Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 82



108 Ia 82

17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 17.
Februar 1982 i.S. evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen
und evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Straubenzell gegen Z., Dr. R. und
Regierungsrat des Kantons St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 88 OG, Legitimation; Gemeindeautonomie; Verfahren betreffend
die Abberufung eines Pfarrers.

    Legitimation der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen
zur staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung der Autonomie (E. 1b).

    Verletzung der Autonomie der Kantonalkirche und der Kirchgemeinde
Straubenzell dadurch, dass der Regierungsrat im Rechtsmittelverfahren die
ihm zustehende Prüfungsbefugnis überschritt: er nahm zu Unrecht an, es
liege ein Missbrauch der Amtsgewalt durch den Kirchenrat der Kantonalkirche
vor, weil dieser im Beschwerdeverfahren davon abgesehen habe, den von
der Kirchgemeindeversammlung in geheimer Abstimmung gefassten Beschluss
betreffend die Abberufung des Pfarrers aufzuheben (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Kirchenvorsteherschaft der evangelisch-reformierten
Kirchgemeinde Straubenzell (SG) versandte am 10. Dezember 1979 ein
Rundschreiben an die Kirchgemeindemitglieder, in welchem sie ausführte,
sie sei einstimmig zur Überzeugung gelangt, dass ein weiteres Wirken von
Z. als Pfarrer wegen der von ihm vertretenen nationalsozialistischen Ideen
nicht mehr verantwortet werden könne; sie empfehle daher einstimmig die
Abberufung von Pfarrer Z. und ersuche um Unterzeichnung des beigelegten
Abberufungsbegehrens. Das Begehren wurde von 2539 der insgesamt 6620
Stimmberechtigten der Kirchgemeinde Straubenzell unterschrieben.

    Die Kirchenvorsteherschaft von Straubenzell berief auf den 10. Februar
1980 eine ausserordentliche Kirchgemeindeversammlung ein. Diese beschloss
in geheimer Abstimmung mit 1072 gegen 39 Stimmen die Abberufung von Pfarrer
Z.. Hiegegen legten Z. und Dr. R. beim Regierungsrat Kassationsbeschwerde
ein, die an den Kirchenrat der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons
St. Gallen als zuständige konfessionelle Oberbehörde weitergeleitet
wurde. Der Kirchenrat wies die Kassationsbeschwerde mit Beschluss vom
19. August 1980 ab.

    Pfarrer Z. und Dr. R. erhoben Beschwerde beim Regierungsrat des
Kantons St. Gallen. Sie machten geltend, das Abberufungsverfahren
sei von einem unzuständigen Organ, nämlich der Kirchenvorsteherschaft,
eingeleitet worden. Diese habe versucht, mit ihrem Rundschreiben den
Prozess demokratischer Willensbildung mit unwahren und aktenwidrigen
Behauptungen zu beeinflussen. Dem angegriffenen Pfarrer sei keine
Gelegenheit gegeben worden, zu den Anschuldigungen gebührend Stellung
zu nehmen.

    Der Regierungsrat hiess mit Beschluss vom 10. März 1981 die Beschwerde
im Sinne der Erwägungen gut und hob den Entscheid des Kirchenrates
vom 19. August 1980 auf. Er erklärte zwar die von Pfarrer Z. und
Dr. R. erhobenen Rügen als unbegründet, kam aber zum Schluss, nach der
Kirchenverfassung sei der Entscheid über ein Abberufungsbegehren nicht
in einer Kirchgemeindeversammlung, sondern in einer Urnenabstimmung zu
treffen. Die Abstimmung über die Abberufung von Pfarrer Z. müsse deshalb
an der Urne wiederholt werden.

