsanwalt Dr. H. Müller abgewiesen wurde, eine Verletzung der
Art. 4 und 58 BV. Es stellt sich die Frage, ob die in Art. 58 Abs. 1
BV enthaltene Garantie des verfassungsmässigen Richters auf einen
Staatsanwalt anwendbar ist. Sie ist nicht ohne praktische Bedeutung,
sind doch Beschwerden wegen Verletzung von Art. 58 BV - im Gegensatz zu
jenen wegen Missachtung von Art. 4 BV - vom Erfordernis der Erschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges ausgenommen (Art. 86 Abs. 2 OG).

    a) Art. 58 Abs. 1 BV gewährt dem Bürger einen verfassungsmässigen
Anspruch darauf, dass seine Streitsache durch einen unabhängigen
und unparteiischen Richter beurteilt wird (BGE 104 Ia 273 E. 3 mit
Hinweisen). Das Bundesgericht hat bisher in seiner publizierten
Rechtsprechung erklärt, diese Vorschrift beziehe sich nur auf die
Gerichte. Für Verwaltungsbehörden gelte sie - mit Ausnahme des in
Art. 58 BV mitenthaltenen Anspruchs auf den zuständigen gesetzlichen
Richter - nicht. Die Frage der Ausstandspflicht von Mitgliedern einer
Verwaltungsbehörde sei ausschliesslich aufgrund von Art. 4 BV zu beurteilen
(BGE 107 Ia 137; Urteil vom 2. Mai 1979 in ZBl 80/1979 S. 485).

    In einem unveröffentlichten Urteil vom 22. März 1985 in Sachen
Erbengemeinschaft B., das einen Fall aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden
betraf, hielt das Bundesgericht nun aber fest, die Garantie des
verfassungsmässigen Richters sei auch auf einen Staatsanwalt anzuwenden,
und zwar dann, wenn dieser nicht in seiner Funktion als Untersuchungs- und
Verfolgungsbehörde auftrete, sondern die Rolle eines eigentlichen Richters
einnehme. Es vertrat in jenem Entscheid die Ansicht, der Staatsanwalt
sei dort, wo er über einen Rekurs gegen eine Einstellungsverfügung
des Verhöramtes befinde, in richterlicher Funktion tätig, und insoweit
gelte die Vorschrift von Art. 58 Abs. 1 BV auch für ihn. Hingegen sei
diese Bestimmung nicht anwendbar, wenn es um die Genehmigung einer
Einstellungsverfügung des Verhöramtes durch den Staatsanwalt gehe,
da er hier keine richterliche Funktion ausübe, sondern als Beamter der
Strafverfolgungsbehörde bzw. als Aufsichtsinstanz gegenüber dem Verhöramt
handle. Im gleichen Sinne hatte das Bundesgericht schon in einem früheren,
ebenfalls unveröffentlichten Urteil vom 13. Februar 1985 in Sachen E.H. zur
Frage der Anwendung von Art. 58 Abs. 1 BV auf zürcherische Bezirksanwälte
ausgeführt, die Garantie des verfassungsmässigen Richters müsse sich
auch auf den Bezirksanwalt beziehen, sofern er in richterlicher Funktion
tätig werde. Das sei sicher der Fall, wenn er einen Strafbefehl nach §
317 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO)
erlasse, der bei Unterlassung einer Einsprache zu einem rechtskräftigen
Urteil werde. Zweifel ergäben sich indessen dort, wo der Bezirksanwalt
- wie das im damaligen Fall zutraf - nur untersuchungsrichterliche und
Anklagefunktion ausübe. Das Bundesgericht liess die Frage offen, ob Art. 58
BV in einem solchen Fall zum Zuge komme, da die damals zu beurteilende
Beschwerde bereits wegen Verletzung von Art. 4 BV (willkürliche Auslegung
und Anwendung des kantonalen Rechts) gutzuheissen war.

