Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 275



108 Ia 275

50. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. September 1982 i.S.
Zbinden gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Obergericht (I.
Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 10 EMRK; Veröffentlichung eines nach Art. 293 StGB geheimen
amtlichen Berichtes.

    Das in Art. 22 GRN (SR 171.13) statuierte "Sitzungsgeheimnis" ist keine
Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit im Sinne von Art. 10 Ziff. 2
EMRK, denn die in Art. 10 Ziff. 1 EMRK enthaltene Informationsfreiheit
gewährleistet nur die aktive Erschliessung allgemein zugänglicher Quellen,
zu denen die dem "Sitzungsgeheimnis" unterstellten Verhandlungen der
Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates sowie deren Gegenstand
bildende "vertrauliche" Berichte nicht gehören.

Sachverhalt

    A.- Am 2. Juni 1980, ca. 17 Uhr, erhielten die Mitglieder der
Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates im Anschluss an
eine kurze Sitzung einen Bericht der Sektion EMD über ihre Abklärungen
zur Angelegenheit Bachmann/Schilling mit Beilage (Antworten des EMD auf
16 Fragen der GPK). Der Bericht sollte am darauffolgenden Tage in einer
Sitzung der GPK beraten werden und war als "vertraulich" gekennzeichnet. Am
späteren Nachmittag des 2. Juni 1980 erkundigte sich der Bundeshausredaktor
der Tageszeitung "Blick", Jürg Zbinden, beim damaligen Mitglied der GPK,
Nationalrat Georg Nef, nach Neuigkeiten im Fall Bachmann/Schilling, worauf
dieser bemerkte, er sei im Besitz des diesbezüglichen Berichtes. Das
Begehren Zbindens, ihm den Bericht auszuhändigen, lehnte Nef mit der
Begründung ab, dass er diesen zuerst selber lesen müsse. Ungefähr zehn
Minuten später traf Zbinden erneut auf Nationalrat Nef, der ihn dahin
informierte, dass nichts Relevantes im Bericht stehe. Auf Anfrage Zbindens,
ob er den Bericht zum Fotokopieren haben dürfe, um am darauffolgenden
Tag in der Zeitung "Blick" einen Artikel darüber schreiben zu können,
händigte Nationalrat Nef ihm Bericht und Beilage aus. Zbinden kopierte
beide und gab sie kurz darauf an Nef zurück. Unter dem Titel "Oberst
Bachmann sollte neuen Geheimdienst aufziehen" veröffentlichte Zbinden
in der Nummer 126 des "Blick" vom 3. Juni 1980 Auszüge und teils auch
wörtliche Passagen aus beiden Dokumenten.

    Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte Zbinden am 8. April
1982 in Bestätigung eines Urteils des Einzelrichters in Strafsachen
des Bezirksgerichtes Zürich vom 2. Juli 1981 wegen der Veröffentlichung
amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 Abs. 1 StGB) zu einer bedingt
vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 750.--. Zbinden ficht dieses Urteil
wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 10 EMRK mit staatsrechtlicher
Beschwerde an mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen
Entscheides. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Gleichzeitig
hat er eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde erhoben (zur Publikation
bestimmtes Urteil vom 17. September 1982).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Von Art. 10 Ziff. 1 EMRK ausgehend, demzufolge jedermann Anspruch
auf freie Meinungsäusserung hat, anerkennt Zbinden, dass nach Ziffer 2 des
genannten Artikels die in Ziffer 1 genannten Freiheiten bestimmten, vom
Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder
Strafdrohungen unterworfen werden können. Er macht jedoch geltend, nach
der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs müssten Einschränkungen
der Meinungsäusserungsfreiheit nicht nur restriktiv ausgelegt und im
konkreten Fall notwendig sein, sondern sie müssten sich auch auf eine
gesetzliche Grundlage stützen. Dazu gehöre, dass das Gesetz hinreichend
zugänglich und mit solcher Präzision formuliert sei, dass der Bürger in
die Lage versetzt werde, sein Verhalten danach zu richten. Art. 293 StGB
und Art. 22 des Geschäftsreglementes des Nationalrats (SR 171.13; GRN)
genügten wohl dem ersten Erfordernis, sie entbehrten aber hinsichtlich
des Begriffs "geheim" der geforderten Klarheit.

