Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 22



108 V 22

6. Urteil vom 28. April 1982 i.S. Office des allocations aux personnes
âgées, aux veuves, aux orphelins et aux invalides gegen Ausgleichskasse
des Kantons Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV
betreffend H. Regeste

    Art. 132 OG. Im Verfahren um die örtliche Zuständigkeit zur Festsetzung
und Auszahlung der Ergänzungsleistungen gilt die umfassende Kognition
(Erw. 1).

    Art. 1 Abs. 3 ELG und Art. 26 ZGB. Begründung des Wohnsitzes am Ort
des Anstaltsaufenthaltes? (Erw. 2 und 3.)

Sachverhalt

    A.- Die 1908 geborene, seit Januar 1956 geschiedene Anny H.  wohnte ab
Juni 1976 bei ihrer Tochter Susanne G. in Genf. Ab Februar 1977 hielt sie
sich in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten im Kanton Genf auf, und am
12. Mai 1979 begab sie sich in das Pflegeheim Weinfelden, Kanton Thurgau.

    Am 19. September 1979 teilte das Office des allocations aux personnes
âgées, aux veuves, aux orphelins et aux invalides (im folgenden OAPA) Anny
H. mit, dass die Ausrichtung der in ihrem Namen dem Service d'assistance
médicale, Genf, ausbezahlten Ergänzungsleistungen mit Wirkung ab
1. September 1979 wegen Wohnsitzwechsels eingestellt werde. Gleichzeitig
stellte das OAPA der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau das Formular
betreffend Wechsel des Wohnsitzkantons zu.

    Die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau lehnte die Auszahlung
der Ergänzungsleistung mit der Begründung ab, dass Anny H. im Kanton
Thurgau keinen Wohnsitz begründet habe. In der Folge unterbreitete
das OAPA den Fall dem Bundesamt für Sozialversicherung, welches die
kantonalen Behörden anwies, nach den Verwaltungsweisungen (Rz. 22 der
Wegleitung über die Ergänzungsleistungen) vorzugehen. Mit Verfügung vom
16. Juni 1980 sprach die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau Anny H. eine
monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 700.-- ab. 1. September 1979 und
von Fr. 734.-- ab 1. Januar 1980 zu; dabei stellte sie fest, dass die
Auszahlung (an das "Fürsorgeamt Genf") provisorisch erfolge, weil der
Kanton Genf für die Ergänzungsleistung zuständig sei. Mit einer weiteren
Verfügung gleichen Datums forderte sie vom OAPA die ab 1. September 1979
ausbezahlten Ergänzungsleistungen zurück.

    B.- Das OAPA reichte bei der Rekurskommission des Kantons
Thurgau für die AHV Beschwerde ein mit dem Begehren um Aufhebung der
Rückerstattungsverfügung vom 16. Juni 1980.

    In Abweisung der Beschwerde entschied die kantonale Rekurskommission,
dass nicht die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau, sondern der Kanton
Genf für die Ausrichtung der Ergänzungsleistung zuständig sei. Die
Rückerstattungsverfügung hob sie "einstweilen" auf, weil zuerst die
kantonale Zuständigkeit für die Auszahlung der Ergänzungsleistung
rechtskräftig festgelegt werden müsse (Entscheid vom 5. November 1980).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das
OAPA, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der Ausgleichskasse
des Kantons Thurgau vom 16. Juni 1980 seien aufzuheben und es sei
festzustellen, dass Anny H. Wohnsitz im Pflegeheim Weinfelden, Kanton
Thurgau, habe; ferner sei das OAPA anzuweisen, die ausgerichteten
Ergänzungsleistungen der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau
zurückzuzahlen.