    Mit diesen beiden Urteilen wurde die bisherige Rechtsprechung dahin
geändert, dass Art. 58 Abs. 1 BV nun nicht mehr nur für ein Gericht
oder einen Richter im streng formellen Sinne, sondern unter bestimmten
Voraussetzungen auch für Strafuntersuchungs- und Anklagebehörden gilt,
und zwar dann, wenn diese in richterlicher Funktion tätig sind. Treten
sie dagegen in ihrer Eigenschaft als Untersuchungs- und Anklagebehörden
auf, so ist die Frage der Ausstandspflicht nach wie vor ausschliesslich
aufgrund von Art. 4 BV zu beurteilen.

    b) Der zürcherische Bezirksanwalt übt, wie schon im erwähnten
Urteil vom 13. Februar 1985 festgehalten wurde, in jenen Fällen eine
richterliche Funktion aus, in welchen er einen Strafbefehl gemäss §
317 StPO erlässt. Diese Vorschrift räumt dem Bezirksanwalt die Kompetenz
ein, eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Monat oder eine Busse oder
beides zusammen auszufällen, sofern der Angeschuldigte den Sachverhalt
eingestanden und sich schuldig erklärt hat. Der Strafbefehl erlangt
die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils, soweit nicht rechtzeitig
Einsprache erhoben worden ist oder wenn die Einsprache zurückgezogen wurde
(§ 325 Abs. 1 StPO). Der Bezirksanwalt nimmt dort, wo er einen Fall
durch Strafbefehl zum Abschluss bringt, die Rolle eines eigentlichen
Richters ein, denn er entscheidet ohne irgendwelche Weisungen der ihm
hierarchisch übergeordneten Staatsanwaltschaft, mithin völlig unabhängig
und unparteiisch, ob sich der Angeschuldigte einer strafbaren Handlung
schuldig gemacht hat und - gegebenenfalls - welche Sanktion gegen ihn zu
ergreifen ist.

    Dagegen gilt die Garantie von Art. 58 Abs. 1 BV für den Bezirksanwalt
dann nicht, wenn er als Anklagebehörde tätig ist, d.h. wenn er die
Anklageschrift verfasst, diese dem Bezirksgericht einreicht und in der
Folge die Anklage vor Gericht vertritt, wobei er dem Angeklagten als
Gegenpartei gegenübersteht. Der Bezirksanwalt handelt in dieser Phase
des Strafverfahrens ausschliesslich als Vertreter des Strafanspruchs des
Staates und übt keine richterliche Funktion aus.

    Es bleibt die Frage, ob Art. 58 Abs. 1 BV auf den Bezirksanwalt dann
zur Anwendung kommt, wenn er als Untersuchungsbehörde tätig ist. In
dieser Eigenschaft muss er gemäss § 31 StPO den belastenden und den
entlastenden Tatsachen mit gleicher Sorgfalt nachgehen, und er hat nach
Vornahme der Untersuchungshandlungen völlig unabhängig und unparteiisch zu
prüfen, ob die Voraussetzungen für eine Anklageerhebung gegeben sind. Mit
Rücksicht auf diese Pflicht des Untersuchungsbeamten zur Unabhängigkeit
und Unparteilichkeit, welche die Wesensmerkmale richterlicher Tätigkeit
bilden, haben sowohl das Bundesgericht (BGE 102 Ia 179 ff.) als auch der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Urteil vom 4. Dezember 1979 in
Sachen Schiesser, veröffentlicht in: Publications de la Cour européenne des
droits de l'homme, Serie A, vol. 34, und in der Europäischen Grundrechte
Zeitschrift 1980 S. 202 ff.) erklärt, der zürcherische Bezirksanwalt
sei im Verfahrensstadium der Untersuchung ein "gesetzlich zur Ausübung
richterlicher Funktionen ermächtigter Beamter" im Sinne von Art. 5
Ziff. 3 EMRK. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er deswegen bei seiner
gesamten Tätigkeit als Untersuchungsorgan allgemein auch der Garantie des
verfassungsmässigen Richters unterworfen wäre. Es ist zu beachten, dass
im Strafverfahren die Aufgabe eines Richters im Sinne von Art. 58 Abs. 1
BV in erster Linie darin besteht, abschliessend darüber zu entscheiden,
ob gegen den Angeklagten ein staatlicher Strafanspruch besteht und -
gegebenenfalls - welche Strafe gegen ihn auszufällen ist. Demzufolge
kann nur dort gesagt werden, die Untersuchungsbehörde nehme die Funktion
oder Rolle eines eigentlichen Richters ein, wo sie das Strafverfahren zum
Abschluss bringt, sei es durch einen Sachentscheid, wie das beim Erlass
eines Strafbefehls des Bezirksanwaltes der Fall ist, sei es dadurch,
dass sie das Verfahren mit einer Einstellungsverfügung gemäss § 39 StPO
abschliesst. Eine solche Verfügung kann zwar hinsichtlich der materiellen
Rechtskraft nicht einem freisprechenden Urteil gleichgestellt werden, doch
hat sie immerhin zur Folge, dass die Untersuchung nicht wiederaufgenommen
werden darf, sofern keine neuen Anhaltspunkte für die Täterschaft oder
für die Schuld des Angeschuldigten bestehen (vgl. § 45 StPO).

