Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IV 297



105 IV 297

76. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 30. November 1979 i.S.
Staatsanwaltschaft Graubünden gegen W. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 44 Ziff. 5 StGB.

    Unter welchen Voraussetzungen darf ein während des Strafverfahrens
"freiwillig" absolvierter Aufenthalt in einer Heilanstalt auf die Strafe
angerechnet werden?

Sachverhalt

    A.- W. wurde vom Kreisgerichtsausschuss Thusis durch Urteil vom
17. November 1978 wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand, Verletzung
von Verkehrsregeln sowie Verübung einer Tat in selbstverschuldeter
Unzurechnungsfähigkeit mit vier Monaten Gefängnis und einer Busse von
Fr. 300.- bestraft. In Ziff. 3 des Urteilsdispositivs verfügte der
Kreisgerichtsausschuss:

    "Der Vollzug der Strafe wird aufgeschoben und W. wird in eine

    Trinkerheilanstalt eingewiesen, wobei sein Aufenthalt in der

    Trinkerheilstätte Kirchlindach vom 15.4.1978 bis 4.10.1978 anzurechnen
   ist."

    B.- Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hat der
Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden nach Einholung eines
Ergänzungsgutachtens bei der psychiatrischen Klinik Beverin und eines
schriftlichen Berichtes beim Fürsorgeamt des Kantons Graubünden die
Einweisung in eine Trinkerheilanstalt aufgehoben und Dispositiv Ziff. 3
des erstinstanzlichen Entscheides durch folgende Anordnung ersetzt:

    "3. Die Freiheitsstrafe von vier Monaten Gefängnis ist im Sinne
   von Art. 44 Ziff. 5 StGB durch den Aufenthalt in der Trinkerheilanstalt

    Nüchtern in Kirchlindach getilgt."

    C.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden führt gegen diesen Entscheid
Nichtigkeitsbeschwerde. Sie macht geltend, ein freiwilliger Aufenthalt in
einer Trinkerheilstätte könne nicht auf die ausgefällte Freiheitsstrafe
angerechnet werden, Art. 44 Ziff. 5 StGB könne nur nach dem Vollzug einer
vom Richter angeordneten Massnahme und nach vorgängigem Aufschub der Strafe
zur Anwendung gelangen. Ein freiwilliger Anstaltsaufenthalt könne nur im
Rahmen von Art. 41 Ziff. 1 StGB berücksichtigt werden. Der Entscheid der
Vorinstanz sei daher aufzuheben und die Sache sei zu neuer Beurteilung
im Sinne der Beschwerdebegründung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Der Kantonsgerichtsausschuss beantragt die Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Anfechtung des Urteils der Vorinstanz beschränkt sich auf die
Frage, ob ein während des Strafverfahrens ohne richterliche Anordnung
absolvierter Aufenthalt in einer Heilanstalt in Anwendung von Art. 44
Ziff. 5 StGB auf die Strafe angerechnet werden darf.

    a) Der Wortlaut dieser Bestimmung ist auf den Fall der vom Richter
unter Aufschub der Strafe angeordneten Massnahme zugeschnitten. Der letzte
Satz von Art. 44 Ziff. 5 StGB bringt eindeutig zum Ausdruck, dass der
Aufenthalt in der Trinkerheilanstalt dem Vollzug einer Freiheitsstrafe
insofern gleichzustellen ist, als der Anstaltsaufenthalt bei nachträglichem
Strafvollzug auf die Strafdauer anzurechnen ist.

    b) Der Beschwerdegegner ist vor der gerichtlichen Beurteilung
seiner Verfehlungen im Anschluss an die psychiatrische Untersuchung
in der Klinik Beverin unter Mitwirkung der Alkoholfürsorge in die
Trinkerheilstätte Nüchtern eingetreten. Erst nach der erfolgreich
abgeschlossenen Entziehungskur fand dann die Hauptverhandlung vor
dem Kreisgerichtsausschuss statt. Wäre der Beschwerdegegner mit
dem freiwilligen Eintritt nicht einverstanden gewesen, so hätte der
Strafrichter nach dem Sinn seiner Erwägungen im angefochtenen Urteil die
Einweisung angeordnet und die Dauer des Aufenthaltes wäre dann gemäss Art.
44 Ziff. 5 StGB obligatorisch auf die Strafzeit anzurechnen, selbst bei
Erfolglosigkeit der Massnahme. Würde - gemäss dem Beschwerdebegehren -
die Anrechnung des durch das Strafverfahren veranlassten, aber nicht vom
Richter formell verfügten Anstaltsaufenthaltes auf die Strafe verweigert,
so hätte dies eine sachlich nicht gerechtfertigte Schlechterstellung
des kooperativen Angeklagten zur Folge; die in guten Treuen freiwillig
absolvierte Massnahme bliebe unberücksichtigt, d.h. sie dürfte auf die
Strafzeit nicht angerechnet werden, während die genau gleiche Internierung,
sofern sie unter richterlichem Zwang erfolgte, auf die Strafe angerechnet
werden muss.

    Diese Konsequenzen zeigen, dass der angefochtene Entscheid sich zwar
nicht unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 44 Ziff. 5 StGB ergibt, aber
der radio legis dieser Bestimmung entspricht. Es wäre in hohem Masse
unbefriedigend, wenn die Verschiebung der gerichtlichen Beurteilung
und die vorangehende Durchführung einer formell freiwilligen Massnahme
im Ergebnis eine klare Benachteiligung des Betroffenen zur Folge
hätte. Dass zur Vermeidung solcher dem Sinn und Zweck von Art. 44 StGB
eindeutig zuwiderlaufenden Folgen der letzte Satz von Art. 44 Ziff. 5
auch bei einer Massnahme zur Anwendung kommt, welche nur deswegen nicht
vom Gericht formell angeordnet wurde, weil sie bereits auf freiwilliger
Basis durchgeführt war, verstösst nicht gegen Bundesrecht.

Erwägung 2

    2.- In der Begründung der Nichtigkeitsbeschwerde wird die Befürchtung
geäussert, wenn freiwillige Anstaltsaufenthalte richterlichen Massnahmen
im Sinne von Art. 43 und 44 StGB gleichgesetzt würden, dann hätte es
mancher Angeklagte in der Hand, der drohenden Strafverbüssung durch den
freiwilligen Aufenthalt in der Anstalt seiner Wahl zuvorzukommen. Von einer
solchen generellen Anerkennung jedes privat gewählten Anstaltsaufenthaltes
als "Strafvollzug" kann natürlich keine Rede sein. Die Anwendung der
Anrechnungsklausel von Art. 44 Ziff. 5 StGB setzt voraus, dass die
freiwillig durchgeführte Massnahme eine sonst vom Richter anzuordnende
Sanktion antizipiert hat (mit ausdrücklicher oder stillschweigender
Zustimmung der Strafverfolgungsbehörden). Einen Anstaltsaufenthalt, den
das Gericht nicht angeordnet hätte (gemäss Art. 43 oder 44 StGB), braucht
es auch bei der nachträglichen Beurteilung nicht zu berücksichtigen. Im
übrigen dürfte sich bei speditiver Erledigung der Strafsachen das Problem
der Anrechnung einer bereits durchgeführten freiheitsentziehenden Massnahme
selten stellen. Wenn aber ohne Verschulden des Betroffenen eine Situation
eintritt wie im vorliegenden Fall, dann besteht kein Grund, die analoge
Anrechnung der Internierung zu verweigern.