Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 V 151



105 V 151

37. Urteil vom 5. Juni 1979 i.S. D. gegen Ausgleichskasse des
Schweizerischen Obstverbandes und Versicherungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 28 Abs. 2 IVG. Ermittlung des Invaliditätsgrades bei einem
Erwerbstätigen nach dem ausserordentlichen Bemessungsverfahren.

Sachverhalt

    A.- Der 1922 geborene Walter D. ist Inhaber einer
Landesproduktefirma. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre traten
seine drei Söhne (geb. 1946, 1948 und 1951) ins Geschäft ein; der älteste
betreut die Sauerkrautfabrikation, der zweite hilft im Transportwesen
mit und der dritte besorgt als gelernter Kaufmann das Büro. Ausserdem
arbeiten stundenweise auch die beiden Schwiegertöchter sowie - während
der Zeit der Sauerkrautfabrikation - zwei Aushilfspackerinnen mit.

    Seit Mitte Juli 1976 befindet sich Walter D. wegen eines Glaukoms
(grüner Star) an beiden Augen bei Dr. K. in ärztlicher Behandlung. Wegen
der ungenügenden Sehkraft verbot ihm der Arzt das Autofahren, worauf
ihm das Strassenverkehrsamt am 16. August 1976 den Führerausweis für die
(damaligen) Kategorien "a" (leichte Motorwagen) und "d" (schwere Motorwagen
zum Gütertransport) entzog, auf Beschwerde hin und nach Einholen einer
Oberexpertise bei der Augenpoliklinik des Berner Inselspitals den Ausweis
der Kategorie "a" aber beliess.

    Im Dezember 1976 meldete sich der Versicherte bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. In seinem Arztbericht
vom 4. Juni 1977 stellte Dr. K. links einen Visus von weniger als
0,1 fest (ohne Besserungsmöglichkeit); rechts betrage der Visus 0,6,
doch könne er - allerdings bei einer Einschränkung des Gesichtsfeldes -
durch Behandlung bis auf 1,0 verbessert werden. Der Versicherte bedürfe
dauernder ärztlicher Behandlung und sei als Lastwagenchauffeur seit Mitte
Juli 1976 vollständig arbeitsunfähig. Am 15. August 1977 berichtete
die Regionalstelle in Bern, der Versicherte sei bisher zu 90% als
Chauffeur und zu 10% als Kaufmann tätig gewesen. Nunmehr sei er zu 90%
arbeitsunfähig. Die Verwertung der restlichen Arbeitsfähigkeit gestalte
sich nicht einfach, da er keine kaufmännische Ausbildung absolviert habe
und wegen seines Leidens Schreibarbeiten nur mit Mühe oder überhaupt
nicht verrichten könne. Nachts und bei ungünstiger Witterung wage er es
nicht, mit dem Auto zu fahren. Im eigenen Betrieb sei er bestmöglich
eingegliedert. Auch wenn seine produktive Leistung weniger als 10%
betrage, sei seine Anwesenheit im Betrieb angesichts der noch zu kleinen
Betriebserfahrung seiner Söhne notwendig. Bezüglich der finanziellen
Verhältnisse bemerkte die Regionalstelle, dass die 1973 erstellte
Lagerhalle den Betrieb stark belaste und den Gewinn schmälere. Wohl
sei der Bruttogewinn 1976 höher ausgefallen als in den Vorjahren, doch
hätte er sich durch eine weitere aktive Mitarbeit des Versicherten
im zweiten Halbjahr noch mehr steigern lassen. An ihrer Beurteilung
der Verhältnisse hielt die Regionalstelle auch fest (Zusatzbericht vom
31. Oktober 1977), nachdem sie von der Invalidenversicherungs-Kommission
angefragt worden war, ob die Leistungseinbusse unter Berücksichtigung
der Betriebsleitungsfunktion im vorliegenden Fall nicht auf bloss 60%
zu veranschlagen sei. In seinem Bericht vom 27. Oktober 1977 wies der
Buchhalter des Versicherten darauf hin, dass die Leistungsverminderung
nicht auf Grund der Jahres-Nettoergebnisse 1973/1976, die 1974 und 1975
Verluste ausgewiesen hätten, beurteilt werden könne. Es müsste vielmehr auf
den "Cash-Flow" abgestellt werden, der von 1973 bis 1976 eine Steigerung
um rund 37% erfahren habe. Der Buchhalter gelangte aber dennoch zum
Ergebnis, dass eine nur 60%ige Verminderung der Leistungsfähigkeit des
Versicherten kaum gerechtfertigt sei, und erachtete die Beurteilung
durch die Regionalstelle für zutreffender. Daraufhin beschloss die
Invalidenversicherungs-Kommission am 9. Dezember 1977, das Rentenbegehren
abzuweisen. Sie führte aus, der Ausfall des Versicherten als Chauffeur
habe betriebsintern aufgefangen werden können. Personal habe deswegen nicht
eingestellt werden müssen; jedenfalls sei bei den Löhnen kein Mehraufwand
ausgewiesen. Die Funktion eines unentbehrlichen Betriebsleiters laste
den Versicherten zu mehr als 50% aus. Deshalb sei er nicht in einem den
Anspruch auf eine Rente begründenden Ausmass invalid. Im übrigen lehnte
die Invalidenversicherungs-Kommission auch das Begehren um medizinische
Massnahmen ab. Diesen Beschluss eröffnete die Ausgleichskasse dem
Versicherten mit Verfügung vom 14. Dezember 1977.

