Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 112 IA 136



112 Ia 136

24. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
27. August 1986 i.S. X. gegen Grossen Rat des Kantons Schaffhausen
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 85 lit. a und Art. 88 OG; Legitimation zur Anfechtung einer
kantonalen Delegationsvorschrift.

    Die Legitimation zur Anfechtung einer kantonalen Delegationsvorschrift
richtet sich nach Art. 85 lit. a OG, soweit eine Verletzung des politischen
Stimmrechts gerügt (E. 2a), und nach Art. 88 OG, soweit eine Verletzung von
Art. 4 BV, Art. 2 Üb.Best. BV sowie des Grundsatzes der Gewaltentrennung
geltend gemacht wird (E. 2b).

    Politisches Stimmrecht; Verletzung durch eine Delegationsnorm?

    Die in Art. 44 des Schaffhauser Gesetzes über die Organisation der
Regierungs- und Verwaltungstätigkeit vom 18. Februar 1985 enthaltene
Ermächtigung an den Regierungsrat, in Gesetzen oder Dekreten enthaltene
Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die kantonale Verwaltung
auf dem Verordnungsweg anzupassen, verletzt das politische Stimmrecht
der Bürger nicht (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Der Grosse Rat des Kantons Schaffhausen verabschiedete am
18. Februar 1985 das Gesetz über die Organisation der Regierungs-
und Verwaltungstätigkeit (Organisationsgesetz). Der Abschnitt "D.
Schlussbestimmungen" enthält unter anderem folgende Vorschrift:

    Art. 44 Organisationsrechtliche Befugnisse des Regierungsrates

    Der Regierungsrat ist ohne Rücksicht auf
   abweichende Vorschriften in bestehenden Gesetzen befugt, in Gesetzen
   oder

    Dekreten enthaltene Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften
für die
   kantonale Verwaltung im Sinne dieses Gesetzes auf dem Verordnungsweg
   anzupassen.

    Er ist ermächtigt, im Falle einer solchen Anpassung gesetzliche

    Kompetenzvorschriften zugunsten eines bestimmten Departements oder
einer
   bestimmten nachgeordneten Dienststelle allgemeiner zu fassen.

    Die Volksabstimmung über das Organisationsgesetz wurde auf den
22. September 1985 angesetzt.

    Mit Eingabe vom 5. September 1985 erhob X. staatsrechtliche Beschwerde
beim Bundesgericht. Er rügt die in Art. 44 des Organisationsgesetzes
enthaltene Delegationsnorm zugunsten des Regierungsrates als eine
Verletzung des Stimmrechts sowie einen Verstoss gegen Art. 4 BV und Art. 2
Üb.Best. BV. Eine weitere Verletzung des Stimmrechts sieht er in einer
angeblich unzulässigen Beeinflussung des Stimmbürgers durch die Botschaft
des Grossen Rates. Er beantragt, Art. 44 des Organisationsgesetzes als
"verfassungswidrig unzulässig und somit unanwendbar zu erklären und
aufzuheben".

    In der Volksabstimmung vom 22. September 1985 wurde das
Organisationsgesetz angenommen.

    Mit Teilurteil vom 24. April 1986 wies das Bundesgericht die
staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit sie sich gegen die Volksabstimmung
vom 22. September 1985 richtet. Im übrigen wurde das Verfahren bis zur
amtlichen Veröffentlichung des Gesetzes sistiert. Mit der Veröffentlichung
des Gesetzes am 9. Mai 1986 ist die Sistierung dahingefallen. Das
Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit darüber
nicht bereits entschieden wurde und darauf eingetreten werden kann.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer ist stimmberechtigter Einwohner des Kantons
Schaffhausen und damit grundsätzlich berechtigt, im Zusammenhang mit der
Volksabstimmung über das neue Organisationsgesetz Stimmrechtsbeschwerde
zu führen (Art. 85 lit. a OG). Mit dieser Beschwerde kann nach der
Rechtsprechung des Bundesgerichts gerügt werden, ein Erlass enthalte
eine Delegationsnorm, durch die eine referendumspflichtige Materie
künftig der Volksabstimmung entzogen werde (BGE 105 Ia 361 E. 4b; 104 Ia
307/308 E. 1b). Die Beschwerde ist daher zulässig, soweit mit ihr die
Aufhebung von Art. 44 des Organisationsgesetzes beantragt wird, der nach
der Auffassung des Beschwerdeführers eine unzulässige Kompetenzdelegation
enthält.

    b) Soweit der Beschwerdeführer jedoch die Verletzung von Art. 4 BV
und Art. 2 Üb.Best. BV sowie des Grundsatzes der Gewaltentrennung rügt,
bestimmt sich die Legitimation zur Beschwerdeführung nach Art. 88 OG. Diese
Vorschrift setzt voraus, dass der Beschwerdeführer durch den angefochtenen
Erlass in seiner persönlichen Rechtsstellung beeinträchtigt wird. Das ist
hier jedoch nicht der Fall, weshalb in dieser Hinsicht auf die Beschwerde
nicht eingetreten werden kann (BGE 105 Ia 359 E. 3d).

