Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 II 280



105 II 280

46. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 11. Dezember 1979 i.S.
Widmer gegen Häfliger AG (Berufung) Regeste

    1. Art. 339b und 339c OR.

    Der Arbeitgeber darf mit dem Arbeitnehmer eine Vorauszahlung
der Abgangsentschädigung vereinbaren, wenn er dafür sorgt, dass die
Entschädigung bei Ende des Arbeitsverhältnisses für den Arbeitnehmer
verfügbar ist.

    2. Art. 2 Abs. 2 ZGB.

    Rechtsmissbräuchliches Verhalten eines Arbeitnehmers, der eine
vorausbezahlte Abgangsentschädigung nach Ablauf des Arbeitsverhältnisses
nochmals fordert.

Sachverhalt

    A.- Seit Ende April 1947 stand Rosa Widmer-Buchs in den Diensten der
Häfliger AG oder deren Rechtsvorgängerinnen. Das Arbeitsverhältnis wurde
von den Parteien auf den 30. November 1977 gelöst. Zu dieser Zeit war
Rosa Widmer rund 62 Jahre alt.

    Da sie keiner Fürsorgeeinrichtung angehört, klagte sie im Januar
1979 gegen die Häfliger AG auf Zahlung einer Abgangsentschädigung von
Fr. 18'120.-. Sie setzte ihren seit 1974 durchschnittlich erzielten
Monatslohn auf Fr. 2'265.- an, und erhob damit Anspruch auf eine
Abgangsentschädigung in der Höhe von acht Monatslöhnen. Die Beklagte
widersetzte sich diesem Anspruch nicht grundsätzlich. Sie bezifferte
aber den massgebenden Monatslohn mit Fr. 2'015.- und machte geltend,
die von ihr in den letzten Jahren zusätzlich erbrachten Leistungen von
durchschnittlich Fr. 250.- im Monat gehörten zur Altersvorsorge, seien
auf die geschuldete Abgangsentschädigung anzurechnen und überstiegen diese.

    Durch Urteil vom 22. Mai 1979 schützte der Appellationshof des Kantons
Bern die Klage in der Höhe von Fr. 2'000.-.

    Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt mit den
Anträgen, es aufzuheben und ihre Klage vollumfänglich gutzuheissen.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Unbestritten ist, dass für die Klägerin die Voraussetzungen des
Anspruchs auf eine Abgangsentschädigung nach Art. 339b Abs. 1 OR gegeben
sind. Die Höhe der Entschädigung ist weder durch schriftliche Parteiabrede
noch durch Normal- oder Gesamtarbeitsvertrag nach Art. 339c Abs. 1 OR
bestimmt, daher gemäss Art. 339c Abs. 2 OR vom Richter festzulegen, ohne
dass Herabsetzungs- oder Ausschlussgründe im Sinne von Art. 339c Abs. 3
OR zu berücksichtigen wären.

Erwägung 2

    2.- Der Appellationshof ist bei der Bemessung der Abgangsentschädigung
davon ausgegangen, dass die Klägerin in der Zeit vor Auflösung des
Arbeitsverhältnisses einen Monatslohn von Fr. 2'015.- erhielt. Die
Klägerin bezeichnet diese Summe als "Grundlohn" und will nach wie vor die
in verschiedenen Formen ausgerichteten Zusatzleistungen einbeziehen. Darum
hält sie an einem Monatslohn von Fr. 2'265.- als Basis für die Ermittlung
der Abgangsentschädigung fest.

    Zusätzlich, über die sogenannten "Quittungsbeträge" hinaus,
hat die Klägerin nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz
in den Jahren 1974 bis 1977 in bar Fr. 4'000.- und in Obligationen
Fr. 7'000.- erhalten. Dabei habe es sich um anrechenbare "Vorempfänge"
gehandelt. Der Appellationshof legt auf Grund des Schreibens vom 29. Juni
1973 des damaligen Firmainhabers Oskar Häfliger an die Klägerin und
deren eigenen Aussagen im Parteiverhör dar, beide Parteien hätten jene
"Vorempfänge" nicht einfach als Lohnbestandteile, sondern als Beiträge an
die Altersvorsorge verstanden; es sei ihnen, selbst wenn der Begriff der
Abgangsentschädigung nicht verwendet worden sei, klar gewesen, dass diese
Leistungen der Beklagten ab 1974 "jenem Zwecke dienen sollten, den der
Gesetzgeber für die Abgangsentschädigung im Auge hatte, nämlich fehlende
Leistungen einer Personalfürsorgeeinrichtung zu ersetzen". Auch diese
Angaben sind, da auf Beweiswürdigung fussend und einen besonderen inneren
Parteiwillen betreffend (BGE 105 II 18, 100 II 27), tatsächlicher Natur und
für das Bundesgericht verbindlich. Die Berufung wendet weder Verletzung
bundesrechtlicher Beweisvorschriften noch offensichtliches Versehen
ein, andere Kritik ist nicht zu hören (Art. 55 Abs. 1 lit. c und d,
63 Abs. 2 OG).

Erwägung 3

    3.- Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Vereinbarung der Parteien,
nach welcher der Beklagte auf eine künftige Abgangsentschädigung
anrechenbare Vorleistungen erbrachte, rechtlich zulässig war.

