Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IA 243



108 Ia 243

45. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22.
Dezember 1982 i.S. Hausherr und Scheidegger gegen Regierungsrat und
Grosser Rat des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 34 Abs. 3 bern. KV, Art. 85 lit. a OG; Methode zur Ermittlung
des absoluten Mehrs bei Majorzwahlen.

    Die in Art. 24 des Dekrets über die politischen Rechte vom 5.6.1980
festgehaltene Methode zur Ermittlung des absoluten Mehrs (sämtliche
ausgefüllten Linien bilden die massgebende Totalstimmenzahl) widerspricht
nicht Art. 34 Abs. 3 KV. Diese Methode ist ebenso gut wie eine andere
geeignet, ein dem Willen der Wählerschaft entsprechendes, unverfälschtes
Resultat zu ermitteln.

Sachverhalt

    A.- Art. 34 Abs. 3 der Staatsverfassung des Kantons Bern bestimmt, dass
"im ersten Wahlgang diejenigen (in der Reihenfolge der Stimmenzahl) in den
Regierungsrat gewählt sind, welche das absolute Mehr der gültigen Stimmen
auf sich vereinigen". Gemäss Art. 24 des Dekretes über die politischen
Rechte (DPR) vom 5. Mai 1980 "fallen für die Ermittlung der Wahlergebnisse
die leeren und die ungültigen Wahlzettel sowie die leeren Stimmen ausser
Betracht. ... Gewählt ist, wer das absolute Mehr der gültigen Stimmen
erreicht. Dieses berechnet sich wie folgt: Die Gesamtzahl der gültigen
Kandidatenstimmen wird durch die Zahl der zu wählenden Behördemitglieder
geteilt und das Ergebnis halbiert; die nächsthöhere ganze Zahl ist
das absolute Mehr. Haben mehr Kandidaten das absolute Mehr erreicht,
als Behördemitglieder zu wählen sind, so ist gewählt, wer die meisten
Stimmen erhalten hat. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los..."

    Am 25. April 1982 wurden im Kanton Bern die Regierungsratswahlen
durchgeführt. Das absolute Mehr wurde in Anwendung von Art. 24 Abs. 1
und 2 DPR mit 63'444 Stimmen ermittelt. Demgemäss wurden folgende neun
Kandidaten als gewählt erklärt:

    Martignoni Werner                mit 146'749 Stimmen;

    Blaser Ernst                     mit 141'649 Stimmen;

    Schmid Peter                     mit 140'138 Stimmen;

    Krähenbühl Hans                  mit 136'095 Stimmen;

    Favre Henri-Louis                mit 134'673 Stimmen;

    Müller Bernhard                  mit 129'302 Stimmen;

    Meyer Kurt                       mit  84'696 Stimmen;

    Sommer Henri                     mit  83'696 Stimmen;

    Bürki Gotthelf                   mit  82'580 Stimmen.

    Alle neun gewählten Kandidaten gehörten schon bisher dem Regierungsrat
an. Weitere Stimmen entfielen auf verschiedene Kandidaten, wobei Dr. Paul
Günter mit 28'862 Stimmen unter den Nichtgewählten das beste Ergebnis
erzielte.

    Dr. Rudolf Hausherr und Martin Scheidegger führten gegen diese Wahl
am 28. April 1982 beim Grossen Rat des Kantons Bern Beschwerde unter
anderem mit dem Antrag, es seien die Kandidaten Bürki, Meyer und Sommer als
nicht gewählt zu erklären, weil sie das absolute Mehr der gültigen Stimmen
nicht erreicht hätten. Die Beschwerde wurde vom Grossen Rat am 7. Juni
1982 abgewiesen. Die gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche
Beschwerde weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführer beanstanden die Methode, nach der bei
den angefochtenen Regierungsratswahlen das absolute Mehr ermittelt
worden ist. Sie stellen auch hier nicht in Abrede, dass die angewandte
Berechnungsweise den Bestimmungen des DPR entspricht und dass dieses
Dekret in Art. 42 Abs. 2 des Gesetzes über die politischen Rechte von
5. Mai 1980 eine ausreichende gesetzliche Grundlage habe. Sie machen
jedoch geltend, das gewählte Vorgehen gemäss DPR stehe mit dem in Art. 34
Abs. 3 der Staatsverfassung enthaltenen Begriff des absoluten Mehrs nicht
in Einklang. Eine solche Rüge kann vorfrageweise jederzeit noch erhoben
werden, obschon die Frist zur Anfechtung des DPR längst verstrichen ist.

