Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 68



105 V 68

18. Urteil vom 4. April 1979 i.S. Ausgleichskasse des Kantons Bern gegen
Schmid und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 3 ELG. Bei unverteilten Erbschaften ist der Grundsatz von
Art. 18 ELV analog auf die Erträgnisse, Schuldzinsen und Unterhaltskosten
anzuwenden.

Sachverhalt

    A.- Die verwitwete Ida Schmid bezieht eine AHV-Rente. Der Nachlass
ihres im Jahre 1970 verstorbenen Ehemannes besteht fast ausschliesslich
aus einer Liegenschaft und ist bisher unter ihr und den Nachkommen noch
unverteilt geblieben.

    In den Jahren 1972 bis 1974 wurden ihr Ergänzungsleistungen zur
AHV-Rente gewährt. Mit der Rentenerhöhung per 1. Januar 1975 fiel der
diesbezügliche Anspruch der Versicherten weg. Ein Gesuch um Zusprechung
von Ergänzungsleistungen vom Mai 1976 wurde wegen Überschreitung der
Einkommensgrenze abgewiesen.

    Am 15. Dezember 1976 bzw. 18. Januar 1977 ersuchte Ida Schmid erneut
um Gewährung von Ergänzungsleistungen. Mit Verfügungen vom 16. Juni 1977
(für den Dezember 1976) und 17. Juni 1977 (für das Jahr 1977) wies die
Ausgleichskasse des Kantons Bern das Gesuch wiederum wegen Überschreitung
der Einkommensgrenze ab. Ausschlaggebend war, dass die Kasse unter dem
Titel "Unterhaltskosten für Gebäude" nicht den von der Versicherten
geltend gemachten Betrag von Fr. 11'496.--, sondern lediglich Fr. 778.--
als abzugsberechtigt erachtete.

    B.- Gegen die Verfügungen vom 16. und 17. Juni 1977 erhob Ida
Schmid Beschwerde. Sie beantragte, es sei der steuerrechtlich als nicht
wertvermehrend anerkannte Unterhaltskosten-Betrag von Fr. 8'443.65 als
abzugsberechtigt zu erklären.

    Soweit damit ihre Verfügung vom 16. Juni 1977 betroffen wurde, schloss
die Ausgleichskasse in ihrer Stellungnahme auf Abweisung der Beschwerde;
soweit die Verfügung vom 17. Juni 1977 angefochten wurde, schloss die Kasse
auf teilweise Gutheissung der Beschwerde mit Rückweisung der Akten an sie,
zwecks Neuberechnung eines allfälligen Anspruchs auf Ergänzungsleistungen
für das Jahr 1977. Sie wies unter anderem darauf hin, dass, entgegen
der Berechnung in der angefochtenen Verfügung vom 17. Juni 1977, bei
noch unverteilten Erbschaften, deren Nutzung faktisch dem überlebenden
Ehegatten überlassen wird, diesem für die Belange der Ergänzungsleistungen
ein Viertel des Nachlasses als Eigentum, die restlichen drei Viertel
als Nutzniessung anzurechnen seien. Bei der Einkommensberechnung
sei dementsprechend der Ertrag aus dem Nachlassvermögen zu einem
Viertel infolge Eigentums und zu drei Viertel infolge Nutzniessung zu
berücksichtigen. Die gleiche Unterteilung sei bei den abzugsberechtigten
Schuldzinsen vorzunehmen. Als Gebäudeunterhaltskosten könnten indes
anteilsmässig abgezogen werden: auf dem Eigentumsviertel der tatsächliche,
nicht wertvermehrende Unterhalt; beim Nutzniessungsanteil, in Anlehnung
an das Steuerrecht, ein Sechstel des Liegenschaftsertrages.

