Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 245



108 V 245

54. Urteil vom 30. Dezember 1982 i.S. Paolucci gegen Schweizerische
Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 104 lit. a, 105 Abs. 2 und Art. 132 OG, Art. 3 Abs. 3 KUVG.

    - Überprüfungsbefugnis beim Streit um den Ausschluss eines Versicherten
aus der Krankenkasse (Erw. 1).

    - Der Kassenausschluss setzt ein besonders schweres Verschulden des
Versicherten voraus (Erw. 2, 3).

    - Berät ein Kassenfunktionär den Aufnahmebewerber oder hilft er
ihm bei der Beantwortung der im Gesuchsformular gestellten Fragen,
so entbindet dies den Gesuchsteller weder von der Pflicht zu Wahrheit
und sachgemässer Sorgfalt noch von seiner Verantwortlichkeit für die
unterschriftlich bestätigten Angaben. Ein Abweichen von diesem Grundsatz
rechtfertigt sich nur, wenn das Verhalten des Kassenfunktionärs eine
Behaftung des Bewerbers bei den unvollständigen oder wahrheitswidrigen
Angaben als gegen Treu und Glauben verstossend erscheinen lässt (Erw. 4a).

    - Selbständige Abklärungspflicht der Krankenkasse (Erw. 4b)?

Sachverhalt

    A.- Ende Juni 1979 beantragte Donato Paolucci den Beitritt zur
Schweizerischen Krankenkasse Helvetia (im folgenden Kasse genannt) für
Krankenpflege und ein Krankengeld von Fr. 100.-- sowie für ein Spitalgeld
von Fr. 24.-- und einen kombinierten Spitalzusatz (Versicherungsabteilung
HU 1). Die Kasse nahm ihn auf den 1. Juli 1979 antragsgemäss und ohne
Vorbehalt auf.

    Mitte Oktober 1979 begab sich Donato Paolucci wegen Rückenschmerzen
in ärztliche Behandlung und vom 5. bis 26. Februar 1980 musste er sich in
der Rheumaklinik Bad Schinznach hospitalisieren lassen. Die Abklärungen
der Kasse ergaben, dass Donato Paolucci bereits im Jahre 1976 und von
Februar bis Juli 1979 wegen Rückenbeschwerden ärztlicher Hilfe bedurft
hatte. Da im Aufnahmegesuch angegeben worden war, es bestünden zur Zeit
keine Krankheiten und es hätte in den letzten 5 Jahren keine ärztliche
Behandlung stattgefunden, schloss ihn die Kasse mit Verfügung vom
8. Juli 1980 rückwirkend auf den 1. Juli 1979 aus und behielt sich die
Rückforderung der erbrachten Krankenpflege- und Krankengeldleistungen
von Fr. 21'027.20 abzüglich der geleisteten Monatsbeiträge vor.

    B.- Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Obergericht
(Versicherungsgericht) des Kantons Aargau am 3. Februar 1981 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Donato Paolucci
sinngemäss die Aufhebung des Kassenausschlusses.

    Die Kasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
beantragt, die Sache zur Ergänzung des Sachverhalts und zur Neubeurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 104 lit. a OG kann mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens
gerügt werden. Die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig oder
unvollständig ist oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
erfolgte (Art. 104 lit. b in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 OG).

    Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen (einschliesslich deren Rückforderung) erstreckt
sich dagegen die Überprüfungsbefugnis des Eidg. Versicherungsgerichts
auch auf die Angemessenheit der angefochtenen Verfügung; das Gericht ist
dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen
Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der Parteien zu deren
Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG; erweiterte Kognition).

