Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 58



105 V 58

15. Urteil vom 9. April 1979 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Wenger und Kantonale Rekurskommission für die Ausgleichskassen von
Basel-Stadt Regeste

    Art. 4 Abs. 2 und Art. 19 IVG, Art. 8 und 12 IVV.

    - Eintritt des Versicherungsfalls bei der Sonderschulung.

    - Der Übertritt vom Sonderkindergarten in die Sonderschule (im Rahmen
des ordentlichen Schulalters) löst keinen neuen Versicherungsfall aus.

Sachverhalt

    A.- Der am 12. Januar 1969 geborene deutsche Staatsangehörige Tim
Wenger leidet seit seiner Geburt an Mongolismus (Trisomie 21). Am 20.
Januar 1972 reiste er in die Schweiz ein. Vom 13. Juni 1972 bis Mitte
1975 besuchte er in Basel die Vorschule der JUFA (gemeinnützige Schule
für entwicklungsgehemmte Kinder) und ab 11. August 1975 die Sonderschule
der JUFA.

    Im März 1972 wurde Tim Wenger von seinem Vater bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (medizinische Massnahmen sowie
Beiträge an die Vorschule) angemeldet. Entsprechend einem Beschluss
der Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons Basel-Stadt (vom
17. Juli 1972) lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Basel-Stadt
Eingliederungsmassnahmen am 29. Juli 1972 verfügungsweise ab, da die
versicherungsmässigen Voraussetzungen in bezug auf den schweizerischen
Wohnsitz gemäss dem schweizerisch-deutschen Abkommen über Soziale
Sicherheit vom 25. Februar 1964 nicht erfüllt seien. Die hiegegen
eingereichte Beschwerde wies die baselstädtische Rekurskommission für die
Ausgleichskassen mit unangefochten gebliebenem Entscheid vom 2. November
1972 ab. Ein erneutes Begehren vom 8. Mai 1975 um Kostenübernahme beschied
die Invalidenversicherungs-Kommission am 9. Juli 1975 abschlügig.

    Am 17. November 1977 ersuchte die Mutter von Tim ein weiteres
Mal um Sonderschulbeiträge und Transportkostenvergütung. Die
Invalidenversicherungs-Kommission stellte fest, dass mit dem Übertritt aus
der Vorschule (Sonderkindergarten) in die Sonderschule (obligatorische
Schulpflicht) kein neuer Versicherungsfall eingetreten sei. Vielmehr
handle es sich um ein und denselben Versicherungsfall. Sie wies deshalb das
Begehren wiederum ab (Beschluss vom 20. Dezember 1977). Dies eröffnete die
Ausgleichskasse der Mutter von Tim Wenger mit Verfügung vom 4. Januar 1978.

    B.- Auf Beschwerde hin hob die baselstädtische Rekurskommission für
die Ausgleichskassen die angefochtene Verfügung mit Entscheid vom 20. April
1978 auf und wies die Kasse an, Tim Wenger ab Eintritt in die Sonderschule
die gesetzlichen Beiträge (einschliesslich Transportkostenbeiträge) zu
gewähren. Sie führte aus, die für die Vorschule und die Sonderschulung
vorgesehenen Massnahmen seien derart verschieden, dass mit dem Eintritt
von Tim Wenger in die Sonderschule ein neuer Versicherungsfall angenommen
werden dürfe.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
das Bundesamt für Sozialversicherung, den vorinstanzlichen Entscheid
aufzuheben. Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den
Erwägungen eingegangen.

    Der Beschwerdegegner lässt durch seine Mutter die Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 18 Abs. 2 des schweizerisch-deutschen Abkommens über
Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 erhalten minderjährige Kinder
deutscher Staatsangehörigkeit Eingliederungsmassnahmen der schweizerischen
Invalidenversicherung unter anderem, wenn sie in der Schweiz Wohnsitz
haben und, unmittelbar bevor diese Massnahmen in Betracht kommen bzw. die
Invalidität eingetreten ist (vgl. in diesem Zusammenhang ZAK 1972 S. 672
Erw. 2, EVGE 1969 S. 223 Erw. 2), ununterbrochen während mindestens eines
Jahres dort gewohnt haben.

    Laut Art. 4 Abs. 2 IVG gilt die Invalidität als eingetreten, sobald
sie die für die Begründung des Anspruchs auf die jeweilige Leistung
erforderliche Art und Schwere erreicht hat. Dieser Zeitpunkt ist objektiv
auf Grund des Gesundheitszustandes festzustellen; zufällige externe
Faktoren sind unerheblich (BGE 103 V 130).