    Der Appellationshof führt dazu aus, es sei nicht einzusehen, warum
einem Arbeitgeber verwehrt sein sollte, einem die Voraussetzungen
von Art. 339b Abs. 1 OR bereits erfüllenden, wenige Jahre vor der
Pensionierung stehenden Arbeitnehmer auf eine dereinst geschuldete
Abgangsentschädigung anzurechnende Leistungen zu erbringen, damit
dieser beispielsweise zu seiner Altersvorsorge ein Sparkapital bilden
könne. Während der Arbeitgeber nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses
die Entschädigung bedingungslos auszahlen müsse und der Arbeitnehmer
in deren Verwendung gänzlich frei sei, habe der Arbeitgeber es in der
Hand, eine vorzeitige Auszahlung an die Bedingung zu knüpfen, dass die
Entschädigung ihrer eigentlichen Zweckbestimmung entsprechend in den Dienst
der Altersvorsorge gestellt werde. Verzichte der Arbeitgeber zudem darauf,
sich einen Diskontoabzug vorzubehalten, stehe einer vorzeitigen Auszahlung
der Entschädigung - jedenfalls in Zeiten mässiger Geldentwertung -
umso weniger entgegen, als der Arbeitnehmer noch einen Zinsertrag
erwirtschaften könne.

    Die Unabdingbarkeit der Vorschrift von Art. 339b OR spricht nicht
gegen diese Betrachtungsweise. Sie ist ohnehin gemäss Art. 362 OR
nur relativ gegeben, das heisst nur in Hinsicht auf Abweichungen zu
Ungunsten des Arbeitnehmers. Darum geht es bei der von der Vorinstanz
befürworteten Lösung nicht. Der Anspruch des Arbeitnehmers auf eine
Abgangsentschädigung als solcher steht nicht in Frage. Die vorzeitige
Auszahlung einer Geldsumme oder gar die Übereignung von Wertschriften zur
Abgeltung ist auch nicht mit dem Begriff, sondern allenfalls mit dem Zweck
der Abgangsentschädigung unvereinbar. Dies bleibt im näheren zu prüfen.
Vorauszahlungen an sich aber können nicht unzulässig sein. Denn auch
die Beiträge des Arbeitgebers an Fürsorge- oder Spareinrichtungen, deren
Leistungen nach Massgabe von Art. 339d Abs. 1 OR die Abgangsentschädigung
ganz oder teilweise ersetzen, sind Vorauszahlungen. Endlich ist daraus,
dass laut Art. 339c Abs. 4 OR die Abgangsentschädigung mit der Beendigung
des Arbeitsverhältnisses fällig wird, nichts gegen Vorauszahlung
als solche zu folgern. Vorzeitige Erfüllung ist dem Schuldner nicht
untersagt, sondern nach Art. 81 OR ausdrücklich erlaubt, wo sich nicht
aus dem Inhalt oder der Natur des Vertrages oder aus den Umständen eine
andere Willensmeinung der Parteien ergibt. Trotz des vom Appellationshof
festgestellten tatsächlichen Parteiwillens heisst dies freilich nicht,
dass Vorauszahlung so, wie hier praktiziert, sich mit der Eigenart der
arbeitsrechtlichen Institution der Abgangsentschädigung verträgt.

    Die Abgangsentschädigung dient nach Art. 339b und c OR einem,
wenn auch subsidiären, Vorsorgezweck. Sie soll helfen eine Lücke
zu schliessen, die entsteht, wo Leistungen einer Fürsorgeeinrichtung
fehlen oder unzulänglich sind (BGE 101 II 274; Botschaft des Bundesrates
vom 25. August 1967, BBl 1967 II, S. 282 und 394/5; SCHWEINGRUBER,
Kommentar zum Arbeitsvertrag, 2. Auflage 1976, S. 294 zu Art. 339d OR;
STREIFF, Leitfaden zum neuen Arbeitsvertrags-Recht, 2. Auflage, N. 2
zu Art. 339d OR). Daraus folgt - und die in Art. 339d OR vorbehaltenen
Möglichkeiten der Ersetzung durch künftige Vorsorgeleistungen, welche
von einer Personalfürsorgeeinrichtung erbracht werden oder verbindlich
zugesichert sind, bestätigen es -, dass die Abgangsentschädigung
im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses für den
Arbeitnehmer greif- und verfügbar sein muss. Hiefür aber hat, auch
ohne dass ihm die Sicherstellung eigens gesetzlich auferlegt ist, der
zur Ausrichtung verpflichtete Arbeitgeber einzustehen. Das schliesst
auf die Abgangsentschädigung anrechenbare Vorauszahlungen neben oder
anstelle der Alimentierung von Personalfürsorgeeinrichtungen entgegen der
Auffassung, die Prof. Schweingruber in einem von der Klägerin beigebrachten
Gutachten vertritt, nicht schlechthin aus (vgl. BGE 101 II 274), wohl
aber solche direkt in die Hand des Arbeitnehmers unter Verzicht auf jede
Verwendungsgewähr. Gewiss mag anerkennenswert sein, wenn der Arbeitgeber
durch die Vorauszahlung dem Arbeitnehmer zur Bildung von Sparkapital für
die Altersvorsorge verhelfen will. Aber es genügt nicht, damit lediglich
eine entsprechende Bedingung zu verknüpfen, ohne zugleich deren Einhaltung
zu sichern.

    Indessen hat die Klägerin im Parteiverhör gemäss Protokoll ausgesagt,
sie habe die unter dem Titel Vorempfänge bezogenen Leistungen als Lohn
entgegengenommen und auf die Seite gelegt, wozu sie diese auch erhalten
habe. Hieraus ergibt sich, dass die Beträge in bar oder in Form von
Obligationen am Tag der Hauptverhandlung tatsächlich noch vorhanden
waren. Damit sind sie aber auch am Ende des Arbeitsverhältnisses für
die Klägerin greif- und verfügbar gewesen. Insoweit ihr Anspruch auf
Abgangsentschädigung die von der Beklagten ausbezahlte Summe nicht
übersteigt, fordert sie Geld, das sie schon erhalten hat. Solches
Vorgehen stellt einen offenbaren Rechtsmissbrauch dar und verdient keinen
Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2 ZGB).