Erwägung 3

    3.- a) Bei Stimmrechtsbeschwerden prüft das Bundesgericht nicht nur die
Auslegung von Bundesrecht und kantonalem Verfassungsrecht frei, sondern
auch jene anderer kantonaler Vorschriften, die den Inhalt des Stimm- und
Wahlrechts regeln oder mit diesem eng zusammenhängen. In ausgesprochenen
Zweifelsfällen schliesst es sich jedoch der von der obersten kantonalen
Behörde vertretenen Auffassung an; als solche gelten das Parlament und
das Volk (BGE 111 Ia 117/118 E. 2a; 110 Ia 181 E. 3a, je mit Hinweisen).

    b) Der Beschwerdeführer macht geltend, die Schaffung der
Delegationsnorm von Art. 44 des Organisationsgesetzes hebe das Stimmrecht
in unzulässiger Weise auf. Wie es sich damit verhält, hängt von der
Beantwortung der Frage ab, ob die mit dieser Vorschrift ausgesprochene
Delegation an den Regierungsrat zulässig ist, in Gesetzen und Dekreten
enthaltene Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die kantonale
Verwaltung auf dem Verordnungsweg anzupassen.

    Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Delegation
rechtsetzender Befugnisse an Verwaltungsbehörden zulässig, wenn sie nicht
durch das kantonale Recht ausgeschlossen wird, wenn sie auf ein bestimmtes
Gebiet beschränkt wird und das Gesetz die Grundzüge der Regelung selbst
enthält, soweit sie die Rechtsstellung der Bürger schwerwiegend berührt,
und wenn sie in einem der Volksabstimmung unterliegenden Gesetz enthalten
ist. Ob die Delegationsnorm diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen
genügt, prüft das Bundesgericht frei (BGE 104 Ia 310 E. 3c mit Hinweisen).

    c) Im vorliegenden Fall stellt sich zunächst die Frage, ob bestehendes
formelles Gesetzesrecht überhaupt auf dem Verordnungsweg geändert werden
kann.

    Aus dem rechtsstaatlichen Prinzip des Vorrangs des Gesetzes folgt
unter anderem der Grundsatz der Parallelität der Formen. Danach kann
eine Behörde ihre Anordnungen nur in jener Form gültig ändern, in der sie
erlassen wurden (BGE 108 Ia 184 E. 3d; 105 Ia 81 E. 6a; 101 Ia 591 E. 4a;
100 Ia 162 E. 5d; 98 Ia 111 E. 2d; 94 I 36 E. 3a). Mehr folgt aus diesem
Grundsatz nicht; namentlich ist es dem Gesetzgeber nicht verwehrt, die
Kompetenz zur Änderung oder Aufhebung einer Norm des formellen Gesetzes an
den Verordnungsgeber zu delegieren (vgl. BGE 103 Ia 379 E. 4b). Hingegen
muss sich die Befugnis zur Aufhebung oder Änderung formellen Gesetzesrechts
durch den Verordnungsgeber in klarer Weise aus der Delegationsnorm ergeben,
die ihrerseits in einem dem Referendum unterstehenden Gesetz enthalten
sein muss (BGE 103 Ia 378/379 E. 4b; 94 I 36 E. 3a).

    Diesem Erfordernis wurde im vorliegenden Fall dadurch Genüge getan,
dass die Delegationsnorm im Organisationsgesetz enthalten und dem Volk
unterbreitet worden ist.

    d) Der umstrittenen Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen an
den Regierungsrat stehen im weitern keine Normen des kantonalen Rechts
entgegen. Zwar beruft sich der Beschwerdeführer auf die Art. 41 Ziff. 4,
Art. 42 Ziff. 1 und Art. 66 KV. Die Vorschrift von Art. 41 Ziff. 4 KV
bestimmt jedoch lediglich, dass dem Grossen Rat unter Vorbehalt der
Volksrechte das Recht der Gesetzgebung nach Massgabe der Verfassung
zustehe. Art. 42 Ziff. 1 KV schreibt vor, dass unter anderem Gesetze der
Volksabstimmung zu unterstellen sind. Art. 66 KV zählt die Befugnisse
des Regierungsrates auf. Über die Frage der Zulässigkeit einer Delegation
dieser Rechtssetzungsbefugnisse an den Regierungsrat lässt sich diesen
Verfassungsvorschriften nichts entnehmen. Namentlich schliessen sie eine
solche Delegation nicht aus.