    Nach dem Gesagten ergibt sich, dass Art. 58 Abs. 1 BV auf den
zürcherischen Bezirksanwalt dort anwendbar ist, wo er einen Strafbefehl
erlässt und wo er das Strafverfahren einstellt.

    c) Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich amtet als
Anklagebehörde beim Obergericht und beim Geschworenengericht (§ 72
Ziff. 2 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes vom 13. Juni 1976,
GVG). Sie ist zudem Aufsichts- und Rechtsmittelinstanz gegenüber den
Bezirksanwaltschaften (§ 86 GVG, §§ 27 und 402 Ziff. 1 StPO). Von Gesetzes
wegen (§ 73 Ziff. 2 GVG, § 27 StPO) ist die Staatsanwaltschaft auch
Untersuchungsbehörde. In der Praxis ist sie indessen durch ihre Tätigkeit
als Anklagebehörde sowie als Aufsichts- und Rechtsmittelinstanz voll in
Anspruch genommen, so dass sie nur ganz ausnahmsweise eine Untersuchung
selbst führt (HAUSER/HAUSER, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz
des Kantons Zürich vom 29. Januar 1911, 3. Auflage 1978, S. 280 N. 2;
ROLF RIEDER, Das Untersuchungsverfahren im zürcherischen Strafprozess,
Diss. Zürich 1965, S. 46). Falls sie es tut, so kommt - ebenso wie bei der
Bezirksanwaltschaft - Art. 58 Abs. 1 BV nicht zum Zuge. Auch soweit die
Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde auftritt, was ihre Haupttätigkeit
darstellt, übt sie keine richterliche Funktion aus und ist sie daher der
genannten Vorschrift nicht unterworfen. Das gleiche gilt dort, wo ihr
nach § 39 StPO eine Einstellungsverfügung der Bezirksanwaltschaft zur
Genehmigung unterbreitet wird. Die Staatsanwaltschaft handelt hier als
Aufsichtsinstanz über die Bezirksanwälte und nicht in richterlicher
Funktion (vgl. das erwähnte Urteil vom 22. März 1985 in Sachen
Erbengemeinschaft B.).