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner
seit Januar 1972 in der Schweiz Wohnsitz hat. Ebenso steht fest, dass Art
und Schwere seines Leidens an sich einen Anspruch auf Sonderschulbeiträge
sowie Transportkostenvergütung begründen würden. Hingegen ist streitig,
ob der Versicherungsfall nach Ablauf der in Art. 18 Abs. 2 des erwähnten
Abkommens vorgesehenen minimalen Wohnsitzdauer von einem Jahr eintrat. Dies
ist zu bejahen, wenn mit der Vorinstanz angenommen wird, der im August
1975 erfolgte Übertritt vom Sonderkindergarten in die Sonderschule habe
einen neuen Versicherungsfall ausgelöst. Falls dagegen der Auffassung
des Beschwerdeführers beizupflichten ist, wonach - von der Gesamtheit der
Massnahmen im Rahmen der Sonderschulung her betrachtet - Sonderkindergarten
und Sonderschule eine Einheit darstellen, muss der Eintritt eines neuen
Versicherungsfalles im August 1975 verneint werden.

    a) Bei den medizinischen Eingliederungsmassnahmen gilt die Invalidität
nach der Rechtsprechung in dem Zeitpunkt als eingetreten, in dem das
festgestellte Gebrechen eine medizinische Behandlung oder ständige
Kontrolle objektiv erstmals notwendig macht, was dann zutrifft, wenn die
Behandlungs- oder Kontrollbedürftigkeit beginnt und keine Gegenindikation
besteht (BGE 99 V 208 Erw. 1, 98 V 270 Erw. 2). Hinsichtlich der
Hilfsmittel hat das Eidg. Versicherungsgericht festgehalten, dass
der Versicherungsfall dann eintritt, wenn der Gesundheitsschaden
objektiv erstmals ein solches Gerät notwendig macht, wobei dieser
Zeitpunkt nicht etwa mit dem der erstmaligen Behandlungsbedürftigkeit
des Gesundheitsschadens übereinzustimmen braucht (BGE 103 V 130 f.,
100 V 169 Erw. 1). In entsprechender Anwendung dieser Grundsätze auf die
Sonderschulung ergibt sich, dass der Versicherungsfall dann als eingetreten
gilt, wenn der Gesundheitsschaden eine solche Massnahme objektiv erstmals
erfordert und - da die Sonderschulung ebenso wie die erstmalige berufliche
Ausbildung nach Art. 16 IVG nicht in jedem beliebigen Alter durchgeführt
werden kann - der Versicherte auch die altersmässigen Voraussetzungen
hiefür erfüllt.

    b) Angesichts des seit der Geburt vorhandenen Leidens stand beim
Beschwerdegegner die Notwendigkeit des Besuchs von Sonderkindergarten und
Sonderschule schon vor der Wohnsitznahme in der Schweiz fest. Jedoch kam
der Eintritt in die Vorschule der JUFA für ihn praktisch erst im Alter
von rund dreieinhalb Jahren in Betracht. Unbestrittenermassen trat der
Versicherungsfall somit im Juni 1972 ein; mangels mindestens einjährigen
Wohnsitzes in der Schweiz konnte der Beschwerdegegner damals von der
Invalidenversicherung aber keine Leistungen beanspruchen.

