Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 2



105 Ia 2

2. Urteil der staatsrechtlichen Kammer vom 17. Januar 1979 i.S. E. gegen
Finanzdepartement und Kantonale Rekurskommission des Kantons Solothurn
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Grundsatz der Gewaltentrennung. Gesetzliche Grundlage zur
Erhebung einer Gemengsteuer.

    1. § 371 des solothurnischen EGzZGB stellt keine genügende Grundlage
zur Erhebung der Promillegebühr dar (E. 1).

    2. Gewohnheitsrechtliche Grundlage der solothurnischen Promillegebühr?

    Gewohnheitsrecht vermag eine formell-gesetzliche Grundlage im Prinzip
auch dann nicht zu ersetzen, wenn die zu erhebende Steuer einst eine den
heutigen Anforderungen entsprechende gesetzliche Grundlage besass und
ihr nachträglich verlustig ging (E. 2a).

    Im konkreten Fall fehlen zudem die Voraussetzungen für die Bildung
von Gewohnheitsrecht (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Nach dem Tode des Ehegatten von E. erstellte die zuständige
Amtschreiberei das Erbschaftsinventar und nahm die Teilung vor. Am 17. März
1975 stellte sie E. dafür Rechnung. Es wurden ihr verschiedene Auslagen
und Gebühren belastet, daneben auch eine gestützt auf § 117 Ziff. III
4 des solothurnischen Gebührentarifs errechnete Promillegebühr von 8 %o
auf dem reinen Nachlass. E. legte gegen diese Gebührenrechnung erfolglos
Einsprache beim kantonalen Finanzdepartement ein und hierauf Rekurs bei
der Kantonalen Rekurskommission. Gegen den abweisenden Beschluss der
Kantonalen Rekurskommission führt E. staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung des Grundsatzes der Gewaltentrennung und von Art. 4 BV.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut aufgrund folgender

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Die strittige Promillegebühr ist in § 117 Ziff. III 4 des
Gebührentarifs geregelt, der bestimmt:

    "Für Entgegennahme, Kontrollierung, Studium, Redaktion und

    Registratur eines der nachgenannten Rechtsgeschäfte ist nebst

    Schreibgebühren eine solche für die Errichtung wie folgt zu erheben:

    ...

    III Erbrecht

    ...

    4. Gewöhnliche oder öffentliche Nachlassinventare, vom reinen

    Rücklass 8 Promille. ..."

    Die angefochtene Promillegebühr stellt teilweise ein Entgelt für die
Erstellung des amtlichen Nachlassinventars, d.h. für eine staatliche
Leistung dar. Zum Teil wird sie aber voraussetzungslos geschuldet, da
sie sich nicht nach dem Umfang und den Kosten der staatlichen Handlung
richtet, sondern nach der Höhe des reinen Nachlasses bemessen wird. Die
Promillegebühr von § 117 Ziff. III 4 Gebührentarif verbindet also eine
Gebühr mit einer Steuer zu einer einheitlichen Geldleistung. Dies wird
von keiner Seite bestritten.

    b) Die Beschwerdeführerin macht geltend, im Hinblick auf die
Steuernatur der Abgabe fehle für die Erhebung der Promillegebühr eine
genügende gesetzliche Grundlage.

    Der kantonale Gebührentarif wurde vom Regierungsrat gestützt auf § 371
EGzZGB vom 4. April 1954 erlassen. Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut:

    "Der Regierungsrat bestimmt die von den administrativen und
   richterlichen Behörden und die sonstigen nach dem Zivilgesetzbuch und
   diesem Gesetz zu erhebenden Gebühren und Kostenansätze sowie die

    Entschädigungen für Verteidiger, Fürsprecher, Notare,

    Prozessparteien, Zeugen, Sachverständige, Liquidatoren, Übersetzer
   und andere Hilfspersonen im richterlichen und administrativen
   Verfahren im

    Gebührentarif. ..."

    Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts dürfen öffentliche Abgaben
- mit Ausnahme von hier nicht in Betracht fallenden Kanzleigebühren -
nur aufgrund und im Rahmen eines Gesetzes im formellen Sinne erhoben
werden. Das bedeutet nicht, dass nicht einzelne Fragen in einer Verordnung
geregelt werden könnten; das Gesetz hat jedoch in solchen Fällen den Kreis
der Abgabepflichtigen, den Gegenstand der Abgabe und deren Bemessung
in Grundzügen selber festzulegen (BGE 103 Ia 243 mit Hinweisen). Wie
auch die Kantonale Rekurskommission ausführte, genügt § 371 EGzZGB
diesen Anforderungen nicht. Die Bestimmung delegiert den Erlass von
Gebührentarifen an den Regierungsrat. Sie spricht aber nicht von einer
Steuer auf dem Rücklass eines Erblassers, erwähnt die Promillegebühr
überhaupt nicht und kann demzufolge auch nicht die notwendigen Grundzüge
der Abgabe normieren. Das EGzZGB von 1954 und der Gebührentarif von
1971 stellen daher keine hinreichende gesetzliche Grundlage dar, um im
heutigen Zeitpunkt eine Steuer auf dem Nachlass zu erheben. Daran ändert,
wie die kantonale Instanz richtig feststellte, auch der Umstand nichts,
dass der Gebührentarif durch den Kantonsrat genehmigt wurde (BGE 100 Ia
69/70). Die Genehmigung kann ein Gesetz im formellen Sinne schon deshalb
nicht ersetzen, weil die Gesetzgebungskompetenz im Kanton Solothurn nicht
dem Kantonsrat zusteht; Gesetze unterliegen allgemein dem obligatorischen
Referendum (Art. 17 Abs. 1 Ziff. 1 KV).

Erwägung 2

    2.- Die Kantonale Rekurskommission bejahte dennoch das Bestehen einer
genügenden rechtlichen Grundlage für die Erhebung der Promillegebühr. Wohl
anerkennt sie, dass das heute in Kraft stehende EGzZGB keine hinreichende
Delegationsnorm darstelle. Seit dem Inkrafttreten dieses Erlasses im Jahre
1954 sei die Promilleabgabe aber in konstanter Praxis von den zuständigen
staatlichen Stellen erhoben und von den betroffenen Abgabepflichtigen
sowie den kantonalen Rechtsmittelinstanzen immer als rechtmässig anerkannt
worden. Unter diesen Umständen könne sich die Erhebung der Promillegebühr
auf Gewohnheitsrecht stützen. Die Beschwerdeführerin hält dem entgegen,
es sei willkürlich, eine Steuer aufgrund von Gewohnheitsrecht zu erheben;
zudem sei fraglich, ob die Voraussetzungen für die Entstehung von
Gewohnheitsrecht gegeben seien.

    a) Das Gewohnheitsrecht ist eine originäre Rechtsquelle, die trotz
eines gewissen Vorranges des formell zustandegekommenen Gesetzes den
gleichen Rang wie dieses einnehmen kann (vgl. BGE 104 Ia 312/13 E. 4;
94 I 308 E. 1; 83 I 248). Damit eine gewohnheitsrechtliche Grundlage
den Mangel einer ausreichenden Umschreibung der Abgabepflicht in § 371
EGzZGB zu beheben vermöchte, d.h. die gewohnheitsrechtliche Norm einer dem
Referendum unterstellten Vorschrift gleichgestellt werden könnte, müssten
neben einer einheitlichen und konstanten Übung die Rechtsüberzeugung der
Behörden und der Normadressaten gegeben sein, ferner müsste eine Lücke
des geschriebenen Rechts vorliegen und das unabweisliche Bedürfnis, sie zu
füllen (vgl. BGE 104 Ia 312/13 E. 4; 96 V 51 E. 4; 94 I 308 E. 2; GRISEL,
Droit administratif suisse, S. 37). Das Bundesgericht hat in BGE 94 I 310
entschieden, im Gebiete des Steuerrechts liege keine ausreichende Lücke
vor, wenn Tatbestände fehlten, die zu einer Besteuerung Anlass gäben; durch
Gewohnheitsrecht könnten dem Bürger daher nicht neue Steuern oder andere
steuerrechtliche Verpflichtungen auferlegt werden. Dieser Grundsatz muss im
Prinzip auch gelten, wenn die zu erhebende Steuer einst eine den heutigen
Anforderungen entsprechende gesetzliche Grundlage besass und dieser
nachträglich verlustig ging. Ob im vorliegenden Fall ausserordentliche
Umstände vorliegen, die ausnahmsweise eine gewohnheitsrechtliche Grundlage
als genügend erscheinen lassen könnten, braucht nicht weiter geprüft
zu werden, da hier, wie noch zu zeigen ist, die Voraussetzungen für die
Entstehung von Gewohnheitsrecht nicht erfüllt sind.

