Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 61



108 V 61

17. Auszug aus dem Urteil vom 18. August 1982 i.S. Balzarini gegen
Ausgleichskasse des Basler Volkswirtschaftsbundes und Obergericht des
Kantons Aargau Regeste

    Art. 4 Abs. 2 IVG. Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität,
insbesondere bei Hilfsmitteln (Erw. 2b; Zusammenfassung der
Rechtsprechung).

    Art. 6 Abs. 1 IVG. Der Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch Heirat
ändert nichts daran, dass die versicherungsmässigen Voraussetzungen bei
Eintritt der Invalidität erfüllt sein müssen (Erw. 4; Bestätigung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die 1947 als Jugoslawin in Jugoslawien geborene Katica Balzarini
musste sich im Alter von zwölf Jahren wegen eines Fibrosarkoms einer
Oberschenkelamputation links unterziehen. Im Jahre 1968 kam sie in
die Schweiz; seit Juni 1974 ist sie als Laborantin in der Firma H. in
Basel tätig. Durch Heirat am 17. Dezember 1976 erwarb sie das Schweizer
Bürgerrecht.

    Mit Verfügung vom 9. Januar 1981 lehnte die Ausgleichskasse
des Basler Volkswirtschaftsbundes u.a. die Kostenübernahme einer
Oberschenkelprothese ab. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt,
nach dem Sozialversicherungsabkommen mit Jugoslawien hätten jugoslawische
Staatsangehörige Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, solange sie
in der Schweiz wohnten und, unmittelbar bevor die Massnahme objektiv
erstmals in Betracht komme, während mindestens eines vollen Jahres
Beiträge geleistet hätten. Weil die Abgabe einer Beinprothese erstmals
1959 notwendig geworden sei, habe bei der Wohnsitznahme in der Schweiz
kein Leistungsanspruch bestanden. Ein solcher sei auch durch die Heirat am
17. Dezember 1976 nicht entstanden, weil nach der Rechtsprechung der Erwerb
des Schweizer Bürgerrechts keinen Einfluss auf die versicherungsmässigen
Voraussetzungen habe.

    B.- Die gegen die Verfügung vom 9. Januar 1981 erhobene Beschwerde
wurde vom Obergericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 2. Juni 1981
abgewiesen.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Antrag auf
Kostenübernahme für Prothesen erneuert.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 6 Abs. 1 IVG haben Anspruch auf Leistungen der
Invalidenversicherung alle bei Eintritt der Invalidität versicherten
Schweizer Bürger, Ausländer und Staatenlosen. Volljährige Ausländer
und Staatenlose sind nur anspruchsberechtigt, solange sie ihren
zivilrechtlichen Wohnsitz in der Schweiz haben und sofern sie bei Eintritt
der Invalidität während mindestens zehn vollen Jahren Beiträge geleistet
oder ununterbrochen während 15 Jahren in der Schweiz zivilrechtlichen
Wohnsitz gehabt haben (Art. 6 Abs. 2 IVG).

    Gemäss Art. 8 lit. a des am 1. März 1964 in Kraft getretenen
Sozialversicherungsabkommens mit Jugoslawien vom 8. Juni 1962 steht
jugoslawischen Staatsangehörigen ein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen
nur zu, solange sie in der Schweiz Wohnsitz haben und wenn sie unmittelbar
vor dem Eintritt der Invalidität während mindestens eines Jahres Beiträge
an die schweizerische Versicherung entrichtet haben.

    b) Nach Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die Invalidität als eingetreten,
sobald sie die für den Anspruch auf die jeweilige Leistung erforderliche
Art und Schwere erreicht hat. Dieser Zeitpunkt ist objektiv aufgrund
des Gesundheitszustandes festzustellen; zufällige externe Faktoren sind
unerheblich (BGE 105 V 60).

    Hinsichtlich der Hilfsmittel tritt der Versicherungsfall ein, wenn
der Gesundheitsschaden objektiv erstmals ein solches Gerät notwendig
macht, wobei dieser Zeitpunkt nicht mit demjenigen der erstmaligen
Behandlungsbedürftigkeit übereinzustimmen braucht (BGE 103 V 130, 100 V
169). Bei Prothesen nach Amputationen ist auf den Zeitpunkt abzustellen,
in dem die Behandlung des Amputationsstumpfes so weit fortgeschritten ist,
dass die Anpassung des Hilfsmittels unmittelbar vorgenommen werden kann
(ZAK 1972 S. 671).