    Mit Entscheid vom 24. Februar 1978 erkannte das Versicherungsgericht
des Kantons Bern: "Soweit die Verfügung vom 16. Juni 1977 betreffend,
wird die Beschwerde abgewiesen; betreffend die Verfügung vom 17. Juni 1977
wird sie insofern gutgeheissen, als die angefochtene Verfügung aufgehoben
und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird zur Neuberechnung des
EL-Anspruches für 1977 nach Massgabe der Motive." In den Erwägungen wurde
der Verwaltung hinsichtlich Einkommensberechnung nahegelegt, diese sowohl
unter Annahme einer Wahl des Eigentumsviertels durch die Versicherte
als auch unter Annahme einer Wahl der Nutzniessung an der Hälfte des
Nachlasses nach den von ihr selber in ihrer Stellungnahme festgelegten
Berechnungsgrundsätzen für Liegenschaftsertrag, abzugsberechtigte
Schuldzinsen und Gebäudeunterhaltskosten durchzuführen; massgebend sei dann
das Mittel beider Werte. Als Alternativlösung sei auf eine hypothetische
Wahl des Eigentumsviertels durch den überlebenden Ehegatten abzustellen.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die
Ausgleichskasse, der Entscheid des Versicherungsgerichts sei teilweise
aufzuheben; die Sache sei anschliessend an sie zurückzuweisen, damit sie
eine neue Verfügung im Sinne ihrer Anträge vor der Vorinstanz erlassen
könne.

    Die Versicherte stellt ihrerseits den Antrag, die Ausgleichskasse sei
anzuweisen, den von der Steuerbehörde anerkannten Unterhaltskosten-Betrag
von Fr. 8'443.-- bei der Einkommensberechnung in Abzug zu bringen;
eventualiter sei die Hälfte davon zu berücksichtigen, entsprechend dem
ihr von den Miterben freiwillig zur Nutzniessung überlassenen halben Teil
der Liegenschaft.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung schliesst auf Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde; der Entscheid der Vorinstanz sei aufzuheben
und die Akten seien zur neuen Abklärung des EL-Anspruchs - unter Anrechnung
je eines Viertels des Liegenschaftsertrags, der Hypothekarzinsen sowie
der tatsächlich erwachsenen Gebäudeunterhaltskosten (in Anlehnung an
Art. 18 ELV) - und zu neuer Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 462 Abs. 1 ZGB erhält der überlebende Ehegatte, wenn
der Erblasser Nachkommen hinterlässt, nach seiner Wahl entweder die Hälfte
der Erbschaft zur Nutzniessung oder den Viertel zu Eigentum. Solange
er von diesem Wahlrecht keinen Gebrauch macht, werden für die Belange
der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV ein Viertel des Nachlasses ihm
und drei Viertel desselben zu gleichen Teilen den Kindern als Vermögen
angerechnet (Art. 18 ELV).

Erwägung 2

    2.- a) Als Einkommen sind nach Art. 3 Abs. 1 lit. b ELG unter
anderem auch die Einkünfte aus beweglichem oder unbeweglichem Vermögen
anzurechnen. Darunter fallen ohne Zweifel auch die Einkünfte, welche Ida
Schmid aus ihrem für die Ergänzungsleistungen massgebenden Vermögen von
einem Viertel des Nachlasses bezieht. Zu prüfen bleibt jedoch die Frage,
ob dies auch für die Einkünfte aus dem Teil des Nachlasses gilt, der
laut Art. 18 ELV den Nachkommen als Vermögen anzurechnen ist, der aber
faktisch der Versicherten zur Nutzniessung überlassen wird. Während
die Ausgleichskasse bejahend dazu Stellung nimmt, ist das Bundesamt
für Sozialversicherung der Ansicht, es handle sich dabei um eine nicht
anrechenbare Verwandtenunterstützung im Sinne von Art. 3 Abs. 3 lit. a ELG.