    Während die Ausgleichskasse des Kantons Thurgau auf ihre Vernehmlassung
im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren verweist, enthält sich das
Bundesamt für Sozialversicherung einer Stellungnahme. Namens der
beigeladenen Anny H. beantragt deren Tochter Susanne G., es sei
festzustellen, dass Anny H. im Pflegeheim Weinfelden Wohnsitz habe
und dass demzufolge die Ergänzungsleistung durch den Kanton Thurgau
auszurichten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im vorliegenden Verfahren geht es nicht unmittelbar um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, sondern um die
Zuständigkeit der beteiligten Kantone zur Festsetzung und Auszahlung der
Ergänzungsleistung. Die streitige Rechtsfrage kann sich jedoch insofern
auf die Versicherungsleistungen auswirken, als die Ergänzungsleistungen
im Rahmen der bundesrechtlichen Vorschriften in den einzelnen Kantonen
unterschiedlich berechnet werden. Zudem ginge es im Hinblick darauf, dass
sich die am Verfahren beteiligten Kantone als gleichrangige Hoheitsträger
gegenüberstehen, nicht an, dass die Rekursbehörde jenes Kantons, der als
erster die Zuständigkeit des andern Kantons behauptet, den Sachverhalt
im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG verbindlich festlegt. Ungeachtet dessen,
ob der Versicherte oder einer der beteiligten Kantone Beschwerde führt,
unterstehen Verfahren der vorliegenden Art daher der umfassenden Kognition
nach Art. 132 OG mit der Folge, dass das Eidg. Versicherungsgericht an
die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung nicht gebunden ist.

Erwägung 2

    2.- a) Zuständig für die Festsetzung und Auszahlung der
Ergänzungsleistung ist der Kanton, in dem der Bezüger Wohnsitz hat
(Art. 1 Abs. 3 ELG). Bei streitiger Zuständigkeit haben die kantonalen
Rekursbehörden und letztinstanzlich das Eidg. Versicherungsgericht über die
Wohnsitzfrage zu entscheiden (BGE 99 V 106; EVGE 1969 S. 176, 1967 S. 263).

    Nach der Verwaltungspraxis hat im Streitfall die Durchführungsstelle
des Aufenthaltskantons eine seinen einschlägigen Bestimmungen gemäss
festgesetzte Ergänzungsleistung provisorisch auszuzahlen. Wird schliesslich
ein anderer als der Aufenthaltskanton für die Festsetzung und Auszahlung
der Ergänzungsleistung als zuständig bezeichnet, so hat dieser Kanton
dem Aufenthaltskanton die dem Versicherten provisorisch ausgerichteten
Ergänzungsleistungen im Rahmen seiner eigenen Bestimmungen zurückzuvergüten
(Rz. 22 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen, gültig ab 1. Januar
1979).

    b) Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person
an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens Der Wohnsitz
bleibt an diesem Ort bestehen, solange nicht anderswo ein neuer Wohnsitz
begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB). Der Aufenthalt an einem Orte zum
Zweck des Besuches einer Lehranstalt und die Unterbringung einer Person
in einer Erziehungs-, Versorgungs-, Heil- oder Strafanstalt begründet
keinen Wohnsitz (Art. 26 ZGB).

    Nach Lehre und Praxis schliesst Art. 26 ZGB die Wohnsitznahme am Ort
des Anstaltsaufenthaltes nicht aus. Er begründet lediglich die widerlegbare
Vermutung, der Aufenthalt in einer Anstalt bedeute nicht die Verlegung des
Lebens-Mittelpunktes an den fraglichen Ort. Bei der Unterbringung in einer
Anstalt, d.h. der Anstaltseinweisung durch Dritte, die nicht aus eigenem
Willen erfolgt, wird man regelmässig eine Wohnsitznahme ausschliessen
müssen. Anders ist zu urteilen, wenn sich der Betroffene aus freien
Stücken für einen Anstaltsaufenthalt entschliesst, ohne auf einen solchen
angewiesen zu sein, und überdies die Anstalt und den Aufenthaltsort frei
wählt (Bucher, Berner Kommentar, N. 3 ff. und 14 ff. zu Art. 26 ZGB).

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid zunächst damit,
dass offensichtlich ein Fürsorgefall vorliege, was eine Wohnsitznahme am
Anstaltsort ausschliesse.