    b) Der Ausdruck "absolutes Mehr" findet sich praktisch in
allen Kantonsverfassungen und Wahlgesetzen, in denen von der Wahl
von Behörden nach dem Majorzsystem die Rede ist. Indessen besteht
keine bundesrechtliche, für die Kantone verbindliche Auslegung dieses
Begriffs. Er ist in Fällen, in denen nur ein Behördemitglied zu wählen
ist, eindeutig bestimmt als die nächsthöhere ganze Zahl, die auf die
Hälfte der gültigen und nicht leeren Stimmzettel folgt. Sind indessen
mehrere Mitglieder der nämlichen Behörde zu wählen, wie dies vor allem bei
Gesamterneuerungswahlen nach Ablauf der Amtsdauer zutrifft, so sind zwei
Berechnungsarten möglich, die sich durch die Art unterscheiden, wie den
nur teilweise ausgefüllten Wahlzetteln Rechnung getragen wird. Nach der
ersten Methode werden die massgebende Stimmzahl und damit das absolute
Mehr aufgrund sämtlicher nicht völlig leer eingelegter Wahlzettel
ermittelt. Die Hälfte dieses Totals, aufgerundet auf die nächsthöhere
ganze Zahl, bildet das absolute Mehr. Nach der zweiten Methode bilden
sämtliche gültig ausgefüllten Linien der Wahlzettel die massgebende
Totalstimmenzahl, d.h. es bleiben nicht nur die völlig leeren Wahlzettel
unberücksichtigt, sondern auch die leeren und ungültig ausgefüllten Linien
der nur teilweise ausgefüllten Wahlzettel. Die Anzahl sämtlicher gültig
ausgefüllter Linien, geteilt durch die Anzahl der zu vergebenden Mandate,
wird alsdann halbiert; die nächsthöhere ganze Zahl bedeutet das absolute
Mehr. Diese zweite Methode ist diejenige, die nach der klaren Bestimmung
von Art. 24 DPR im Kanton Bern für die Regierungsratswahlen Anwendung
findet. Die Beschwerdeführer halten dafür, ihre Anwendung widerspreche dem
Begriff des absoluten Mehrs, wie er in Art. 34 Abs. 3 der Staatsverfassung
niedergelegt sei. Sie führen dafür historische Argumente an und machen
darüber hinaus geltend, der Wille derjenigen Wähler, die nur teilweise
ausgefüllte Wahlzettel in die Urne legten und so nach Möglichkeit einen
zweiten Wahlgang herbeiführen möchten, werde missachtet. Nach der von
ihnen befürworteten Berechnungsweise hätte das absolute Mehr beim Wahlgang
vom 25. April 1982 nicht 63'444, sondern 105'942 Stimmen betragen, mit
der Folge, dass die Kandidaten Meyer, Sommer und Bürki nach dem ersten
Wahlgang nicht als zu Regierungsräten gewählt hätten erklärt werden dürfen.

    c) Das historische Argument schlägt nicht durch. Zwar ist es richtig,
dass das absolute Mehr im Kanton Bern bis zum Jahre 1956 nach der ersten,
von den Beschwerdeführern vertretenen Methode ermittelt wurde. Damals wurde
das DPR durch den Grossen Rat in wesentlichen Punkten abgeändert, wobei
sich aus dem Protokoll über die Beratungen ergibt, dass der Neuregelung
vor allem die Sorge um eine verbesserte Stimmbeteiligung zugrunde lag, die
man unter anderem durch Einschränkung der Notwendigkeit von Stichwahlen zu
erreichen suchte. Der Regierungsrat hatte im Vorstadium der Beratung über
die Frage, wie das absolute Mehr zu ermitteln sei, ein Rechtsgutachten von
Professor Dr. Hans Huber eingeholt. Dieser war zum Schlusse gelangt, die in
Aussicht genommene neue Art der Berechnung des absoluten Mehrs bei der Wahl
von Kollegialbehörden sei weder formell noch materiell verfassungswidrig,
und sie bedeute namentlich auch keine Willkür im Sinne von Art. 4 BV. Er
hatte allerdings beigefügt, bei einer historisch-politischen Beurteilung
würde nach seiner persönlichen Meinung die bisherige Berechnungsweise
den Vorzug verdienen. Der Grosse Rat des Kantons Bern entschied sich
in Kenntnis der Schlussfolgerungen dieses Gutachtens mit 111:21 Stimmen
zugunsten der neuen, noch jetzt gültigen Berechnungsweise. Es kann somit
heute, 27 Jahre später, nicht mehr mit Grund behauptet werden, die im DPR
vorgesehene Lösung sei historisch gesehen nicht haltbar. Dazu kommt, dass
sie auch in anderen Kantonen verbreitet ist. So wird im Kanton Zürich das
absolute Mehr bei der Gesamterneuerung von Kollegialbehörden seit langer
Zeit nach dem heute im Kanton Bern angewandten System ermittelt (vgl. HANS
AEPPLI, Zürcher Wahl- und Abstimmungsrecht, Zürich 1934, S. 49/50), und
aus einer Dissertation aus dem Jahre 1907, die Wahlsysteme verschiedener
Kantone behandelt, lässt sich schliessen, dass diese Methode schon damals
die vorherrschende war (MAX DUTTWEILER, Das Stimmrecht in der Schweiz,
Affoltern a./A. 1907, S. 84).