    Die evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen und die
evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Straubenzell führen gegen den
Beschluss des Regierungsrates vom 10. März 1981 staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung ihrer Autonomie sowie des Art. 4 BV.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Es steht ausser Zweifel, dass auf die Beschwerde eingetreten
werden kann, soweit sie von der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde
Straubenzell erhoben wurde. Der Entscheid des St. Galler Regierungsrates
vom 10. März 1981 berührt die Kirchgemeinde in ihrer Eigenschaft als
Trägerin öffentlicher Gewalt. Sie ist daher nach der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung legitimiert, mit staatsrechtlicher Beschwerde eine
Verletzung ihrer Autonomie zu rügen. Ob die Gemeinde im fraglichen Bereich
tatsächlich autonom ist, ist keine Frage des Eintretens, sondern eine
solche der materiellen Beurteilung der Beschwerde (BGE 104 Ia 387 E. 1;
103 Ia 321 E. 1, 472 E. 1 mit Hinweisen).

    b) Fraglich ist hingegen, ob auf die Beschwerde auch insoweit
eingetreten werden kann, als sie von der evangelisch-reformierten Kirche
des Kantons St. Gallen eingereicht wurde, d.h. ob eine kantonale
öffentlichrechtliche Kirchenkorporation befugt ist, wegen Verletzung
ihrer Autonomie Beschwerde zu erheben. Das Bundesgericht hat anerkannt,
dass nicht nur Gemeinden, sondern auch andere öffentlichrechtliche
Körperschaften wegen Verletzung der Autonomie Beschwerde führen können,
wenn sie die ihnen durch Verfassung oder Gesetz gewährleistete Autonomie
gegenüber dem Staat als dem ihnen übergeordneten Träger öffentlicher
Gewalt verteidigen wollen (BGE 95 I 53). Es hatte z.B. zu prüfen, ob
ein Gemeinde-Zweckverband, die Studentenschaft einer Universität oder
eine kantonale Pensionskasse wegen Autonomieverletzung staatsrechtliche
Beschwerde erheben könne (BGE 95 I 53 ff.; 99 Ia 756 ff.; 103 Ia 59
ff.). Das Gericht verneinte die Frage in jenen Fällen nicht einfach mit
dem Hinweis, der Beschwerdeführer sei keine Gemeinde; vielmehr untersuchte
es, ob die Voraussetzung, nämlich ein durch die Kantonsverfassung oder
die kantonale Gesetzgebung gewährleistetes Selbstbestimmungsrecht,
gegeben sei, um die betreffende Körperschaft oder Anstalt einer Gemeinde
gleichzustellen. Was den hier zu beurteilenden Fall anbelangt, so räumt
die Verfassung des Kantons St. Gallen (KV) in Art. 24 dem katholischen
und dem evangelischen Konfessionsteil das Recht auf eigene Organisation
und auf weitgehende Selbstverwaltung ein. Diese beiden Konfessionsteile,
auch kantonale Kirchen genannt, haben als Träger hoheitlicher Rechte
selbständige Entscheidungsbefugnisse, die mindestens so weit reichen
wie jene der Kirchgemeinden. Die Voraussetzung, um der kantonalen
Kirchenkörperschaft in gleicher Weise das Recht zur Beschwerde
wegen Verletzung der Autonomie zuzuerkennen, ist demnach erfüllt. Die
evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen ist somit ebenso
wie die Kirchgemeinde Straubenzell legitimiert, mit staatsrechtlicher
Beschwerde vorzubringen, sie werde durch den regierungsrätlichen Entscheid
vom 10. März 1981 in ihrer Autonomie verletzt. Im Zusammenhang mit der
Rüge der Autonomieverletzung können sich die Beschwerdeführerinnen auch
über eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör beklagen
(BGE 98 Ia 431 E. 2; 96 I 239).

Erwägung 2

    2.- Eine Gemeinde oder eine andere öffentlichrechtliche Körperschaft
ist in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht für ihn
keine abschliessende Ordnung trifft, sondern diese ganz oder teilweise
der Gemeinde oder der betreffenden Körperschaft überlässt und ihr dabei
eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt (BGE 104 Ia 44 f.;
103 Ia 479 E. 5).