    B.- Die gegen die Rentenverweigerung eingereichte Beschwerde wies
das Versicherungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 15. März 1978
ab. Es sprach den Bilanzen und den Gewinn- und Verlustrechnungen jeglichen
Beweiswert im Hinblick auf die Ermittlung des Invaliditätsgrades ab,
weil daraus die tatsächlichen Erträge aus dem Landesproduktehandel kaum
ersichtlich seien. So würden beträchtliche Privatbezüge in bar oder in
natura getätigt, die mindestens zum Teil als erwirtschaftet angesehen
werden müssten. Die Naturalbezüge seien in den Büchern aber unrealistisch
niedrig eingesetzt. Der Einwand, dass der Versicherte angesichts des
schlechten Geschäftsganges seinen Söhnen nur minimale Löhne ausbezahlen
könne, sei nicht stichhaltig, da die Darlehen der Söhne an den Betrieb
von Jahr zu Jahr grösser geworden seien; im übrigen seien die Löhne auch
schon vor der Behinderung des Versicherten bescheiden gewesen. All dies
zeige, dass die Bücher wenig Klarheit über die ökonomischen Auswirkungen
des Augenleidens gäben und dass demnach das Invalideneinkommen nicht
zuverlässig ermittelt werden könne. Es müsse daher auf die tatsächliche
Behinderung im Betrieb abgestellt werden. Dabei erweise es sich
zunächst als wenig glaubhaft, dass der Anteil der Chauffeurtätigkeit 90%
betragen habe. In den letzten Jahren hätten nämlich die administrativen
und leitenden Aufgaben erheblich zugenommen; insbesondere bedinge die
Mitarbeit der drei Söhne eine entsprechende Koordination. Im übrigen habe
der Wagenpark nicht verkleinert werden müssen, obwohl der Versicherte
nicht mehr Lastwagen fahren dürfe und auch kein Chauffeur angestellt
worden sei. Der Verlust der Führerausweiskategorie "d" habe zwar eine
gewisse Beeinträchtigung mit sich gebracht, doch würden die ökonomischen
Auswirkungen kaum ins Gewicht fallen, da die erforderliche Umstrukturierung
im Betrieb im Zeichen des Generationenwechsels ohnehin über kurz oder lang
hätte erfolgen müssen. Der Einwand, bei der Erledigung administrativer
Arbeiten stark behindert zu sein, klinge im übrigen so lange nicht
glaubhaft, als der Versicherte noch mit dem Auto fahren könne. Schliesslich
stellte das Gericht fest, dass der Verlust der Sehkraft eines Auges selbst
bei höchsten optischen Ansprüchen einer Arbeit in der Regel nur mit einer
Invalidität von einem Drittel bewertet werde. Im vorliegenden Fall bestehe
kein Anlass, über diesen Ansatz hinauszugehen. Ein Rentenanspruch sei
demzufolge nicht gegeben.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt Walter
D. die Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. Juli 1976. Auf die
Begründung wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

    Die Ausgleichskasse verzichtet auf eine Stellungnahme zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
deren Abweisung beantragt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz legt in ihrem Entscheid die Bestimmungen über die
Entstehung und den Umfang des Rentenanspruchs sowie über die Ermittlung
des Invaliditätsgrades auf Grund des ordentlichen Einkommensvergleichs
zutreffend dar und weist überdies mit Recht darauf hin, dass die
Invalidität in bestimmten Fällen anhand eines erwerblich gewichteten
Betätigungsvergleichs im Hinblick auf die konkrete betriebliche Situation
zu ermitteln ist (sogenanntes ausserordentliches Bemessungsverfahren, BGE
104 V 137 Erw. 2c). Das Eidg. Versicherungsgericht hat diesen Ausführungen,
auf welche verwiesen werden kann, nichts beizufügen.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Verfahren ist nur noch die Rentenfrage
streitig. Es ist daher zu prüfen, ob beim Beschwerdeführer bis zum
Zeitpunkt des Erlasses der Kassenverfügung (14. Dezember 1977), auf den
es praxisgemäss in tatbeständlicher Hinsicht ankommt (BGE 99 V 102),
eine anspruchsbegründende Invalidität bestand.