    a) Mit dieser Argumentation setzt der Beschwerdeführer als
selbstverständlich voraus, dass das in Art. 22 GRN statuierte
"Sitzungsgeheimnis" für die Beratungen der Geschäftsprüfungskommission
des Nationalrates eine Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit im
Sinne des Art. 10 EMRK sei und deswegen dem Erfordernis der gesetzlichen
Grundlage in der angeführten Form genügen müsse. Diese Prämisse ist
indessen nur richtig, wenn das durch Art. 10 EMRK gewährleistete Grundrecht
seinem Inhalt nach so weit reicht, dass jenes Sitzungsgeheimnis als eine
von aussen an dieses herangetragene Schranke erscheint und nicht dem
Begriff der Meinungsäusserungsfreiheit inhärent ist. Im letzteren Fall
hätte man es nicht mehr mit einer Einschränkung des Grundrechts gemäss
Art. 10 Ziff. 2 EMRK zu tun, die nur unter den in dieser Bestimmung
genannten Voraussetzungen zulässig wäre.

    b) Nach dem Wortlaut des Art. 10 Ziff. 1 Satz 2 EMRK schliesst die
Meinungsäusserungsfreiheit die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum
Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe
öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. Wie
das Bundesgericht unter Heranziehung der am 10. Dezember 1948 durch die
Vereinten Nationen verkündeten "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte",
der Entwicklungsgeschichte der EMRK und der herrschenden Lehre entschieden
hat, schliesst die Freiheit, Nachrichten und Meinungen ohne Eingriffe der
Behörden zu empfangen, das Recht ein, sich zu diesem Zwecke aus allgemein
zugänglichen Quellen aktiv zu unterrichten (BGE 104 Ia 92 E. 4a, 378 E. 2;
bestätigt in BGE 107 Ia 236 E. 2 und 105 Ia 182 E. 2a). Soweit damit die
durch Art. 10 EMRK garantierte Meinungsäusserungsfreiheit das Recht auf
aktive Erschliessung von Informationsquellen umfasst, ist dieses nach dem
Gesagten schon seinem Gehalt nach kein unbegrenztes in dem Sinne, dass
jedermann Anspruch darauf hätte, sich aus irgendwie zugänglichen Quellen
aktiv zu informieren. Vielmehr ist es auf allgemein zugängliche Quellen
beschränkt. Diese Schranke liegt im Begriff der Informationsfreiheit, wie
sie durch Art. 10 EMRK gewährleistet wird, sie ist ihr inhärent und stellt
deshalb keine Einschränkung im Sinne von Ziffer 2 dieses Artikels dar,
die zu ihrer Gültigkeit einer zureichenden gesetzlichen Grundlage bedürfte.