    Nach Art. 24 KV und dem gleichlautenden Art. 1 des st. gallischen
Gesetzes über die Besorgung der Angelegenheiten des katholischen und des
evangelischen Konfessionsteiles vom 25. Juni 1923 (KonfG) sind die beiden
kantonalen Kirchen berechtigt, sich ihre konfessionelle Organisation
unter Vorbehalt der staatlichen Genehmigung selbst zu geben. Art. 2
Abs. 2 KonfG (in der Fassung vom 23. August 1979) sieht vor, dass sich
die von den Konfessionsteilen erlassenen Vorschriften hinsichtlich der
Organisation der Kirchgemeinden nach der staatlichen Gesetzgebung über die
Spezialgemeinden zu richten haben, soweit nicht besondere Verhältnisse
eine Abweichung rechtfertigen. Gleichwohl steht aber der kantonalen
Kirche beim Erlass solcher organisatorischer Vorschriften, zu denen
auch die hier in Frage stehenden Bestimmungen über die Abberufung der
Pfarrer gehören, eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu. Die
Kirchgemeinden ihrerseits regeln gemäss Art. 11 Abs. 3 der Verfassung der
evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen vom 13. Januar 1974
(VEK) ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetzgebung der Kantonalkirche
selbständig. Die Beschwerdeführerinnen sind demnach im Sachbereich,
der Gegenstand des Streites bildet, autonom.

Erwägung 3

    3.- Ist eine Gemeinde in einem bestimmten Bereich autonom, so kann
sie sich mit staatsrechtlicher Beschwerde dagegen zur Wehr setzen, dass
eine kantonale Rechtsmittelbehörde die ihr zustehende Prüfungsbefugnis
überschreitet. Hebt eine auf Rechtskontrolle beschränkte kantonale
Beschwerdeinstanz einen kommunalen Hoheitsakt zu Unrecht auf, weil sie im
Vorgehen der Gemeinde fälschlicherweise eine willkürliche Rechtsanwendung
oder eine Ermessensüberschreitung erblickt, so verletzt sie damit die
Gemeindeautonomie (BGE 104 Ia 127/128 mit Hinweisen).

    a) Nach Art. 7 Abs. 2 KonfG kann beim Regierungsrat gegen Entscheide
der konfessionellen Oberbehörden - abgesehen vom hier nicht zur
Diskussion stehenden Anfechtungsgrund der zweckwidrigen Verwendung oder
gesetzwidrigen Verwaltung von Kirchengut - lediglich "wegen Missbrauches
oder Überschreitung der Amtsgewalt" Beschwerde geführt werden. Der
Regierungsrat hat diese Vorschrift selber zutreffend in dem Sinn ausgelegt,
dass er nur eingreifen kann, wenn die Verfügung eines Konfessionsteiles
mit dem Gesetz offensichtlich unvereinbar oder ein Ermessensentscheid
willkürlich ist (St. Gallische Gerichts- und Verwaltungspraxis 1960
Nr. 48 S. 131). Mit der staatsrechtlichen Beschwerde wird geltend
gemacht, der Regierungsrat habe zu Unrecht angenommen, es liege eine
Überschreitung der Amtsgewalt durch den Kirchenrat der evangelischen
Kantonalkirche vor, weil dieser davon abgesehen habe, den Beschluss der
Kirchgemeindeversammlung Straubenzell betreffend die Abberufung von Pfarrer
Z. aufzuheben. Da es bei der Beurteilung der Frage, ob der Regierungsrat
dem Kirchenrat Amtsmissbrauch vorwerfen konnte, nicht um die Auslegung
von Normen der Bundesverfassung oder der St. Galler Kantonsverfassung
geht, prüft das Bundesgericht den angefochtenen Entscheid im Rahmen der
Autonomiebeschwerde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 104 Ia
127, 138 mit Hinweisen).

    b) Der Regierungsrat nahm an, der Kirchenrat hätte die
Kassationsbeschwerde, welche gegen die von der Kirchgemeindeversammlung
Straubenzell in geheimer Abstimmung beschlossene Abberufung von Pfarrer
Z. erhoben worden war, gutheissen müssen, da das Abberufungsbegehren in
Widerspruch zu Art. 18 Abs. 2 VEK nicht der Urnenabstimmung unterbreitet
worden sei. Indem der Kirchenrat die Beschwerde abgewiesen habe, obwohl
die Abberufung in einem verfassungswidrigen Verfahren erfolgt sei, habe
er seine Amtsgewalt überschritten.

