Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 293



108 Ia 293

56. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. Juli 1982
i.S. Zografos gegen Papandreou und Obergericht des Kantons Aargau
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör.

    Art. 4 BV begründet keinen Anspruch der Parteien, sich zur rechtlichen
Würdigung der in den Prozess eingeführten Tatsachen noch besonders
auszusprechen. Ebensowenig folgt aus dem Gehörsanspruch, dass der Richter
die Parteien auf den für die Urteilsfällung wesentlichen Sachverhalt
hinzuweisen hätte.

Sachverhalt

    A.- Georgios Papandreou unterzeichnete am 5. Mai 1978 ein Schriftstück,
das folgenden Wortlaut hat:

    "Quittung Fr. 16'000.--

    Von Georgios Zografos, ..., Wettingen

    Fr. sechzehntausend

    Rückzahlbar ab September 1978 in monatlichen Raten à Fr. 500.--

    empfangen zu haben, bescheinigt

    Wettingen, den 5.5.1978."

    In einem Begleitbrief vom 5. Mai 1978 erklärte Papandreou, dass
er ab September 1978 monatlich Fr. 500.-- abzahlen und nichts weiter
fordern werde.

    Mit Zahlungsbefehl vom 8. September 1978 verlangte Zografos von
Papandreou den Betrag von Fr. 500.-- nebst Zins zu 5% seit 1. September
1978. Papandreou erhob Rechtsvorschlag. Der Präsident des Bezirksgerichts
Baden erteilte Zografos am 10. November 1978 die provisorische
Rechtsöffnung.

    Daraufhin reichte Papandreou beim Bezirksgericht Baden gegen
Zografos Aberkennungsklage ein. Er stellte sich auf den Standpunkt,
der Bescheinigung vom 5. Mai 1978 liege kein Schuldverhältnis
zugrunde. Zografos widersetzte sich der Klage und machte geltend, er
habe Papandreou für einen Geschäftsaufbau ein Darlehen von insgesamt
Fr. 24'000.-- gegeben. Davon habe dieser am 5. Mai 1978 schliesslich eine
Schuld von Fr. 16'000.-- anerkannt.

    Der Präsident des Bezirksgerichts Baden wies die Aberkennungsklage
am 27. April 1981 ab. Das Obergericht des Kantons Aargau hiess eine
Beschwerde des Georgios Papandreou am 29. Januar 1982 gut, hob den
erstinstanzlichen Entscheid auf und aberkannte die in Betreibung gesetzte
Forderung von Fr. 500.-- nebst Zins zu 5% seit 1. September 1978 zur Zeit.

    Georgios Zografos erhob staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 BV.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer beanstandet, das Obergericht habe ihm
das rechtliche Gehör verweigert, weil es ihm keine Gelegenheit gegeben
habe, Ausführungen zur Frage der Fälligkeit zu machen und Beweise dafür
anzubieten, was die Parteien bei Ausstellung der Quittung vom 5. Mai 1978
bezüglich der Fälligkeit der ersten Rate wirklich vereinbart hatten. Es
könne nicht angehen, eine Streitsache aufgrund völlig neuer Gesichtspunkte
zu überprüfen, ohne den Parteien vorher Gelegenheit zur Stellungnahme
zu geben.

    c) Nach ständiger Rechtsprechung besitzen die Parteien in Zivilsachen
einen unbedingten Anspruch, vor Erlass eines Entscheides, der sie belastet
oder belasten könnte, angehört zu werden (BGE 105 Ia 195 E. b und 101 Ia
296 mit Hinweisen; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl.,
S. 175 ff.). Den Parteien soll vor Erlass eines Entscheides, besonders
wenn dieser für eine Partei nachteilig ausfällt, Gelegenheit zur Äusserung
und Stellungnahme gegeben werden. Aus dem bundesrechtlichen Gehörsanspruch
ergibt sich vor allem das - im Hinblick auf Art. 8 ZGB und Art. 84 Abs. 2
OG subsidiäre - Recht, Beweise zu beantragen zu Tatsachen, die für den
Ausgang des Verfahrens von Bedeutung sein könnten (BGE 101 Ia 296, 96 I
323 E. c und 92 I 261), und sich über alle für das Urteil wesentlichen
Tatsachen und Beweise auszusprechen (GULDENER, aaO, S. 161). Dieses Recht
steht den Parteien besonders dann zu, wenn in einem Rechtsmittelverfahren
ein Entscheid aufgrund neuer, von der Gegenseite vor erster Instanz nicht
angeführter Tatsachen bestätigt oder aufgehoben wird (vgl. TINNER, Das
rechtliche Gehör, ZSR 83/1964 II S. 333 und 358). Hingegen folgt aus
Art. 4 BV nicht der Anspruch der Parteien, zur rechtlichen Würdigung
der durch sie in den Prozess eingeführten Tatsachen noch besonders
angehört zu werden. Das Obergericht weist in seinen Gegenbemerkungen zur
Beschwerde mit Recht darauf hin, dass die Anwendung des auf den Sachverhalt
zutreffenden Rechts allein dem Richter obliegt. Er hat unabhängig von der
Rechtsauffassung der Parteien zu entscheiden und ist an deren rechtliche
Würdigung der festgestellten Tatsachen nicht gebunden (vgl. Art. 63
Abs. 3 OG). Ebensowenig folgt aus dem Gehörsanspruch, dass eine Partei
vorgängig auf den für den Entscheid wesentlichen Sachverhalt hinzuweisen
ist. Ein Beteiligter, der den entscheidenden Punkt des Tatbestandes
übersehen hat, ist in seinem Äusserungsrecht nicht beschränkt, sofern
diese wesentliche Tatsache in den Akten enthalten und dem Richter nicht
aus anderer Quelle bekannt ist (TINNER, aaO, S. 357/58).