    Sind die versicherungsmässigen Voraussetzungen bei Eintritt der
Invalidität nicht erfüllt, gehen auch gleichartige spätere Massnahmen,
welche denselben Versicherungsfall zum Gegenstand haben, nicht zu Lasten
der Invalidenversicherung. Demgemäss hat die Invalidenversicherung
für den Ersatz einer Prothese nicht aufzukommen, wenn der Invalide
bei der erstmaligen Prothesenversorgung nicht versichert war (nicht
veröffentlichtes Urteil Jimenez vom 15. Januar 1973; vgl. auch Rz. 50 der
Wegleitung über Invalidität und Hilflosigkeit, gültig ab 1. Januar 1979).

Erwägung 3

    3.- a) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass der
Versicherungsfall im Jahre 1959 eingetreten ist, als sich die
Beschwerdeführerin einer Oberschenkelamputation links unterziehen
musste und erstmals eine prothetische Versorgung vorgenommen wurde. Mit
Bezug auf diesen Versicherungsfall gilt die Beschwerdeführerin nach
der schweizerischen Gesetzgebung seit dem 1. Januar 1960, dem Datum
des Inkrafttretens des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung,
als invalid (Art. 85 Abs. 1 IVG). In jenem Zeitpunkt hatte sie jedoch
Wohnsitz in Jugoslawien und war in der Schweiz nicht versichert. Sie
war es ebensowenig bei Inkrafttreten des Sozialversicherungsabkommens
mit Jugoslawien am 1. März 1964, welches nach dessen Art. 22 Ziff. 1 auf
Versicherungsfälle anwendbar ist, die vor seinem Inkrafttreten eingetreten
sind. Für den 1959 in Jugoslawien eingetretenen Versicherungsfall stand
der Beschwerdeführerin nach der Wohnsitznahme in der Schweiz kein Anspruch
auf Leistungen der Invalidenversicherung zu. Weil die versicherungsmässigen
Voraussetzungen bei Eintritt der Invalidität nicht erfüllt waren, hat die
Invalidenversicherung auch für den im vorliegenden Verfahren streitigen
prothetischen Behelf nicht aufzukommen.
   b) ...

Erwägung 4

    4.- a) Eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung folgt auch
nicht aus dem Umstand, dass die Beschwerdeführerin am 17. Dezember 1976
durch Heirat Schweizer Bürgerin geworden ist. Der Erwerb des Schweizer
Bürgerrechts ändert nichts daran, dass die versicherungsmässigen
Voraussetzungen bei Eintritt der Invalidität erfüllt sein müssen. Wie
das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Locher vom 18. August 1978
festgestellt hat, kann diesbezüglich auch keine (unechte) Gesetzeslücke
angenommen werden, welche vom Richter auszufüllen wäre (ZAK 1979 S. 117).

    Zum Einwand der Beschwerdeführerin, die gesetzliche Regelung (Art. 6
IVG) verstosse gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit, ist festzustellen,
dass die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemein
verbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge
vom Richter nicht auf ihre Verfassungsmässigkeit überprüft werden können
(Art. 113 Abs. 3 und Art. 114bisAbs. 3 BV). Dass der Leistungsansprecher
bei Eintritt der Invalidität versichert sein muss, stellt im übrigen einen
allgemeinen Grundsatz dar, welcher auch für Schweizer Bürger Geltung
hat. So steht auch einem in der Schweiz wohnhaften Schweizer Bürger,
der bei Eintritt der Invalidität Wohnsitz im Ausland hatte (und nicht
der freiwilligen Versicherung angehörte), für diesen Versicherungsfall
kein Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung zu.

    b) Fehl geht schliesslich der Hinweis auf das Urteil Ziegler vom 19.
September 1980 (BGE 106 V 160), in welchem das Eidg. Versicherungsgericht
entschieden hat, dass einem in der Schweiz adoptierten Kind einer
ausländischen Mutter vom Zeitpunkt der Adoption an Leistungen der
Invalidenversicherung zustehen. Dem Einwand der Beschwerdeführerin, es
sei nicht einzusehen, weshalb eine durch Heirat Schweizerin gewordene
Frau weniger Rechte haben sollte als ein durch Adoption Schweizer
gewordenes Kind, ist entgegenzuhalten, dass das Adoptivkind nach Art. 267
Abs. 1 ZGB die Rechtsstellung eines Kindes der Adoptiveltern erhält. In
sozialversicherungsrechtlicher Hinsicht bedingt diese Gleichstellung,
dass von der Annahme ausgegangen wird, das Adoptivkind sei als Kind der
Adoptiveltern geboren worden (BGE 106 V 164 Erw. 3). Demgegenüber besteht
für Ausländerinnen, die einen Schweizer heiraten, keine gesetzliche
Bestimmung, welche sozialversicherungsrechtlich zu einer vom allgemeinen
Grundsatz abweichenden Behandlung Anlass geben würde. Dem genannten
Entscheid kann daher schon im Hinblick auf die unterschiedliche Sach-
und Rechtslage für den vorliegenden Fall nicht präjudizielle Bedeutung
beigemessen werden ...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.