Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 14



108 IV 14

4. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Mai 1982 i.S.
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 127 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.

    1. Gefahrengemeinschaft im Falle des Zusammenschlusses zweier Personen
zur Verübung eines für Leib und Leben der Täter an sich ungefährlichen
Einbruchdiebstahls verneint. Offen gelassen, ob eine Gefahrengemeinschaft
ohne weiteres ein Obhutsverhältnis im Sinne von Art. 127 Ziff. 1 Abs. 2
StGB und damit Hilfeleistungspflichten begründet (E. 2).

    2. Der Eintritt der Gefahr ist nicht der Grund zur Entstehung der
Hilfeleistungspflicht, sondern der Anlass zur Hilfeleistung (E. 3).

Sachverhalt

    A.- In den frühen Morgenstunden des 13. Mai 1979 (Muttertag)
unternahmen S. und L., die beide angetrunken waren, einen Einbruchsversuch
in ein Architekturbüro in Luzern. Die Initiative zur Tat ging von
S. aus. Da die beiden am Tatobjekt keine Einstiegsmöglichkeit fanden
und sie, um jeden Lärm zu vermeiden, keine Fensterscheiben einschlagen
wollten, verfielen sie auf die Idee, über eine Art Feuerleiter via
Flachdach in das Gebäude zu gelangen. L. wollte, sich mit den Händen
an der Brüstung des Lichtschachtes haltend, zum ersten Fenstergesims
gelangen, um dort durch ein Fenster einzusteigen. Er erreichte aber das
Gesims mit den Füssen nicht, baumelte an der Brüstung und musste sich,
als ihn die Kräfte verliessen, in den rund 6 m tiefen Schacht fallen
lassen. S. hatte vergeblich versucht, den an der Brüstung baumelnden
Komplizen aus seiner Lage zu befreien und ihn auf das Flachdach
hinaufzuziehen. Der gestürzte L. klagte über Schmerzen in den Beinen und
vermutete, Brüche erlitten zu haben. S. entfernte sich und unterliess
es, für die Hilfe, die er L. zugesichert hatte, zu sorgen. L., der bei
seinem Sturz einen Unterschenkelspiralbruch links und einen Bruch des
dritten Mittelfussknochens links erlitten hatte, musste 5 1/2 Stunden
im Schacht liegen bleiben, bis Anwohner seine Hilferufe hörten und die
Polizei alarmierten.

    B.- Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich sprach
S. vom Vorwurf der Aussetzung im Sinne von Art. 127 Ziff. 1 Abs. 2
StGB frei. Hingegen fand sie ihn wegen verschiedener anderer Taten des
gewerbs- und bandenmässigen Diebstahls (Art. 137 Ziff. 2 Abs. 2 und
3; Deliktsbetrag rund Fr. 22'000.--), des gewerbsmässigen Diebstahls,
der wiederholten Sachbeschädigung, des wiederholten Hausfriedensbruchs,
der Hehlerei sowie des Missbrauchs von Ausweisen und Schildern im Sinne
von Art. 97 Ziff. 1 Abs. 7 SVG schuldig, verurteilte ihn deswegen unter
Annahme einer leichten bis mittleren Verminderung der Zurechnungsfähigkeit
zu 15 Monaten Gefängnis, abzüglich 31 Tage Untersuchungshaft, und schob den
Vollzug der Strafe zwecks ambulanter Behandlung seiner Trunksucht gemäss
Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB auf.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei
in bezug auf den Freispruch vom Vorwurf der Aussetzung aufzuheben und die
Vorinstanz sei anzuweisen, S. auch wegen Aussetzung im Sinne von Art. 127
Ziff. 1 Abs. 2 StGB schuldig zu erklären und die Strafe entsprechend
zu erhöhen.

    D.- S. beantragt in seiner Vernehmlassung die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer einen Hilflosen, der unter seiner Obhut steht oder für den
er zu sorgen hat, in einer Gefahr für das Leben oder in einer schweren
unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit im Stiche lässt, wird mit Zuchthaus
bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft
(Art. 127 Ziff. 1 Abs. 2 StGB).

    In der Lehre wird allgemein angenommen, dass mit der Wendung
"für den er zu sorgen hat" rechtliche, auf Gesetz oder auf Vertrag
beruhende Sorgepflichten gemeint sind, während zur Bejahung der "Obhut"
ein tatsächliches Obhutsverhältnis genügt (STRATENWERTH, BT I, S. 78;
THORMANN/V. OVERBECK, N. 4 und 5 zu Art. 127 StGB; HAFTER, BT, S. 54;
LOGOZ, Commentaire, N. 4 zu Art. 127 StGB; PETER ULLRICH, Strafrechtlich
sanktionierte Hilfeleistungspflichten in der Schweiz, Diss. BE 1980,
S. 199 und 201).

    Die Beschwerdeführerin behauptet mit Recht nicht, der
Beschwerdegegner sei aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung oder einer
vertraglichen Abmachung verpflichtet gewesen, seinen Komplizen vor
Gesundheitsgefährdungen zu schützen bzw. im Falle von deren Eintritt für
Hilfe zu sorgen. Sie macht lediglich geltend, dass die beiden Einbrecher
"eine Gefahrengemeinschaft bildeten, weshalb eine Obhutspflicht des einen
für den andern entstand".