    b) Der Streit um die Mitgliedschaft (Kassenausschluss) unterliegt
der Kognition gemäss Art. 104 lit. a OG (BGE 97 V 191; RSKV 1982 Nr. 496
S. 156, 1970 Nr. 82 S. 215 Erw. 2; nicht veröffentlichte Urteile Cochard
vom 4. Februar 1981 und Vacchelli vom 4. April 1978). Häufig ist jedoch
im gleichen Beschwerdeverfahren nebst dem Kassenausschluss auch die mit
diesem begründete Verweigerung von Kassenleistungen oder die Rückforderung
bereits erbrachter Kassenleistungen streitig. Diesfalls muss für beide
Streitfragen der gleiche Sachverhalt zugrundegelegt werden, der vom
Eidg. Versicherungsgericht mit der erweiterten Kognition überprüft
wird (Attraktionsprinzip; BGE 98 V 276 Erw. 3). Dagegen richtet sich
die rechtliche Beurteilung nach der Natur der einzelnen Streitpunkte;
für den Leistungsstreit ist das Eidg. Versicherungsgericht nicht an die
Parteibegehren gebunden und es kann die Angemessenheit frei prüfen; für
den streitigen Kassenausschluss aber gilt die Kognition gemäss Art. 104
lit. a OG.

    c) Nach Auffassung des Bundesamtes für Sozialversicherung besteht
im vorliegenden Fall ein genügend enger Zusammenhang zwischen dem
Kassenausschluss und der Rückforderung, um die erweiterte Kognition
zum Zuge kommen zu lassen; zwar sei die Rückerstattung noch nicht
formell verfügt worden, mit dem Vorbehalt der Rückforderung in der
Ausschluss-Verfügung habe die Kasse jedoch eine Vorentscheidung auch
über Versicherungsleistungen getroffen. Dem kann indessen nicht
beigepflichtet werden. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist
in Übereinstimmung mit der angefochtenen Kassenverfügung einzig die
Frage des Mitgliedschaftsverlusts. Dass der Kassenausschluss für den
Beschwerdeführer finanzielle Folgen haben kann, ist nicht massgebend.
Entscheidend ist, dass prozessual keine Leistungen streitig sind.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 21 Abs. 1 lit. a der Statuten der Kasse kann ein
Mitglied ausgeschlossen werden, wenn es im Aufnahme- oder Übertrittsgesuch
die ihm gestellten Fragen wahrheitswidrig oder unvollständig beantwortet
hat. Nach der Rechtsprechung sind Bestimmungen dieser Art nicht
bundesrechtswidrig (BGE 96 V 3 Erw. 2b, EVGE 1967 S. 141 Erw. 2, RSKV
1974 Nr. 196 S. 89, nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April
1982). Da es sich indessen um eine Sanktion handelt, ist im Einzelfall
der allgemeine verwaltungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismässigkeit
zu beachten, welcher verlangt, dass die Sanktion in einem vernünftigen
Verhältnis zu dem von der Kasse verfolgten Zweck und zum Verschulden des
Versicherten steht (BGE 106 V 173 Erw. 2 mit Hinweisen).

    Der Kassenausschluss ist die strengste Sanktion und für den Betroffenen
meist mit einschneidenden Folgen verbunden. Daher setzt er ein besonders
schweres Verschulden des Versicherten bzw. Umstände voraus, welche
die fragliche Mitgliedschaft für die Kasse schlechthin als unzumutbar
erscheinen lassen (RSKV 1978 Nr. 322 S. 95, nicht veröffentlichtes Urteil
Amacher vom 5. April 1982).

    b) Schuldhaft verletzt ein Gesuchsteller die Anzeigepflicht, wenn er
der Kasse auf deren Frage hin eine bestehende Krankheit oder eine vorher
bestandene, zu Rückfällen neigende Krankheit nicht anzeigt, obwohl er darum
wusste oder bei der ihm zumutbaren Aufmerksamkeit darum hätte wissen müssen
(BGE 106 V 173 Erw. 2 mit Hinweisen). Der Aufnahmebewerber ist bereits auf
dem Beitrittsformular an gut sichtbarer Stelle mit einem ausdrücklichen,
von den andern Bestimmungen deutlich abgehobenen Hinweis auf die im
Falle einer Anzeigepflichtverletzung möglichen schwersten Sanktionen,
den Ausschluss aus der Kasse und den Entzug der Leistungen, aufmerksam zu
machen. Vorbehalten bleiben Ausnahmefälle, in denen das zu beanstandende
Verhalten eines Versicherten oder Aufnahmebewerbers als so schwerwiegend
erscheint, dass nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die fragliche
Sanktion auch ohne Einhaltung der genannten Androhung zulässig ist (BGE
96 V 3 Erw. 2c; EVGE 1968 S. 165; RSKV 1980 Nr. 406 S. 89, 1976 Nr. 242 S.
46, 1974 Nr. 196 S. 89, 1970 Nr. 83 S. 222; nicht veröffentlichtes Urteil
Schudel vom 8. September 1981).