    Wie das Eidg. Versicherungsgericht in einem nicht veröffentlichten
Urteil vom 9. November 1970 i.S. Reichmuth entschieden hat, kann den
den Erbanspruch übersteigenden Zuwendungen von Miterben (Nachkommen)
aus der Erbschaft der Charakter einer Verwandtenunterstützung gemäss den
Artikeln 328 ff. ZGB zugesprochen werden. Im vorliegenden Fall ist von
dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Es wäre nämlich unverständlich,
wenn eine derartige Geste nicht zu einer Besserstellung der Bedachten,
sondern lediglich zu einer Entlastung der öffentlichen Hand führen würde.

    b) Vom Einkommen sind laut Art. 3 Abs. 4 lit. b ELG die Schuldzinsen
abzuziehen. Die Ausgleichskasse und die Vorinstanz scheinen sich
darüber einig zu sein, dass bei der Berechnung des EL-Anspruchs die
gesamten aus der hypothekarischen Belastung der Nachlassliegenschaft
sich ergebenden Schuldzinsen vom Einkommen in Abzug zu bringen seien und
nicht nur ein Viertel derselben gemäss der von Art. 18 ELV vorgesehenen
Vermögensaufteilung.

    Diese Auffassung kann nicht geteilt werden. Ihre Konkretisierung
würde zur Folge haben, dass ein Leistungsansprecher durch Bezahlung von
Schulden Dritter Ergänzungsleistungen erwirken könnte. Dies widerspräche
der Zielsetzung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG, wonach Einkünfte und
Vermögenswerte, auf die zur Erwirkung von Ergänzungsleistungen verzichtet
worden ist, als Einkommen anzurechnen sind. Entsprechend dem anrechenbaren
Vermögensviertel ist daher lediglich ein Viertel der Schuldzinsen vom
Einkommen der Versicherten abzuziehen.

    c) Vom anrechenbaren Einkommen sind weiter die Gebäudeunterhaltskosten
abzuziehen (Art. 3 Abs. 4 lit. c ELG). Art. 16 ELV präzisiert dazu, dass
die Kosten des laufenden Unterhalts von Gebäuden nach den Grundsätzen
der Wehrsteuergesetzgebung bewertet werden. Die Wehrsteuerpraxis des
Kantons Bern lässt dabei dem Steuerpflichtigen die Wahl zwischen der
Berücksichtigung der tatsächlichen, nicht wertvermehrenden Unterhaltskosten
und der Berücksichtigung eines Pauschalabzugs im Ausmass von einem Sechstel
des Brutto-Mietertrages. Ida Schmid macht geltend, es seien im Gegensatz
zur Auffassung der Ausgleichskasse die gesamten, nicht wertvermehrenden
Unterhaltskosten im Betrage von Fr. 8'443.-- von ihrem Einkommen in Abzug
zu bringen. Die Vorinstanz stellt demgegenüber fest, dass der Nutzniesser
gemäss Art. 764 und 765 ZGB nur für den "gewöhnlichen" und nicht für
den gesamten laufenden Unterhalt der Sache aufzukommen habe. Was den
Nutzniessungsanteil anbelangt, sei deshalb die Beschränkung des Abzugs auf
den niedrigeren steuerlichen Pauschalbetrag (im Sinne der Ausgleichskasse)
nicht zu beanstanden. Die Auffassung der Vorinstanz ist mit dem Wortlaut
von Art. 16 ELV nicht zu vereinbaren. Diese Bestimmung spricht ausdrücklich
vom "laufenden" Unterhalt von Gebäuden, der für die Bewertung der
Unterhaltskosten massgeblich ist. Eine Einschränkung auf den "gewöhnlichen"
Unterhalt findet daher im Verordnungstext keine Stütze. Abgesehen davon
könnte eine solche Unterscheidung im konkreten Einzelfall zu schwierigen
Abgrenzungsfragen führen. Diese Schwierigkeiten liessen sich allerdings
vermeiden, wenn im Sinne der Vorinstanz für Nutzniesser lediglich die
Pauschalierung der Unterhaltskosten zugelassen würde. Art. 16 ELV verweist
jedoch für die Bewertung der Unterhaltskosten ganz allgemein auf die
Grundsätze der Wehrsteuergesetzgebung, und zwar ungeachtet dessen, ob ein
Leistungsansprecher Eigentümer oder Nutzniesser ist. Er lässt somit für
eine unterschiedliche Behandlung von Eigentümern und Nutzniessern bezüglich
der Unterhaltskosten keinen Spielraum. Art. 16 ELV bietet ebensowenig
eine Handhabe für eine Abweichung von der Wehrsteuerpraxis hinsichtlich
der Varianten zur Berücksichtigung der Gebäudeunterhaltskosten. Wenn
daher der Kanton Bern dem Steuerpflichtigen ein Wahlrecht zwischen
dem Abzug der tatsächlichen, nicht wertvermehrenden Kosten und der
Pauschale einräumt, kann dieses für die Berechnung des EL-Anspruchs
nicht dadurch ausgeschlossen werden, dass für den Nutzniessungsanteil zum
vornherein nur eine Variante - in casu die Pauschalierung - berücksichtigt
wird. Im vorliegenden Fall ist demgemäss auf die tatsächlichen, von der
Steuerbehörde anerkannten Unterhaltskosten abzustellen. Ida Schmid ist der
Auffassung, bei der Berechnung ihres Anspruchs auf Ergänzungsleistungen
seien die vollen, von der Wehrsteuer anerkannten Unterhaltskosten im
Betrage von Fr. 8'443.-- von ihrem Einkommen in Abzug zu bringen. Darin
läge jedoch - wie schon bezüglich Schuldzinsen unter Ziffer 2b festgehalten
wurde - ein Widerspruch zur Zielsetzung von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG. Es
wäre auch unlogisch, bei einer de-facto-Nutzniessung an einer unverteilten
Erbschaft für die Einkommensberechnung in Anlehnung an Art. 18 ELV nur ein
Viertel der Erträgnisse, bei den Abzügen für den Gebäudeunterhalt jedoch
einen grösseren Anteil zu berücksichtigen. Dass eine derartige Lösung zu
Manipulationen geradezu herausfordern würde, liegt auf der Hand. Als Abzug
für Gebäudeunterhaltskosten ist deshalb bei der Berechnung des Einkommens
der Versicherten nur ein Viertel des von ihr geltend gemachten Betrages
zu berücksichtigen.

