Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 79



108 V 79

21. Urteil vom 18. August 1982 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Bart und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 43 Abs. 2 IVG, Art. 24bis Abs. 1, 28 Abs. 3 und 35 Abs.  2 IVV.

    - Die Vorschriften über Leistungskumulation von Renten und
Verpflegungs-/Unterkunftskosten sind auf Hilflosenentschädigungen
sinngemäss anwendbar.

    - Anspruch auf Rente und Hilflosenentschädigung bei Unterbrechung
des Anstaltsaufenthalts von weniger als einem Kalendermonat.

Sachverhalt

    A.- Der 1959 geborene Martin Bart ist seit dem im Jahre 1975
erlittenen Badeunfall Tetraplegiker. Vom 1. November 1977 hinweg bezog
er sowohl eine ganze Rente als auch eine Hilflosenentschädigung der
Invalidenversicherung. Diese übernahm ferner die invaliditätsbedingten
Mehrkosten während der erstmaligen beruflichen Ausbildung, namentlich
die Kosten für Unterkunft und Verpflegung sowie Ausbildung in
allgemeinbildenden Fächern, in der Stiftung B. für die Zeit vom Frühjahr
1979 bis Frühjahr 1982.

    Bereits am 5. Dezember 1978 hatte die Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn die Rente gestützt auf Art. 43 Abs. 2 IVG bis zum Abschluss der
erstmaligen beruflichen Ausbildung sistiert. Diese Verfügung erlangte
unangefochten Rechtskraft. Im wesentlichen mit der gleichen Begründung
hob die Ausgleichskasse am 19. August 1980 auch die Hilflosenentschädigung
mit Wirkung ab 1. September 1980 verfügungsweise wieder auf.

    B.- Der Versicherte beschwerte sich gegen diese zweite Verfügung,
indem er geltend machte, die Stiftung B. sei jedes Jahr für mindestens 5
Wochen geschlossen, so dass die Bewohner gezwungen seien, für diese Zeit
selber für Unterkunft und Verpflegung zu sorgen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn vertrat die Auffassung,
dass der Versicherte in jenen Monaten, da ihm die Invalidenversicherung
Unterkunft und Verpflegung nicht während des ganzen Monats an mindestens 5
Tagen pro Woche gewähre, Anspruch auf Hilflosenentschädigung habe. Hingegen
habe er für jene Tage, an denen zur Hilflosenentschädigung auch Unterkunft
und Verpflegung von der Invalidenversicherung übernommen werden, gemäss
Art. 24bis IVV einen Selbstbehalt zu tragen. Für die Zeit, in welcher
die Stiftung B. geschlossen sei, stehe ihm somit ein Anspruch auf
Hilflosenentschädigung (und gleichzeitig auf Rente) zu. Damit erklärte
der kantonale Richter die vom Bundesamt für Sozialversicherung in
einem Kreisschreiben getroffene Regelung betreffend den Rentenanspruch
bei Unterbrechung des Anstaltsaufenthalts, auf die in den rechtlichen
Erwägungen zurückzukommen sein wird, für gesetzwidrig. In diesem Sinne
wurde die Beschwerde teilweise gutgeheissen und die Sache zur neuen
Verfügung an die Ausgleichskasse zurückgewiesen (Entscheid vom 20. März
1981).

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben und die Kassenverfügung wiederherzustellen.

    Martin Bart hat sich zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht vernehmen
lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 35 Abs. 2 IVV besteht der Anspruch auf
Hilflosenentschädigung nicht, solange der Versicherte sich zur Durchführung
von Massnahmen gemäss Art. 12, 13, 16, 17, 19 oder 21 IVG in einer
Anstalt aufhält.

    In ähnlicher Weise schliesst Art. 43 Abs. 2 IVG einen Rentenanspruch
u.a. dann aus, wenn die Invalidenversicherung bei Eingliederungsmassnahmen
die Kosten für Unterkunft und Verpflegung überwiegend oder vollständig
übernimmt. Die Übernahme dieser Kosten gilt als überwiegend, wenn die
Versicherung während mindestens 5 Tagen in der Woche für Unterkunft und
Verpflegung vollständig aufkommt (Art. 28 Abs. 3 IVV). Übernimmt die
Invalidenversicherung bei Abklärungs- oder Eingliederungsmassnahmen ohne
Ausrichtung eines Taggeldes die Unterkunfts- und Verpflegungskosten ganz
oder teilweise, so ist dem Versicherten, der gleichzeitig eine Rente der
Invalidenversicherung bezieht, ein Selbstbehalt aufzuerlegen (Art. 24bis
Abs. 1 IVV).

Erwägung 2

    2.- In seinem Kreisschreiben über "Die Einschränkung von
Leistungskumulationen in der Invalidenversicherung" (ZAK 1979 S. 194) führt
das Bundesamt für Sozialversicherung im Zusammenhang mit der Kumulation von
Invalidenrente einerseits und Abklärungs- oder Eingliederungsmassnahmen
mit überwiegender Übernahme von Unterkunfts- und Verpflegungskosten
anderseits aus:

    "Für nicht volle Kalendermonate bei Beginn und Ende der Massnahme
   besteht unter den allgemeinen Voraussetzungen Anspruch auf eine

    Invalidenrente. (Ein Kalendermonat gilt dann als nicht voll, wenn die

    Massnahme nach dem ersten Werktag des Kalendermonats beginnt oder
vor dem
   letzten Werktag des Kalendermonats endet.) In dieser Zeit wird auch kein