    Sie verweist auf Rz. 17 der genannten Wegleitung, welche sich
ihrerseits auf ein Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts stützt (EVGE
1969 S. 176). In jenem Entscheid ging es indessen um den Wohnsitz einer
Person, die von der sie unterstützenden Fürsorgebehörde in einer Anstalt
untergebracht worden war. So verhält es sich im vorliegenden Fall
jedoch nicht. Wie der Service d'assistance médicale, welcher für die
Anstaltsaufenthalte Kostengutsprache geleistet hat, in einem Schreiben
an das OAPA vom 3. Juli 1980 festhält, war er an der Unterbringung der
Versicherten im Pflegeheim Weinfelden in keiner Weise beteiligt. Der
Arzt und die Leiterin der Infirmerie du Prieuré bestätigen denn auch,
dass Anny H. die Anstalt auf eigenen Wunsch (sur son propre désir et avec
son consentement) verlassen habe, um sich in ein Heim im Kanton Thurgau
und damit in die Nähe ihrer Familie zu begeben.

    b) In der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt
Susanne G. aus, ihre Mutter, eine gebürtige Deutschschweizerin, die
der französischen Sprache nicht mächtig sei, habe sich in Genf nicht
wohlgefühlt und nur wenig Kontakt mit der Umwelt gehabt. Dies habe
die beiden Töchter veranlasst, ein dem Gesundheitszustand der Mutter
entsprechendes Heim in der deutschen Schweiz zu suchen und sie dort
unterzubringen. Die Mutter sei nicht in das Pflegeheim in Weinfelden
"eingewiesen" worden; vielmehr sei sie aus den genannten Gründen und,
um in der Nähe ihrer in Arbon wohnenden älteren Tochter zu sein, aus
freiem Willen dorthin gegangen. Die fortschreitende Verschlechterung
des Gesundheitszustandes schliesse die Möglichkeit aus, dass sie das
Pflegeheim je werde verlassen können. Weinfelden sei somit zu ihrem
definitiven Wohnort geworden, wo auch der Schwerpunkt ihrer, allerdings
bereits sehr beschränkten Interessen liege.

    Aufgrund dieser glaubhaften Angaben kann die aus Art. 26 ZGB
folgende Vermutung, der Anstaltsaufenthalt begründe keinen Wohnsitz, als
widerlegt gelten. Anny H. ist nicht nur aus freiem Willen in das Pflegeheim
Weinfelden eingetreten, sondern hat auch ihren Lebens-Mittelpunkt dorthin
verlegt. Zum früheren Wohnort, wo sie weniger als drei Jahre verbrachte,
hatte sie keine andere Beziehung, als dass ihre jüngere Tochter dort
wohnt; sie fühlte sich in Genf schon deshalb nicht heimisch, weil
sie als gebürtige Deutschschweizerin der französischen Sprache nicht
mächtig ist und deshalb wenig Kontakt mit der Umwelt fand. Demgegenüber
hat sie in Weinfelden - im Rahmen ihrer Möglichkeiten - einen neuen
Lebens-Mittelpunkt, indem sie sich als Deutschschweizerin mit der
Umgebung verständigen kann und zudem in der Nähe ihrer Tochter Sonja
S. und deren Familie wohnt. Da ferner anzunehmen ist, dass sie sich
in Weinfelden mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, ist dem
OAPA darin beizupflichten, dass sie dort einen neuen Wohnsitz begründet
hat. Dem steht nicht entgegen, dass sie ihre Schriften anscheinend noch
in Genf hinterlegt hat, wo sie die Niederlassungsbewilligung besitzt.

    c) Hat Anny H. Wohnsitz in Weinfelden begründet, so ist die
Ausgleichskasse des Kantons Thurgau zur Festsetzung und Auszahlung
der Ergänzungsleistung zuständig. Die mit Verfügung vom 16. Juni 1980
ab 1. September 1979 provisorisch erbrachten Leistungen sind daher zu
Recht erfolgt, weshalb eine Rückforderung entfällt. Insoweit Zahlungen
irrtümlich an das OAPA erfolgten, wird dieses, soweit nicht bereits
geschehen, die Rückzahlung an die Ausgleichskassse des Kantons Thurgau
oder die Überweisung an Anny H. (bzw. den Service d'assistance médicale)
vorzunehmen haben. Es wird Sache der beteiligten Ausgleichskassen sein,
sich hierüber zu verständigen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
der Rekurskommission des Kantons Thurgau für die AHV vom 5. November 1980
und die Verfügungen der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau vom 16. Juni
1980 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Kanton Thurgau für
die Festsetzung und Auszahlung der Ergänzungsleistung an Anny H. ab
1. September 1979 zuständig ist.