    c) Zur Entscheidung steht deshalb die Frage, ob die Verhandlungen
der GPK des Nationalrates als allgemein zugängliche Informationsquelle
zu gelten haben oder nicht. Die GPK des Nationalrates ist eine der
ständigen Kommissionen dieses Rates, denen es obliegt, die Ratsgeschäfte
vorzuberaten (Art. 11bis des Bundesgesetzes über den Geschäftsverkehr
der Bundesversammlung usw./Geschäftsverkehrsgesetz; SR 171.11/GVG;
Art. 15 GRN) und ihrem Rat Bericht zu erstatten und Antrag zu stellen
(Art. 11ter GVG; Art. 20 GRN). Die Übertragung so weitgehender Aufgaben
an Kommissionen sollte nicht nur der schwerfälligen Arbeitsweise
einer Vollversammlung wie derjenigen eines Parlamentes bzw. einer
seiner Kammern entgegenwirken, sondern hatte ihren Grund auch und
vor allem in den durch die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen
(Art. 94 BV) verursachten Schwierigkeiten sicherheitspolitischer und
arbeitspsychologischer Natur. Abgesehen davon, dass es delikate aussen-
und innenpolitische Angelegenheiten gibt, deren öffentliche Beratung
im Parlament u.U. der Sache höchst abträglich wäre, verlangt die den
Kommissionen übertragene bedeutende Aufgabe eine eingehende und möglichst
objektive Prüfung des einzelnen Ratsgeschäftes sowie die Erarbeitung von
Lösungen, die häufig nur als Kompromiss zwischen stark divergierenden
Auffassungen erreichbar sind. Hierfür aber ist es unerlässlich, dass die
einzelnen Mitglieder der Kommission sich jederzeit frei und unbehindert
durch unzeitige äussere Einflüsse, aber auch unbelastet von irgendwelchen
parteipolitischen Rücksichten zum Verhandlungsgegenstand sollen äussern
können (BGE 107 IV 187 ff.; C. BURKHARD, Die parlamentarischen Kommissionen
der schweizerischen Bundesversammlung, Diss. Zürich 1952, S. 3 ff.,
110, 117 und 191 f.; FLEINER/GIACOMETTI, Schweizer. Bundesstaatsrecht,
S. 552). Dass dies aber in aller Regel nur durch den Ausschluss der
Öffentlichkeit gewährleistet ist, ist eine durch die Erfahrung erhärtete
Tatsache. Dazu kommt, dass die Kommissionen zu ihrer Meinungsbildung
nicht selten Auskünfte der Verwaltung, deren Tätigkeit im allgemeinen
nicht öffentlich ist (BGE 104 Ia 378 E. 2), oder gar Amtsakten benötigen
und deren Inhalt in ihre Beratungen einbeziehen (Art. 47quater GVG). Auch
das macht deutlich, dass die Verhandlungen parlamentarischer Kommissionen
grundsätzlich der Kenntnisnahme durch unbeteiligte Dritte entzogen sind
und es der jeweiligen Kommission anheimgestellt bleiben muss, nach dem
Stand ihrer Beratungen und der Natur des Geschäfts zu bestimmen, wann und
in welchem Umfang sie namentlich auch die Presse über ihre Verhandlungen
orientieren will. Diese schon unmittelbar aus der Aufgabenstellung und der
Arbeitsweise der parlamentarischen Kommissionen folgenden Grundsätze haben
ihren Niederschlag in Art. 22 GRN gefunden, der das "Sitzungsgeheimnis"
und die Information regelt.

    Nach dem Gesagten kann es somit keinem Zweifel unterliegen, dass die
Verhandlungen der GPK nicht als allgemein zugängliche Informationsquelle
gelten können, die im Sinne von Art. 10 EMRK jedermann jederzeit zu
erschliessen berechtigt wäre; sie werden denn auch im Schrifttum als
nicht öffentlich bezeichnet (AUBERT, Traité de droit constitutionnel
suisse, II S. 573 Nr. 1430; BURKHARD, aaO S. 3, 182, 189-191). Was
aber für die Verhandlungen selber Geltung hat, muss selbstverständlich
auch für den im vorliegenden Fall von der GPK des Nationalrats bei der
Sektion EMD eingeholten Bericht über den Fall Bachmann/Schilling (samt den
integrierenden Bestandteil dieses Berichtes bildenden Antworten des EMD)
gelten, den die genannte Kommission am 3. Juni 1980 in ihre Beratungen
einbeziehen wollte und der deshalb einer Kenntnisnahme durch unbeteiligte
Dritte im Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer ihn auszugsweise publizierte,
hätte entzogen bleiben sollen, was übrigens durch den darauf angebrachten
Vermerk deutlich gemacht worden war.

    d) Ist dem aber so, stellt sich die vom Beschwerdeführer zur
Entscheidung gestellte Frage nach der genügenden gesetzlichen Grundlage der
von ihm behaupteten Einschränkung der Meinungsäusserungsfreiheit gemäss
Art. 10 EMRK überhaupt nicht. Was er als "Einschränkung" ansieht, ist
eine im Grundrecht selber liegende Schranke, die nicht jenem Erfordernis
unterliegt; denn - wie bereits ausgeführt - gewährleistet die von der
Meinungsäusserungs- und der Pressefreiheit miterfasste Informationsfreiheit
(BGE 104 Ia 378 E. 2) nur die aktive Erschliessung allgemein zugänglicher
Quellen, zu denen der genannte Bericht nicht gehörte.