    c) Es fragt sich indessen, ob der Übertritt in die Sonderschule im
August 1975 einen neuen Versicherungsfall auslöste. Im Hinblick darauf,
dass Art. 4 Abs. 2 IVG von der "jeweiligen Leistung" spricht, ist es
grundsätzlich möglich, dass ein und derselbe Gesundheitsschaden mehrere
sukzessive Versicherungsfälle bewirkt; ein solcher Schaden kann nämlich
unter Umständen - zur gleichen Zeit oder zeitlich gestaffelt - die
Voraussetzungen für sehr verschiedene Leistungsarten (eine oder mehrere
Eingliederungsmassnahmen, Rentenleistungen, Hilflosenentschädigungen)
erfüllen. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber nicht um
unterschiedliche Leistungskategorien. Es geht vielmehr lediglich um
Sonderschulbeiträge sowie um Transportkostenvergütung und damit um die
gleichen Leistungen, die schon 1972 zur Diskussion standen. Die Vorinstanz
hält in ihrem Entscheid dafür, dass die für die Vorschule und für die
Sonderschule vorgesehenen Massnahmen derart verschieden seien, dass
der Eintritt in die Sonderschule als neuer Versicherungsfall anzusehen
sei. Sie begründet ihre Auffassung aber nicht näher, sondern verweist
lediglich darauf, dass die fraglichen Massnahmen in verschiedenen
Verordnungsbestimmungen geregelt sind (Massnahmen im Vorschulalter:
Art. 12 IVV; Sonderschulung: Art. 8 IVV). Indessen sehen diese beiden
Vorschriften für die Vorschulstufe und auch für die Sonderschulung
die gleichen Massnahmen vor, nämlich Sonderschulunterricht als solchen
(Art. 8 Abs. 1 lit. a, Art. 12 Abs. 1 lit. b IVV), die dadurch bedingte
auswärtige Unterbringung und Verpflegung (Art. 8 Abs. 1 lit. b,
Art. 12 Abs. 1 lit. c IVV), pädagogisch-therapeutische Massnahmen
zusätzlich zum Sonderschulunterricht (Art. 8 Abs. 1 lit. c, Art. 12
Abs. 1 lit. d IVV) sowie die notwendigen Transporte (Art. 8 Abs. 1
lit. d, Art. 12 Abs. 1 lit. e IVV). Im weitern sehen beide Bestimmungen
auch pädagogisch-therapeutische Massnahmen unabhängig vom Besuch des
Sonderkindergartens bzw. der Sonderschule vor (Art. 8 Abs. 1 lit. c,
Art. 12 Abs. 1 lit. a IVV). Alle diese Sonderschulmassnahmen stellen
ohne Rücksicht auf die Altersstufe zusammen ein einheitliches, sich
ergänzendes Massnahmenbündel mit im wesentlichen gleicher Zielsetzung
dar. Tritt die Invalidität in bezug auf die Sonderschulung deshalb -
wie beim Beschwerdegegner - bereits im Vorschulalter ein, so löst der
Übertritt in die Sonderschule bei Erreichen des entsprechenden Alters
keinen neuen Versicherungsfall aus. Der Beschwerdegegner führt in seiner
Vernehmlassung aus, dass während des Besuches des Sonderkindergartens die
Notwendigkeit der Sonderschulung im Sinne des Art. 8 IVV noch gar nicht
festzustehen brauche, weshalb beim Abschluss der Vorschulstufe eine neue
Abklärung zu erfolgen habe und neu zu entscheiden sei. Dies bedeutet aber -
entgegen seiner Auffassung - nicht zugleich auch einen Entscheid über den
Eintritt eines neuen Versicherungsfalles. Andernfalls müsste jedesmal,
wenn etwa nach Abschluss einer bestimmten Schulstufe die Notwendigkeit
weiterer Sonderschulmassnahmen auf der nächsthöheren Schulstufe geprüft
und bejaht wird, ein neuer Versicherungsfall angenommen werden. Dies
widerspräche jedoch der Rechtsprechung, wonach die Invalidität dann
als eingetreten gilt, wenn das Leiden die betreffende Massnahme objektiv
erstmals notwendig macht. Hinzu kommt, dass neue Abklärungen und Beschlüsse
Faktoren darstellen, deren zeitliche Fixierung recht zufällig sein kann und
die bei der Bestimmung des Zeitpunkts des Invaliditätseintritts unerheblich
sind. Schliesslich würde die erwähnte Betrachtungsweise im Rahmen einer
sich über das Vorschulalter, das ordentliche Schulalter und allenfalls auch
noch darüber hinaus (vgl. Art. 8 Abs. 3 IVV) erstreckenden Sonderschulung
zu einer Vielzahl von sukzessiven Versicherungsfällen führen. Dadurch
verlöre aber die Einschränkung des Art. 18 Abs. 2 des Abkommens weitgehend
ihre Bedeutung als Schutz der Invalidenversicherung vor Kostenübernahmen
für Gesundheitsschäden, die vor der Übersiedlung in die Schweiz auftraten.

Erwägung 3

    3.- Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass der Wechsel des
Beschwerdegegners von der Vorschule in die Sonderschule der JUFA keinen
neuen Versicherungsfall auslöste. Dieser trat im vorliegenden Fall
vielmehr ein, als der Beschwerdegegner auf Grund seines Leidens erstmals
Sonderschulung benötigte, mithin also im Juni 1972. In diesem Zeitpunkt
waren indessen die versicherungsmässigen Voraussetzungen in bezug auf den
Wohnsitz in der Schweiz nicht erfüllt, weshalb der Beschwerdegegner von
der Invalidenversicherung keine Sonderschulmassnahmen beanspruchen kann.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
der Rekurskommission für die Ausgleichskassen des Kantons Basel-Stadt
vom 20. April 1978 aufgehoben.