Erwägung 3

    3.- Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei unverteilten Erbschaften
der Grundsatz von Art. 18 ELV betreffend Anrechnung eines Viertels des
Nachlasses als Vermögen analog auch auf die Erträgnisse, Schuldzinsen
und Unterhaltskosten desselben anzuwenden ist. Die Argumentation
der Ausgleichskasse, dass darin eine Benachteiligung des überlebenden
Ehegatten zu erblicken sei, wenn die Unterhaltskosten die Erträgnisse einer
Liegenschaft übersteigen, ist abzulehnen. Es mag zwar in der Praxis Fälle
geben, in denen es für die überlebenden Ehegatten kaum möglich sein wird,
von den Kindern einen Beitrag an die hohen Gebäudekosten zu erhalten,
da diese nicht zu irgendwelchen Leistungen bereit sind. In derartigen
Fällen sind jedoch vorerst die vom Zivilrecht gebotenen Möglichkeiten zu
einer Bereinigung der Verhältnisse auszuschöpfen. Solange dies ausbleibt,
ist es nicht Sache der Ergänzungsleistung, ausgleichend öffentliche
Mittel einzuschiessen.

    Für die von der Vorinstanz vorgeschlagene Berechnung des Anspruchs auf
Ergänzungsleistungen sowohl auf Grund des Eigentumsviertels als auch auf
Grund der Nutzniessung an der Hälfte des Nachlasses mit nachfolgender
Zusprechung des Mittels beider Ergebnisse fehlt die diesbezügliche
rechtliche und sachliche Grundlage.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 24. Februar
1978 und die Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Bern vom 17. Juni
1977 aufgehoben werden. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Kantons
Bern zur Neuberechnung im Sinne der Erwägungen und zu neuer Verfügung
zurückgewiesen.