    Hingegen findet Art. 58 Abs. 1 BV auf die Staatsanwaltschaft dann
Anwendung, wenn sie als Rekursinstanz gemäss § 402 Ziff. 1 StPO tätig
ist. Der Rekurs, der nach dieser Vorschrift "gegen das Verfahren und die
Verfügungen der Bezirksanwaltschaften" bei der Staatsanwaltschaft erhoben
werden kann, ist ein ordentliches Rechtsmittel, mit dem alle Mängel des
Verfahrens und des angefochtenen Entscheids gerügt werden können (ADRIAN
MEILI, Der Rekurs im Strafprozess nach zürcherischem Recht, Diss. Zürich
1968, S. 5). Amtet die Staatsanwaltschaft als Rekursbehörde, so nimmt
sie die Rolle eines eigentlichen Richters ein, denn sie muss - ebenso wie
dieser - in unabhängiger und unparteiischer Weise prüfen, ob die gegen das
Verfahren oder gegen eine Verfügung - z.B. gegen eine Einstellungsverfügung
- der Bezirksanwaltschaft vorgebrachten Einwendungen des Rekurrenten
begründet sind. Von einer richterlichen Funktion der Staatsanwaltschaft
kann sodann auch dort gesprochen werden, wo sie gemäss § 38 StPO ein
Strafverfahren durch eine Einstellungsverfügung beendet (vgl. E. 2b vorne).

    Die Garantie von Art. 58 Abs. 1 BV ist demnach auf die zürcherische
Staatsanwaltschaft dann anwendbar, wenn sie als Rekursinstanz tätig ist
und wenn sie das Strafverfahren einstellt.

    d) Im hier zu beurteilenden Fall wurde das Ausstandsbegehren
gegen den Staatsanwalt in einem Verfahren gestellt, in welchem dieser
ausschliesslich in seiner Funktion als Anklagebehörde mitwirkte. Es
handelte sich um ein Revisionsverfahren, und gemäss § 452 StPO hatte
der Staatsanwalt zuhanden des Gerichts das Wiederaufnahmegesuch des
Beschwerdeführers zu begutachten. Er stand dem Beschwerdeführer in jenem
Verfahren als Gegenpartei gegenüber und übte keinerlei richterliche
Funktionen aus. Art. 58 Abs. 1 BV kommt daher im vorliegenden Fall auf
den Staatsanwalt nicht zur Anwendung, weshalb nur zu prüfen ist, ob die
Abweisung des Ausstandsbegehrens vor Art. 4 BV standhält.

    Auch nach dieser Verfassungsvorschrift gelten für einen Staatsanwalt
gewisse Mindestanforderungen an die Unabhängigkeit und Unbefangenheit,
die allerdings nicht so weit reichen wie die Garantie des Art. 58 Abs. 1
BV (vgl. dazu: ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze
gleich, Bern 1985, S. 155). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes
kann ein solcher Beamter aufgrund von Art. 4 BV dann abgelehnt werden,
wenn Umstände vorliegen, die ihn als befangen erscheinen lassen (BGE
107 Ia 137; Urteil vom 13. Februar 1985 in Sachen E.H.). Die Ablehnung
setzt somit nicht voraus, dass der betroffene Justizbeamte tatsächlich
befangen ist. Im gleichen Sinne ist § 96 Ziff. 4 des zürcherischen
Gerichtsverfassungsgesetzes zu verstehen (vgl. dazu HAUSER/HAUSER, aaO, S.
399; ZR 45/1946 Nr. 161 S. 297, BGE 108 Ia 50/51). Dies kann jedoch nicht
bedeuten, dass entscheidend auf die subjektive Meinung des Ablehnenden
abzustellen wäre; vielmehr müssen Umstände vorliegen, welche nach
objektiven Gesichtspunkten geeignet sind, den Anschein der Befangenheit zu
erwecken (BGE 108 Ia 51, 105 Ia 160). Bei einem Staatsanwalt im besonderen
bildet nach den vorstehenden Ausführungen der Umstand, dass er im Prozess
einen demjenigen des Angeklagten entgegengesetzten Standpunkt einnimmt
und die Beweismittel anders würdigt, jedenfalls keinen Grund, der den
Schluss auf Befangenheit im Sinne dieser Rechtsprechung zuliesse.