    Selbstbehalt angerechnet. Unterbrechungen können nur dann zum

    Wiederaufleben des Rentenanspruchs führen, wenn der Unterbruch der

    Massnahme durch Ferien, Krankheit oder andere Gründe mindestens einen
   vollen Kalendermonat dauert. Die Nichtberücksichtigung kürzerer Perioden
   ist darin begründet, dass für Einzeltage im Monat des Beginns und der

    Beendigung der Massnahme kein Selbstbehalt angerechnet wird,
sondern dass
   die Rente mit den Leistungen für Unterkunft und Verpflegung kumuliert
   wird" (S. 199).

    a) In diesem Kreisschreiben wird lediglich das Verhältnis zwischen
einem allfälligen Rentenanspruch und der Übernahme der Kosten für
Unterkunft und Verpflegung durch die Invalidenversicherung geregelt,
jedoch nicht dasjenige zwischen diesen Kosten einerseits und dem
gleichzeitigen Anspruch auf Hilflosenentschädigung anderseits. Indessen
hat die Ausgleichskasse die im Kreisschreiben getroffene Regelung
auch der Aufhebung der Hilflosenentschädigung zugrundegelegt. Ob die
sinngemässe Anwendung von Vorschriften betreffend die Kumulation von
Renten sowie Verpflegungs- und Unterkunftskosten auf das Zusammenfallen
solcher Kosten mit einer Hilflosenentschädigung zulässig ist, hat der
kantonale Richter nicht geprüft. Das Bundesamt bejaht dies in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Hinweis darauf, dass im einen
wie im andern Fall die gleichen Bestimmungen über die Einschränkung von
Leistungskumulationen gelten müssten. Dieser Auffassung ist beizupflichten,
handelt es sich doch um durchaus vergleichbare Sachverhalte.

    b) Die Vorinstanz hält die bundesamtliche Weisung über die
Leistungskumulation bei Unterbrechung des Anstaltsaufenthalts für
gesetzwidrig und den Interessen des Versicherten zuwiderlaufend. Dieser
Auffassung ist beizupflichten, wie sich aus folgenden Überlegungen ergibt.

    Die gesetzliche Grundlage für die Einschränkung von Überentschädigungen
beim Zusammenfallen von Leistungen bildet Art. 43 IVG. Nach dessen
Abs. 2 besteht - wie bereits gesagt - u.a. kein Anspruch auf Rente der
Invalidenversicherung, wenn diese bei Eingliederungsmassnahmen die
Kosten für Unterkunft und Verpflegung überwiegend oder vollständig
übernimmt, wobei der Bundesrat Ausnahmen vorsehen kann. Abs. 2
schliesst also Leistungskumulationen in den im Gesetz genannten Fällen
prinzipiell aus, überlässt es aber dem Bundesrat, durch Verordnung unter
bestimmten Umständen entgegen dem vom Gesetzgeber aufgestellten Grundsatz
ausnahmsweise dennoch eine Leistungskumulation zuzulassen. Durch Abs. 3
von Art. 43 IVG erteilt der Gesetzgeber dem Bundesrat den Auftrag
und die Kompetenz zum Erlass von Vorschriften zur Verhinderung von
Überentschädigungen u.a. beim Zusammenfallen von mehreren Leistungen der
Invalidenversicherung. Im Rahmen dieser Delegationsnormen hat der Bundesrat
für das Zusammenfallen von Renten sowie Verpflegungs- und Unterkunftskosten
bei Abklärungs- und Eingliederungsmassnahmen die Art. 24bis und Art. 28
Abs. 3 IVV erlassen. Die vom Bundesamt für solche Fälle getroffene,
vom kantonalen Richter beanstandete Regelung der Leistungskumulation
bei Unterbrechung des Anstaltsaufenthalts lässt sich weder direkt noch
indirekt aus einer der zitierten Verordnungsbestimmungen oder aus einer
Gesetzesbestimmung ableiten. Damit fehlt es aber an einer Rechtsgrundlage
für die durch das Kreisschreiben vorgezeichnete Ordnung.

    Wohl meint das Bundesamt, die Verwaltung wäre in unzumutbarer Weise
belastet, wenn sie jeden kleineren oder grösseren Unterbruch der Übernahme
der Verpflegungs- und Unterkunftskosten berücksichtigen und die Rente bzw.
Hilflosenentschädigung wieder ausrichten und erst noch einen Selbstbehalt
berechnen müsste. Mit der im Kreisschreiben getroffenen Ordnung sei ein
Ausgleich geschaffen worden, der sowohl die Interessen des Versicherten
als auch jene der Verwaltung gleichmässig berücksichtige. Dem Sinn und
Geist der in Frage stehenden Gesetzesbestimmung (Art. 43 Abs. 2 IVG) werde
dadurch nicht Gewalt angetan. - Es liegt auf der Hand, dass sich durch
die vom Bundesamt getroffene Ordnung wohl eine gewisse administrative
Vereinfachung ergäbe. Das ist aber in Anbetracht der für diese Ordnung
fehlenden Rechtsgrundlage nicht entscheidend.

Erwägung 3

    3.- Aus diesen Darlegungen ergibt sich, dass der Beschwerdegegner in
der Zeit, in welcher die Stiftung B. nicht (während des ganzen Monats) an
mindestens 5 Tagen in der Woche für Unterkunft und Verpflegung aufkommt,
Anspruch auf Hilflosenentschädigung hat. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
ist als unbegründet abzuweisen.

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.