Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 III 60



108 III 60

20. Auszug aus dem Entscheid der Schuldbetreibungs- und Konkurskammer
vom 28. Oktober 1982 i.S. R. (Rekurs) Regeste

    Pfändung eines Personenwagens (Art. 92 Ziff. 1 SchKG).

    Ein Invalider kann für die Kontaktnahme mit der Aussenwelt, für
seine privaten Besorgungen und für seine eingeschränkte berufliche
Tätigkeit auf die Benützung eines Personenwagens angewiesen sein. Können
diese Bedürfnisse auch mit Hilfe eines Drittwagens befriedigt werden,
so ist das eigene Auto des Invaliden nicht als Kompetenzstück aus der
Konkursmasse auszuscheiden.

Sachverhalt

    A.- R. ist ausgebildete Psychologin. Sie leidet an depressiven
Verstimmungen sowie an Herzkreislaufstörungen und bezieht deshalb eine
volle Invalidenrente. Heute betreut sie noch etwa fünf bis sechs Patienten,
die sie teils bei sich behandelt und teils zu Hause aufsucht. Für ihre
Fahrten zu den Patienten, für ihre Besorgungen und für ihre Kontaktnahme
mit der Umwelt benützt sie einen Personenwagen, dessen Halterin sie
ist, weil sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln fahren kann.

    B.- Am 22. Februar 1982 gab R. die Insolvenzerklärung ab. Am gleichen
Tag wurde über sie der Konkurs eröffnet. Am 10./12. März 1982 erstellte
das Konkursamt das Konkursinventar, in welches unter Position 105 ein
Automobil Datsun Sunny, 1. Inverkehrsetzung 11. März 1977, km 31'000,
geschätzter Wert Fr. 3'500.--, aufgenommen wurde.

    Gegen das Konkursinventar erhob die Schuldnerin Beschwerde. Sie
beantragte, das darin aufgeführte Auto sei als Kompetenzstück aus der
Konkursmasse auszuscheiden, da sie aus gesundheitlichen Gründen auf die
Benützung dieses Fahrzeugs angewiesen sei. Der Amtsgerichtspräsident
als untere kantonale Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und Konkurs
ordnete die psychiatrische Begutachtung der Schuldnerin an. Gestützt auf
dieses Gutachten hiess er die Beschwerde mit Entscheid vom 11. Mai 1982
gut und wies das Konkursamt an, der Schuldnerin das fragliche Auto als
Kompetenzgut zu überlassen.

    C.- Die obere kantonale Aufsichtsbehörde hob diesen Entscheid am
17. August 1982 auf Beschwerde des Konkursamtes namens der Konkursmasse
R. hin auf. In Übereinstimmung mit dem Amtsgerichtspräsidenten verneinte
sie die Kompetenzqualität des Wagens unter dem Gesichtspunkt des Art. 92
Ziff. 3 SchKG; hingegen hielt sie auch die Voraussetzungen des Art. 92
Ziff. 1 SchKG nicht für gegeben. Sie nahm zwar ebenfalls an, dass
R. aus gesundheitlichen Gründen auf ein Auto angewiesen sei, das aber
nicht notwendigerweise ihr eigenes sein müsse. Um den Kontakt zur Umwelt
aufrechtzuerhalten und gelegentlich Patienten auswärts zu betreuen, könne
sie auch ein Taxi benützen. Bei zumutbar eingeschränktem Gebrauch erweise
sich dieses Transportmittel als kostengünstiger als der eigene Wagen.

    D.- R. führt gegen diesen Entscheid Rekurs an die Schuldbetreibungs-
und Konkurskammer des Bundesgerichts. Sie beantragt die Aufhebung des
angefochtenen Entscheids und die Anweisung an das Konkursamt, ihr den
Personenwagen Datsun Sunny als Kompetenzstück zu Eigentum zu überlassen.