    d) Zudem erscheint die zweite, im DPR vorgesehene Lösung zum
mindesten nicht als weniger folgerichtig als die erste. Nach dieser
müssten nämlich Wahlzettel, die bei neun zu besetzenden Mandaten z.B. nur
einen oder zwei Namen tragen, bei der Ermittlung des absoluten Mehrs
gleich wie solche mit neun Namen voll berücksichtigt werden, während
ganz leere Wahlzettel unbestrittenermassen ausser Betracht zu bleiben
hätten. Das erscheint als wenig logisch. Es ist schwer ersichtlich,
weshalb der Stimmbürger von seinem Recht, sich der Stimme zu enthalten,
bei Wahlen einer Kollegialbehörde nur ganz oder gar nicht, nicht aber
teilweise sollte Gebrauch machen können, und weshalb in diesem Falle die
leer gelassenen Linien nicht ebenso unberücksichtigt bleiben sollten
wie die völlig leeren Wahlzettel. Die spärlichen Hinweise, die in der
staatsrechtlichen Literatur zur Frage der Mehrheitswahl zu finden sind,
deuten denn auch in diese Richtung. So führt ZACCARIA GIACOMETTI aus,
die Nichtberücksichtigung der leeren Stimmzettel bei der Feststellung der
Mehrheit erscheine als selbstverständlich; denn stimmberechtigte Personen,
die leer einlegten, hätten materiell nicht gestimmt (Das Staatsrecht der
schweizerischen Kantone, Zürich 1941, S. 261), und JEAN-FRANCOIS AUBERT
bemerkt in einem Abschnitt, den er dem qualifizierten Mehr und seinen oft
merkwürdigen Folgen widmet: "La démocratie pure veut une majorité simple,
calculée sur l'ensemble des seules personnes qui ont voté" (Traité de droit
constitutionnel suisse, Neuchâtel 1967, volume II, S. 402, N. 1067). Zwar
erörtern diese beiden Autoren nicht genau den hier streitigen Sachverhalt,
doch darf aus den angeführten Stellen doch wohl geschlossen werden, dass
sie die hier angewandte Methode zur Ermittlung des absoluten Mehrs zum
mindesten nicht für falsch erachten.

    e) Nicht beigepflichtet werden kann den Beschwerdeführern schliesslich,
wenn sie ausführen, der Wille derjenigen Wähler, die bewusst einen zweiten
Wahlgang anstrebten, verdiene die nämliche Beachtung wie derjenige der
übrigen Wahlberechtigten. Die Beschwerdeführer übersehen, dass das Ziel
jeder Wahl darin besteht, die freien Sitze in einer staatlichen Behörde
nach Möglichkeit zu besetzen. Auch im ersten Wahlgang sollte es dem
loyalen Stimmbürger nicht darum gehen, eine Pattsituation anzustreben,
damit in jedem Falle ein zweiter Wahlgang notwendig wird. Würde man diese
Zielsetzung anerkennen, so würde, zu Ende gedacht, die Durchführung
des ersten Wahlgangs zur Farce. Stichwahlen sind erforderlich, um
Zufallsentscheide zu vermeiden und um dem Wähler die Möglichkeit zu geben,
bei einem relativ knappen Ausgang des ersten Wahlgangs seine Stimme
denjenigen Kandidaten zukommen zu lassen, die für ihn möglicherweise
zweite Wahl darstellen, die er aber den übrigen, im ersten Wahlgang noch
nicht gewählten Bewerbern vorzieht. Sie bilden an sich im Majorzsystem
eine Notwendigkeit zur vollständigen Besetzung von Kollegialbehörden nach
demokratischer Weise, können aber, wenn die Einrichtungen der Demokratie
nicht ad absurdum geführt werden sollen, nicht ein im ersten Wahlgang
systematisch anzusteuernder Selbstzweck sein. Dass ein knapper Ausgang
des 1. Wahlganges, welcher bei einem 2. Wahlgang vielleicht zu einem
anderen Wahlergebnis geführt hätte, hier nicht vorlag, ergibt sich aus
der Stimmenzahl des letztgewählten (82'580) und des ersten nichtgewählten
(28'862) Kandidaten. Die Rüge der ungenügenden Berücksichtigung der
leeren Linien der Wahlzettel geht somit ebenfalls fehl.

    f) Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichtes, sich zugunsten der einen
oder anderen Art der Ermittlung des absoluten Mehrs bei Majorzwahlen zu
entscheiden. Ist, wie dargetan, die im Kanton Bern angewandte Methode
ebenso gut wie eine andere geeignet, ein dem Willen der Wählerschaft
entsprechendes, unverfälschtes Resultat zu ermitteln, so erweist sich die
staatsrechtliche Beschwerde als unbegründet. Sie ist demgemäss abzuweisen.