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer war im Jahre 1976 wegen Rückenschmerzen
in Behandlung bei Dr. med. S. Ende 1976 suchte er mehrere Male wegen
Prostatitis und Neurasthenie Dr. med. V. auf. Am 23. Februar 1977
begab er sich zu diesem Arzt wegen Rückenbeschwerden, am 23. Januar
1979 erneut wegen des Prostataleidens und im Februar 1979 wegen einer
heftigen Lumbalgie. Vom 12. Februar bis 12. März 1979 war er vollständig
arbeitsunfähig. Da Injektionen und Medikamente keinen Erfolg brachten,
wandte er sich an Dr. med. S., der ihn zur Untersuchung an die Rheumaklinik
des Kantonsspitals Aarau überwies. Die Behandlung dauerte bis September
1979. Der Beschwerdeführer gab diese Tatsachen im Aufnahmegesuchsformular
nicht an, indem er die Fragen, ob er in den letzten fünf Jahren
in ärztlicher Behandlung gestanden habe und ob zurzeit Krankheiten,
Krankheitsanlagen oder Gebrechen bestünden, ausdrücklich verneinte. Die
Frage, ob er sich vollständig gesund fühle, bejahte er. Es liegt somit
eine Anzeigepflichtverletzung vor.

    b) Zu prüfen ist, ob das Verschulden des Beschwerdeführers so schwer
wiegt, dass sich der Ausschluss aus der Kasse rechtfertigt. Das ist zu
bejahen. Es handelt sich bei den verschwiegenen Leiden um erhebliche
gesundheitliche Störungen, die intensive ärztliche Behandlung notwendig
machten und Rückfälle erwarten liessen. Darüber war oder musste sich
der Beschwerdeführer im klaren sein. Die Vorinstanz hat erkannt, dass er
sodann die ihm im Gesuchsformular gestellten Fragen verstanden hat und
sich sowohl der Bedeutung wie der Unrichtigkeit seiner Antworten bewusst
gewesen ist. Hinzu kommt die weitere, für das Eidg. Versicherungsgericht
verbindliche Feststellung der Vorinstanz, dass das Beitrittsgesuch als
Reaktion auf die von der früheren Kasse (Schweizerische Krankenkasse
Zurzach) aus gesundheitlichen Gründen verweigerte Versicherung für
Krankengeld und Spitalzusatz erfolgt ist und dass der Beschwerdeführer
seine Leiden offensichtlich in der Absicht verschwiegen hat, einen
Versicherungsschutz zu erwirken, den ihm die bisherige Kasse nicht hat
gewähren wollen. Damit ist ein wesentliches Kennzeichen eines besonders
schweren Verschuldens gegeben, nämlich jenes dolose Erschleichen einer
Versicherungsdeckung, welches das gegenseitige Vertrauensverhältnis in
einem Masse stört, dass der Kasse die Mitgliedschaft nicht zugemutet werden
kann (nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). Unter
diesen Umständen ist der Kassenausschluss nicht unverhältnismässig.