    a) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im wesentlichen gerügt,
dass bei der Ermittlung des Invaliditätsgrades die Geschäftsbücher
unberücksichtigt gelassen worden seien. Zwar trifft es zu, dass in
diesen zahlreiche Angaben über die geschäftliche Entwicklung und die
finanziellen Verhältnisse der Firma des Beschwerdeführers in den Jahren
nach 1972 enthalten sind. Indessen lässt sich aus Gründen, welche die
Vorinstanz in ihrem Entscheid ausführlich und zutreffend darlegt, nicht
feststellen, in welchem Ausmass sich die - im übrigen erst ab Mitte Juli
1976 massgebliche - leidensbedingte Verminderung der Leistungsfähigkeit
des Beschwerdeführers tatsächlich auf das Geschäftsergebnis auswirkte. Auch
zusätzliche Abklärungen dürften kaum annähernd genaue Aufschlüsse hierüber
geben können; dem Begehren des Beschwerdeführers nach Anordnung einer
Buchhaltungsexpertise ist daher nicht zu entsprechen. Hinzu kommt,
dass die Akten auch keine Angaben enthalten, die eine ausreichend
zuverlässige Ermittlung oder Schätzung des ohne Invalidität erzielbaren
Erwerbseinkommens gestatten würden. Daher ist im vorliegenden Fall an
Stelle der ordentlichen Einkommensvergleichsmethode ausnahmsweise das
ausserordentliche Bemessungsverfahren anzuwenden.

    b) Obwohl das Augenleiden gemäss eigenen Angaben schon von Geburt
an bestand und sich durch einen 1960 erlittenen Unfall verschlimmerte,
machte es sich in beruflicher Hinsicht für den Beschwerdeführer erst
mit dem Entzug des Führerausweises für Lastwagen bemerkbar. An sich ist
eine derartige behördliche Anordnung geeignet, eine Erwerbseinbusse zu
bewirken. Im vorliegenden Fall ist aber zu berücksichtigen, dass der
Beschwerdeführer seine drei Söhne nicht erst 1976 - und auch nicht
im Hinblick auf seine gesundheitliche Entwicklung - ins Geschäft
einführte und ihnen bestimmte Tätigkeitsbereiche zuwies. Der Beizug
und die Aufgabenteilung erfolgten vielmehr bereits in den Jahren 1966
bis 1969, wobei hervorzuheben ist, dass der zweitälteste Sohn von der
Volljährigkeit an im Transportwesen mithalf. Daher ist die Annahme, dass
der Anteil der Chauffeurtätigkeit des Beschwerdeführers auch 1976 noch
90% betragen habe, weshalb aus dem Verlust des Lastwagenausweises nun
auch eine Erwerbseinbusse in gleichem Umfang resultiere, offensichtlich
nicht haltbar. Der Beschwerdeführer ist trotz seines Augenleidens in der
Lage, nicht nur einen Personenwagen und - wie die Vorinstanz zutreffend
festhält - den in die gleiche Fahrzeugkategorie fallenden VW-Pic-up
zu fahren, sondern auch wesentliche betriebsleitende Funktionen im
Geschäft wahrzunehmen. Diese Tätigkeit ist keineswegs nur "dekorativer"
Art; sie ist vielmehr im Hinblick auf die Grösse des Betriebes und die
noch zu geringe Betriebserfahrung der Söhne eine Notwendigkeit. Der
Anteil der Arbeiten, die zumutbarerweise noch verrichtet werden können,
beträgt - verglichen mit der Leistungsfähigkeit ohne leidensbedingte
Behinderung und gewichtet im Hinblick auf seine erwerbliche Auswirkung
auf das Geschäftsergebnis - sicher mehr als die Hälfte dessen, was der
Beschwerdeführer ohne Gesundheitsschaden zu bewältigen vermöchte. Daraus
folgt, dass der Invaliditätsgrad im hier massgeblichen Zeitpunkt weniger
als 50% betrug. Da ein Härtefall offensichtlich nicht vorliegt und im
übrigen auch nicht behauptet wird, steht dem Beschwerdeführer somit keine
Invalidenrente zu, weshalb sich die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als
unbegründet erweist.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.