    Ob der Regierungsrat so entscheiden durfte, obschon in der
Kassationsbeschwerde gar nicht gerügt worden war, der Abberufungsbeschluss
hätte an der Urne gefasst werden müssen, mag dahingestellt bleiben. Rein
unter dem Gesichtspunkt des materiellen Rechts wäre der angefochtene
Entscheid nicht zu beanstanden, wenn es sich so verhielte, wie der
Regierungsrat anzunehmen scheint. Dieser geht nämlich davon aus, es bestehe
hinsichtlich des Abberufungsverfahrens bloss Art. 18 Abs. 2 VEK, wonach
Begehren um Abberufung eines Pfarrers durch Urnenabstimmung erledigt werden
müssen. Die Kirchenverfassung enthält aber auch - was der Regierungsrat
anscheinend übersah - einen Art. 16 lit. d, der vorsieht, dass über eine
allfällige Abberufung der Pfarrer die Kirchgemeindeversammlung zu befinden
hat. Die beiden Vorschriften widersprechen sich, erklärt doch die eine die
Kirchgemeindeversammlung für die Abberufung zuständig, während die andere
bestimmt, dass die Abberufung in einer Urnenabstimmung beschlossen werden
muss. Es sprechen gewichtigere Gründe für die Annahme, nach dem Sinn der
VEK sei die Kirchgemeindeversammlung zuständig. Art. 18 steht - ebenso
wie Art. 16 - im Abschnitt über die "Kirchgemeindeversammlung" und sieht
in Abs. 1 vor, die Kirchgemeindeversammlung übe ihre Befugnisse in der
Regel in offener Abstimmung aus. Das legt den Schluss nahe, dass sich auch
Abs. 2 auf die Art der Abstimmung in der Kirchgemeindeversammlung selbst
bezieht und lediglich für die Abberufung von Pfarrern - als Ausnahme von
der Regel - eine geheime Abstimmung in der Versammlung selbst vorschreiben
will. Für diese Auslegung spricht ferner der Umstand, dass in der VEK keine
ausserhalb der Kirchgemeindeversammlung stattfindenden Gemeindeabstimmungen
vorgesehen sind. Zudem bestimmt Art. 42 des st. gallischen Gemeindegesetzes
vom 23. August 1979, dass für die geheime Abstimmung in der Versammlung die
Vorschriften des Gesetzes über die Urnenabstimmungen sachgemäss angewendet
werden. Bei der geheimen Abstimmung in der Gemeindeversammlung wird zum
Einsammeln der Stimmzettel in der Regel auch ein Gefäss verwendet, das als
Urne bezeichnet wird. Verschiedene kantonale Vorschriften über Wahlen und
Abstimmungen sehen dies ausdrücklich vor (z.B. § 81 des solothurnischen
Gemeindegesetzes vom 27. März 1949). Der Ausdruck "Urnenabstimmung"
in Art. 18 Abs. 2 VEK ist vermutlich ungenau und könnte auf einem
Redaktionsversehen beruhen. Wie dem auch sei, auf jeden Fall lässt sich
die Auffassung, die Kirchgemeindeversammlung sei zur Abberufung eines
Pfarrers zuständig, mit guten Gründen vertreten. Verhält es sich so,
dann konnte dem Kirchenrat klarerweise nicht Amtsmissbrauch vorgeworfen
werden, wenn er in durchaus haltbarer Auslegung der Kirchenverfassung
davon ausging, der Abberufungsbeschluss müsse nicht ausserhalb der
Kirchgemeindeversammlung, sondern durch diese selbst gefasst werden. Die
Annahme des Regierungsrates, der Beschluss des Kirchenrates vom 19. August
1980 sei offensichtlich falsch und müsse deshalb aufgehoben werden, ist
nicht nur unrichtig, sondern bei Beachtung des Art. 16 VEK unhaltbar. Mit
dem angefochtenen Entscheid hat der Regierungsrat die ihm gemäss Art. 7
Abs. 2 KonfG zustehende Prüfungsbefugnis eindeutig überschritten und
damit die Beschwerdeführerinnen in ihrer Autonomie verletzt. Bei dieser
Sachlage erübrigt es sich, noch zu untersuchen, ob der Regierungsrat
die Beschwerdeführerinnen auch in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör
beeinträchtigt hat, wie diese behaupten. Die Beschwerde ist aus den
dargelegten Gründen gutzuheissen und der angefochtene Beschluss des
Regierungsrates vom 10. März 1981 aufzuheben.