Erwägung 4

    4.- a) Demgegenüber macht der Beschwerdeführer geltend, er habe dem
Sektionskassier bei der Gesuchstellung alle erforderlichen Auskünfte
erteilt und dieser habe ihm dann diktiert, wie das Formular auszufüllen
sei; er habe im Vertrauen auf die Richtigkeit dieser Anweisungen
gehandelt. Berät ein Kassenfunktionär den Aufnahmebewerber oder hilft er
ihm bei der Beantwortung der Fragen im Formular für die Beitrittserklärung,
so entbindet das den Gesuchsteller weder von der Pflicht zu Wahrheit
und sachgemässer Sorgfalt noch von der Verantwortlichkeit für die
unterschriftlich bestätigten Angaben (BGE 102 V 198 Erw. 4 und 96 V 9
Erw. 1; nicht veröffentlichtes Urteil Amacher vom 5. April 1982). Ein
Abweichen von diesem Grundsatz vermöchte sich nur zu rechtfertigen,
wenn das Verhalten des Kassenfunktionärs anlässlich der Beratung oder der
Mithilfe eine Behaftung des Aufnahmebewerbers bei den unvollständigen oder
wahrheitswidrigen Angaben als gegen Treu und Glauben verstossend erscheinen
liesse (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 108 V 28 Erw. 2). Solche Umstände
sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Die Vorinstanz hat festgestellt,
dass der Sektionskassier den Beschwerdeführer weder durch falsche Auskünfte
noch durch anderweitig irreführendes Verhalten zu einer wahrheitswidrigen
Gesundheitserklärung veranlasst und dass der Beschwerdeführer den
Kassier auf die hier streitigen Leiden nicht aufmerksam gemacht hatte.
Diese Feststellung bindet das Eidg. Versicherungsgericht. Es ist daher
nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer bei seinen Angaben im
schriftlichen Aufnahmegesuch nicht behaftet werden dürfte.

    b) Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, die Kasse hätte
seine Angaben bei der Krankenkasse Zurzach ohne weiteres überprüfen
können und wäre namentlich im Hinblick auf die schweren Folgen bei
einer Anzeigepflichtverletzung hiezu auch verpflichtet gewesen. Ob die
Krankenkassen zu solchen Abklärungen verhalten werden können und inwieweit
im Lichte der Schweigepflicht der Kassen gemäss Art. 40 KUVG Auskünfte
überhaupt zulässig sind, liesse sich indessen höchstens fragen, wenn der
Gesuchsteller die aufnehmende Kasse auf die Leistungen oder Unterlagen der
bisherigen Kasse verwiesen hätte. So hat das Eidg. Versicherungsgericht
mit Bezug auf Versicherte, die bei ihrer Kasse eine Höherversicherung
beantragen, entschieden, dass die Kassen nicht verpflichtet werden könnten,
von sich aus regelmässig in ihren Akten über den Bewerber Nachforschungen
über bestandene Krankheiten und früher erbrachte Leistungen anzustellen;
um eine solche Abklärungspflicht der Kasse auszulösen, bedürfe es zumindest
eines entsprechenden Hinweises seitens des Versicherten (BGE 96 V 9 Erw. 1;
EVGE 1969 S. 7 Erw. 4; RSKV 1980 Nr. 424 S. 211 Erw. 4, 1977 Nr. 305
S. 216 Erw. 2d, 1974 Nr. 194 S. 78, 1971 Nr. 113 S. 236 Erw. 2). Das hat in
vermehrtem Masse dann zu gelten, wenn die Erkundigungen bei andern Kassen
einzuholen wären. Hinweise irgendwelcher Art auf die fraglichen Leiden und
die Leistungen der Krankenkasse Zurzach hatte der Beschwerdeführer nach
den vorinstanzlichen Feststellungen nicht gemacht, so dass sein Einwand
unbehelflich ist. Im übrigen vermöchte die gerügte Unterlassung der Kasse
sein eigenes Verschulden nicht als vermindert oder gemildert erscheinen
zu lassen. Ein allfälliges Verschulden der Kasse wäre nur beachtlich,
soweit sie in einem Masse gegen ihre Pflichten verstossen hätte, dass der
Vorwurf der Verschweigung den Grundsatz von Treu und Glauben verletzen
müsste, die Kasse sich mithin noch tadelnswerter verhalten hätte als der
Versicherte (RSKV 1979 Nr. 361 S. 73, 1977 Nr. 279 S. 42 Erw. 1). Davon
kann hier indessen nicht die Rede sein.

    c) Verfehlt ist schliesslich die Geltendmachung eines Zügerrechts. Der
Beschwerdeführer erfüllt die hiefür erforderlichen Voraussetzungen des
Art. 7 oder Art. 8 Abs. 1 bis 3 KUVG nicht. Die Statuten der Kasse räumen
keine weitergehende Freizügigkeit ein.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.