    e) Die Delegation ist sodann auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt. Zwar
sollen nach Art. 44 des Organisationsgesetzes sämtliche Gesetze und
Dekrete angepasst werden können. Wortlaut, systematische Stellung unter
dem Titel "D. Schlussbestimmungen" und die Beratungen der grossrätlichen
Spezialkommission (Protokoll, S. 78/79) zeigen, dass es nur um Anpassung
bestehender Gesetze und Dekrete an das neue Gesetz gehen kann. Obwohl sich
die Delegation auf sämtliche bestehenden Gesetze und Dekrete bezieht, ist
das Erfordernis der Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet gewahrt. Die
Delegation beschränkt sich auf den klar abgegrenzten, engen Bereich
der Anpassung von Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften für die
kantonale Verwaltung im Sinne des neuen Gesetzes.

    f) Die Delegation nach Art. 44 des Organisationsgesetzes betrifft
ferner keine Regelung, welche die Rechtsstellung der Bürger berührt. Es
geht um blosse Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften innerhalb der
Verwaltung. Solche bereits bestehenden Vorschriften sollen mit dem neuen
Gesetz in Übereinstimmung gebracht werden. Dabei hat sich der Regierungsrat
an das Organisationsgesetz zu halten und ist nicht befugt, von Bestimmungen
dieses Gesetzes abzuweichen. Wie sich auch aus der Liste ergibt, die bei
der Beratung für das neue Gesetz vorlag, halten sich die vorgesehenen
Gesetzesänderungen durchaus im Rahmen der Delegationsnorm. Substanzielle
Änderungen wie jene des Verwaltungsrechtspflegegesetzes, die den
Rechtsmittelweg im Verwaltungsverfahren regelt (Art. 16) und somit
die Rechte des Einzelnen berührt, wurden durch Aufnahme in das Gesetz
selbst vorgenommen (Art. 42 des Organisationsgesetzes). Der Grund zur
Übertragung der allgemeinen Anpassungskompetenz liegt einzig darin,
die betreffenden Vorschriften, die den Einzelnen in seinen Rechten nicht
berühren, auf einfache Weise dem Organisationsgesetz anzupassen. Zwar wäre
das auch ohne weiteres unmittelbar durch das neue Gesetz selbst möglich
gewesen. Doch ist die Begründung der kantonalen Behörden berechtigt,
wonach die Gesetzesvorlage durch den Verzicht auf eine in das Gesetz
integrierte Anpassung an Übersicht gewonnen hat und zudem allfällige
Fehler bei der Durchsicht des Rechtsbuchs auf einfache Art korrigiert
werden können. Die entgegenstehenden Bedenken des Beschwerdeführers
sind unbegründet. Namentlich kann der Regierungsrat die Gesetze nicht
"nach Gutdünken" anpassen, da Art. 44 des Organisationsgesetzes die
Kompetenz klar umschreibt, begrenzt und inhaltlich in den Rahmen
des neuen Gesetzes weist. Es liegt auch im Wesen einer jeden vom Volk
ausgesprochenen Delegation, dass der Stimmbürger dadurch sein Stimmrecht
einschränkt. Genügt die Delegationsnorm den verfassungsrechtlichen
Anforderungen, so hat sich der einzelne Stimmbürger diese Einschränkung
gefallen zu lassen, auch wenn er ihr nicht zugestimmt hat.

    g) Der Beschwerdeführer macht schliesslich geltend, durch eine
allfällige Änderung anderer Gesetze auf dem Verordnungsweg werde der
Grundsatz der Einheit der Materie verletzt.

    Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete politische
Stimmrecht gibt dem Bürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein
Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der
Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Daraus
wird unter anderem das generell gültige Prinzip der Einheit der Materie
abgeleitet, wonach verschiedene Materien nicht zu einer einzigen
Abstimmungsvorlage verbunden werden dürfen (BGE 111 Ia 198 E. 2b mit
Hinweis auf BGE 108 Ia 157 E. 3b und 104 Ia 223 E. 2b).

    Im vorliegenden Fall ist der Grundsatz der Einheit der Materie
klarerweise nicht verletzt. Die Gesetzesvorlage hat die Organisation
der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit im Kanton Schaffhausen zum
Gegenstand. Der umstrittene Art. 44 des Organisationsgesetzes ermöglicht
dem Regierungsrat die Anpassung anderer Gesetze und Dekrete in bezug
auf Organisations- und Zuständigkeitsvorschriften im Rahmen dieses
neuen Gesetzes. Es handelt sich demnach um dieselbe Materie, wie sie
im Organisationsgesetz geregelt ist. Darauf, ob jene Gesetze an sich
verschiedene Materien regeln, kann es nicht ankommen.