Erwägung 2

    2.- a) Als Beispiele von Obhutsverhältnissen im Sinne von Art. 127 StGB
werden in der Lehre vor allem Beziehungen zwischen zwei (oder mehreren)
Personen genannt, in welchen die eine Person in bezug auf die unternommene,
möglicherweise gefährliche Tätigkeit stärker, erfahrener etc. ist als
die andere. Der Schwächere, weniger Erfahrene ist zur Mitwirkung an
dieser Tätigkeit bereit, wenn und weil er sich dabei unter die Obhut des
Erfahreneren begeben kann (s. ULLRICH, aaO, S. 201). Das trifft etwa für
den in der Literatur regelmässig erwähnten Fall zu, in dem ein erfahrener
Alpinist eine ungeübte Person auf eine Bergtour mitnimmt.

    Die Annahme eines Obhutsverhältnisses im Sinne von Art. 127 StGB setzt
jedoch nicht notwendigerweise Ungleichheit der Partner hinsichtlich
Stärke und Erfahrung etc. in bezug auf die gemeinsam unternommene
Tätigkeit voraus. Ein Obhutsverhältnis kann auch zwischen gleich
erfahrenen Partnern bestehen und begründet in diesem Falle gegenseitige
Obhutspflichten. Als Beispiel hiefür werden in der Lehre die Bergsteiger
der gleichen Seilpartie erwähnt (GERMANN, Verbrechen, Ziff. 3 zu Art. 127
StGB; SCHWANDER, StGB, Nr. 523 S. 318). Eine Gefahrengemeinschaft
kann mithin ein Obhutsverhältnis begründen. Ob sie in jedem Fall
Obhutspflichten der an der Gefahrengemeinschaft beteiligten Personen
entstehen lässt, etwa auch dann, wenn diese zur Verübung von Straftaten
eingegangen wurde, braucht hier nicht untersucht zu werden. Es kann auch
dahingestellt bleiben, ob zur Bejahung von Obhutspflichten aufgrund des
Bestehens einer Gefahrengemeinschaft oder anderer, ein Obhutsverhältnis
begründender Beziehungen der in der Literatur in diesem Zusammenhang
häufig anzutreffende Hinweis auf die Garantenstellung der Beteiligten
erforderlich ist (s. etwa STRATENWERTH, BT I, S. 78, ULLRICH, aaO, S. 201).

    b) Der Zusammenschluss von S. und L. zur Verübung eines
Einbruchdiebstahls begründete keine Gefahrengemeinschaft mit gegenseitigen
Obhutspflichten. Nichts deutet darauf hin, dass der Zusammenschluss im
Hinblick auf die möglichen Gefahren für die Gesundheit und im Vertrauen
auf gegenseitige Hilfeleistung bei Gefahr für die Gesundheit erfolgte,
dass sich die beiden Einbrecher also gerade auch deshalb zusammentaten,
um den Eintritt solcher Gefahren für die Gesundheit nach Möglichkeit zu
verhindern bzw. bei deren Eintritt für Hilfe zu sorgen. Es ist entgegen der
Auffassung der Beschwerdeführerin nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz
in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass S. und L., die mehr oder
weniger angetrunken waren, einen (in bezug auf die Gesundheit) "zunächst
kaum gefährlichen Einbruchsversuch" unternahmen. Dass L. sich im Verlauf
des Unternehmens spontan zu einem Vorgehen entschloss, das verhängnisvoll
endete, ist schon deshalb unerheblich, weil die Gefährlichkeit dieses
Vorgehens von beiden Einbrechern nicht erkannt wurde; zudem hatte S. nach
den Feststellungen der Vorinstanz zum verhängnisvollen Entschluss seines
Komplizen, durch den Lichtschacht auf den Fenstersims zu gelangen, und
dessen Durchführung, in keiner Weise beigetragen.

Erwägung 3

    3.- Soweit die Beschwerdeführerin mit ihrem Hinweis auf zwei
Spaziergänger die Auffassung vertritt, eine durch Art. 127 StGB
sanktionierte Hilfeleistungspflicht sei jedenfalls in dem Augenblick
entstanden, als L. in den Lichtschacht stürzte und sich dadurch verletzte,
kann ihr ebenfalls nicht gefolgt werden. Ein Obhutsverhältnis im Sinne von
Art. 127 StGB zwischen zwei einander weder durch Gesetz noch durch Vertrag
verbundenen Personen entsteht nicht dadurch, dass die eine Person bei
einem gemeinsamen Unternehmen, das als solches noch kein Obhutsverhältnis
begründet, in eine Gefahr für die Gesundheit gerät. Andernfalls würde der
Tatbestand der Aussetzung, die immerhin ein Verbrechen ist, uferlos. Es
geht auch nicht an, aus der Tatsache der Verletzung eines Beteiligten
nachträglich ein Obhutsverhältnis zu konstruieren. Ein Obhutsverhältnis
zwischen zwei Personen besteht, unabhängig vom Eintritt der Gefahr für die
Gesundheit, schon vorher aufgrund ihrer persönlichen Beziehungen bzw. der
Art des von ihnen durchgeführten Unternehmens. Beim Eintritt der Gefahr
werden die aus dem bereits bestehenden Obhutsverhältnis fliessenden
Hilfeleistungspflichten aktuell. Der Eintritt der Gefahr ist mithin
entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin nicht der Entstehungsgrund
der durch Art. 127 StGB sanktionierten Hilfeleistungspflichten, sondern
lediglich der Anlass zur Hilfeleistung.

    Da nach dem Gesagten zwischen den beiden Einbrechern vor dem Sturz des
L. kein Obhutsverhältnis bestand und ein solches nicht infolge des Sturzes
entstehen konnte, verstösst der Freispruch des S. von der Anschuldigung
der Aussetzung nicht gegen Art. 127 StGB. Die Nichtigkeitsbeschwerde der
Staatsanwaltschaft ist unbegründet.