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weist den Rekurs ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz hat die Anwendbarkeit von Art. 92 Ziff. 1 SchKG
auf den vorliegenden Fall verneint. Nach dieser Bestimmung sind die dem
Schuldner und seiner Familie zum persönlichen Gebrauch dienenden Kleider
und Effekten sowie die Hausgeräte und Möbel, soweit sie unentbehrlich
sind, unpfändbar und fallen dementsprechend auch nicht in die Konkursmasse
(BGE 71 III 142). In BGE 95 III 83 a.E. ist festgehalten worden, dass ein
nur für den privaten Gebrauch bestimmter Personenwagen nicht zu den nach
Art. 92 Ziff. 1 SchKG unpfändbaren Gegenständen gehöre. In seiner neuesten
Rechtsprechung zu Art. 92 Ziff. 1 SchKG hat das Bundesgericht zu dieser
Frage indessen einen abweichenden Standpunkt eingenommen. Es hat darauf
hingewiesen, dass nichts im Wege stehe, zu den Effekten des Schuldners
im Sinne von Art. 92 Ziff. 1 SchKG auch das Motorfahrzeug zu rechnen,
das er täglich für seine privaten Ortsveränderungen benütze. Allerdings
werde das Auto, das zum privaten Gebrauch bestimmt sei, dem Schuldner und
seiner Familie im allgemeinen nicht unentbehrlich sein. In dieser Hinsicht
befinde sich der Invalide jedoch in einer ganz besondern Lage, die es nicht
erlaube, ihn ohne weiteres der allgemeinen Regel zu unterwerfen. Wortlaut
und Sinn von Art. 92 Ziff. 1 SchKG würden die Pfändung von Hilfsmitteln,
die einem Invaliden unentbehrlich sind, um seine gewohnten Arbeiten
zu verrichten, seine persönliche Unabhängigkeit zu entwickeln und sich
fortzubewegen oder mit seiner Umgebung Kontakte herzustellen, verbieten. Zu
diesen unpfändbaren Hilfsmitteln gehöre unter gewissen Umständen auch
das Motorfahrzeug eines Invaliden. Das sei dann der Fall, wenn es dem
privaten Gebrauch eines Invaliden diene, der nicht ohne Gefahr für seine
Gesundheit oder ohne aussergewöhnliche Schwierigkeiten ein billigeres
Transportmittel benützen könne und bei Wegnahme des Fahrzeugs verhindert
wäre, sich einer notwendigen ärztlichen Behandlung zu unterziehen oder ein
Mindestmass von Kontakten mit der Aussenwelt und mit andern herzustellen
(BGE 106 III 106 ff.).

    Die Unpfändbarkeit eines Personenwagens, der einem invaliden Schuldner
gehört, muss auf jeden Fall dann bejaht werden, wenn ihm der Charakter
eines Hilfsmittels im Sinne des IVG zukommt (vgl. Art. 21 IVG und Art. 14
IVV). Dies trifft indessen nur zu, wenn das Auto für die Ausübung einer
Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung,
die Ausbildung oder die funktionelle Angewöhnung notwendig ist. Das
Bundesgericht hat daher den Begriff der Kompetenzqualität nach Art. 92
Ziff. 1 SchKG im angeführten Urteil etwas weiter gefasst als denjenigen des
Hilfsmittels im Sinne des IVG. Es hat die Kompetenzqualität auch bejaht,
wenn ein nichterwerbsfähiger Invalider ohne Privatauto nicht in der Lage
wäre, sich einer notwendigen medizinischen Behandlung zu unterziehen oder
ein Minimum von Kontakten mit der Aussenwelt aufrechtzuerhalten.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat in Würdigung der konkreten Lebensumstände der
vollinvaliden Rekurrentin festgestellt, dass diese aus gesundheitlichen
Gründen für die Kontaktnahme mit der Aussenwelt, für ihre privaten
Besorgungen und für die Betreuung ihrer Patienten, die für sie eine
therapeutisch notwendige Lebensaufgabe darstelle, auf die Benützung eines
Personenwagens angewiesen sei. Sie sei nicht in der Lage, die hierfür
notwendigen Strecken zu Fuss oder mit den öffentlichen Verkehrsmitteln
zurückzulegen, weil sie zu körperlichen Erschöpfungszuständen neige,
die depressive Verstimmungen zur Folge haben können. In depressivem
Zustand habe sie schon zweimal einen Suizidversuch unternommen. Aufgrund
dieser für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen ist davon
auszugehen, dass die Rekurrentin auf die Benützung eines Motorfahrzeugs
angewiesen ist. Würde ihr diese Möglichkeit und damit die Kontaktnahme
mit der Aussenwelt genommen, würde dies einem Eingriff in ihre
Persönlichkeitsrechte gleichkommen. Was mit dem Schuldner um seiner
Persönlichkeit willen untrennbar verbunden ist - dazu gehört auch sein
Recht zum Leben und Wirken -, entfällt dem Zugriff des Gläubigers (JOOS,
Handbuch für die Betreibungsbeamten der Schweiz, S. 135). Das Recht zum
Leben und Wirken umfasst für die Rekurrentin gewiss auch die Kontaktnahme
mit der Aussenwelt und mit den Patienten.

    Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, ob die Rekurrentin
für die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse auf ihren eigenen
Personenwagen angewiesen ist oder ob ihr zugemutet werden kann, dieses
Ziel auch mit Hilfe von Drittwagen, z.B. von Taxis zu erreichen. Der
Vorinstanz ist insofern beizupflichten, als jedenfalls die negativen
Folgen des Konkursbeschlags auf die Psyche der Rekurrentin in diesem
Zusammenhang nicht beachtet werden können. Der Konkurs als solcher bringt
wohl in der Regel für den Gemeinschuldner grosse psychische Belastungen
mit sich, die sich auch gesundheitsschädigend auswirken können. Es kann
nicht Sache der Betreibungsbehörden sein, durch Ausscheidung bestimmter,
mit Beschlag belegter Vermögenswerte, an denen der Schuldner sehr hängt,
solchen gesundheitlichen Störungen abzuhelfen. Zudem muss auch das
Interesse der Gläubiger beachtet werden, die von der Konkurseröffnung
ebenso betroffen sein können wie der Schuldner.

    Die Vorinstanz hat angenommen, dass die Rekurrentin zwar einen
Personenwagen als Transportmittel benötige, dass dies aber nicht zwingend
ihr eigenes Auto sein müsse. In der Tat kann das elementare Bedürfnis,
in die Stadt zu fahren, um Besorgungen zu machen und um andere Menschen
zu treffen, insbesondere auch Patienten, ebensogut mit Hilfe eines Taxis
befriedigt werden. Auch wenn solche Fahrten nahezu täglich ausgeführt
werden, sind die Kosten hiefür entgegen der Meinung der Rekurrentin
nicht grösser als diejenigen, die für einen eigenen Wagen anfallen;
denn es sind nicht nur die Auslagen für das Benzin, sondern auch für
den Unterhalt des Wagens (Steuer, Versicherung, Service, Reparaturen)
und für die Garage in Rechnung zu stellen, ganz zu schweigen von der
Amortisation des Automobils. Es braucht der Rekurrentin nicht einmal eine
Einschränkung ihrer Kontakte zugemutet zu werden, wie die Vorinstanz
dies tut. Der vorliegende Fall unterscheidet sich in dieser Beziehung
von dem in BGE 106 III 105 beurteilten, wo der Schuldner regelmässige
Autofahrten von Lausanne nach Lavey-les-Bains unternehmen musste. Kann die
Rekurrentin ihr elementares Bedürfnis nach Kontaktnahme mit der Aussenwelt
ebensogut auf andere Weise befriedigen als mit dem Gebrauch des eigenen
Autos, so kann nicht gesagt werden, ein eigener Personenwagen sei für
sie unentbehrlich im Sinne von Art. 92 Ziff. 1 SchKG.

    Die Rekurrentin macht letztlich gar nicht geltend, dass sie das ihr
gehörende Auto zur Befriedigung ihrer elementaren Bedürfnisse benötige,
sondern sie bringt vor, der Besitz und die Benützung des eigenen Wagens
sei für ihre psychische Gesundheit unentbehrlich. Nur der Besitz eines
eigenen Autos vermittle ihr infolge ihrer physischen und psychischen Leiden
die Unabhängigkeit und Selbständigkeit im Sinne einer menschenwürdigen
Existenz. Ihr Auto sei für sie ein unentbehrliches Hilfsmittel. Es habe
für sie die Bedeutung eines Therapiemittels, bestehe doch die Gefahr,
dass bei Wegnahme des Fahrzeugs mit erneuten depressiven Entgleisungen
gerechnet werden müsse. Dasselbe ergibt sich auch aus dem von der unteren
kantonalen Aufsichtsbehörde beigezogenen psychiatrischen Gutachten.

    Damit stellt die Rekurrentin aber auf rein subjektive Kriterien ab,
was nicht angehen kann. Das Betreibungsamt und die Aufsichtsbehörden
haben vielmehr sowohl bei der Bestimmung der unpfändbaren Gegenstände im
Sinne von Art. 92 Ziff. 1 und 3 SchKG als auch bei der Festsetzung des
Notbedarfs gemäss Art. 93 SchKG nach objektiven Kriterien vorzugehen,
die auf die Bedürfnisse des Durchschnittsbürgers zugeschnitten sind und
der psychischen Besonderheit Einzelner nicht Rechnung tragen können. Wenn
die Vorinstanz es abgelehnt hat, die Ausnahmesituation der Rekurrentin
und ihre subjektiven Bedürfnisse zu berücksichtigen, so hat sie kein
Bundesrecht verletzt. Das Bundesgericht hat als Oberaufsichtsbehörde
im Schuldbetreibungs- und Konkursrecht nur die Rechtmässigkeit, nicht
aber die Angemessenheit der Entscheidungen der kantonalen Instanzen zu
überprüfen. Immerhin kann man sich fragen, ob die Verwertung des Wagens
der Rekurrentin, dessen Schätzungswert nur Fr. 3'500.-- beträgt, überhaupt
angezeigt sei, da sich voraussichtlich nur ein bescheidener Erlös wird
erzielen lassen.