    Nicht ohne weiteres lassen sich im übrigen die Erwägungen des
Bundesgerichts im unveröffentlichten Teil des Entscheides vom 9. Dezember
1977 i.S. Leyer und Kons. gegen den Schweizerischen Schulrat auf den
vorliegenden Fall übertragen, wonach Gewohnheitsrecht in einem gewissen
Rahmen den Mangel an Präzision einer Delegationsnorm für die Erhebung von
Gebühren heilen könne. Dort ging es nicht um die rechtliche Grundlage einer
Steuer, die voraussetzungslos, d.h. ohne Rücksicht auf die Gegenleistung
des Staates geschuldet und daher, im Gegensatz zu den Gebühren, keiner
Beschränkung im Sinne des Äquivalenzprinzipes unterworfen ist.

    b) Eine gewohnheitsrechtliche Grundlage kann vorliegend nicht
angenommen werden, weil die Voraussetzungen für deren Entstehung nicht
erfüllt sind. Eine Lücke des geschriebenen Rechts liegt nicht vor: Die
strittige Steuer ist in ihren Einzelheiten nämlich ausdrücklich geregelt,
wenn auch ungenügend, weil auf Verordnungsstufe. Vor allem aber fehlt ein
unabweisliches Bedürfnis zur Erhebung der Promillegebühr: Auch ohne sie
kann der Erbgang und die Inventarisierung ohne weiteres abgewickelt werden.

    Ferner ist das Erfordernis einer konstanten und einheitlichen
Übung nicht erfüllt. Die Kantonale Rekurskommission führte wohl aus,
die Promillegebühr werde jedenfalls seit 1954 von allen Amtsschreibereien
erhoben. Allein, dass eine Promillegebühr seit langer Zeit erhoben wurde,
genügt nicht. Soll die gewohnheitsrechtliche Norm ein formelles Gesetz
ersetzen, so muss sie gleich einem solchen die Grundzüge der Steuer
determinieren. Das bedeutet, dass der Kreis der Abgabepflichtigen, der
Gegenstand der Abgabe und deren Bemessung durch konstante Übung festgelegt
sein muss. Tatsächlich ist dies gerade nicht geschehen. Insbesondere der
Gegenstand der Promillegebühr war in der hier massgeblichen Zeitspanne
uneinheitlich. 1954 erhob man aufgrund des 1946 revidierten Gebührentarifs
8 %o "vom reinen inventarisierten Vermögen (nicht vom Rücklass)",
d.h. inklusive dem mitinventarisierten Vermögen des überlebenden
Ehegatten. 1965 wählte man als Bemessungsgrundlage den "reinen Rücklass",
wobei aber für die nachträgliche Erbteilung neu eine zusätzliche Gebühr
geschuldet war. Dabei blieb es im heutigen Gebührentarif von 1971. Die
Bemessungsgrundlagen, wie sie im vorliegenden Fall herangezogen wurden,
galten demnach erst seit gut zehn Jahren. Diese Zeit erscheint ohne
Zweifel insbesondere angesichts der im Zusammenhange mit steuerrechtlichen
Belastungen in erhöhtem Masse gebotenen Zurückhaltung als ungenügend
für die Bildung von Gewohnheitsrecht. Dessen Anerkennung hat den Sinn,
einer historisch gewachsenen Regelung den fest verankerten Platz im
Rechtsleben zu belassen. Davon kann hier nicht gesprochen werden. Unter
diesen Umständen erübrigt es sich, zu prüfen, ob eine hinreichende
Rechtsüberzeugung vorliege. Immerhin sei darauf hingewiesen, dass eine
solche nicht einfach, wie die Kantonale Rekurskommission angenommen hat,
daraus geschlossen werden darf, dass "einige tausend Bürger" die Abgabe
entrichtet hätten und sie von allen Amtsschreibereien erhoben und in
verschiedenen Entscheiden der Rekurskommission bestätigt worden sei. Diese
Umstände lassen nur auf eine entsprechende Praxis und ihre Durchsetzbarkeit
schliessen. Hingegen sagen sie nichts aus über eine allfällige Überzeugung,
die Promillegebühr werde auch rechtmässig erhoben. In diesem Zusammenhang
fallen die beiden im angefochtenen Entscheid selbst angeführten Rekurse
ins Gewicht, die die grundsätzliche Frage der gesetzlichen Grundlage
aufwarfen. Auch in der Doktrin wurde unter verschiedenen Aspekten
Kritik an der Promillegebühr laut (vgl. etwa PETER MEIER, Der Erbgang
nach solothurnischem Einführungsrecht, Freiburger Diss. 1950, S. 15/6;
IMBODEN, Aktuelle Aspekte des Prinzips gesetzmässiger Besteuerung, ASA
33/1964/5 S. 258/9). REINHARDT (Gedanken zur Reform des solothurnischen
Erbschaftssteuerrechts, in: Festgabe Franz Josef Jeger, 1973, S. 265) nimmt
zwar eine gesetzliche Grundlage "in der ungewöhnlichen Form einer unechten
Gesetzeslücke" an, fordert aber "im Sinne moderner Rechtsstaatlichkeit"
eine Grundlage im geschriebenen Recht. Dieser Hinweis auf das heutige
Verständnis von der Rechtsstaatlichkeit muss schliesslich ausschlaggebend
sein. Die erhöhten Anforderungen, die die Rechtsprechung des Bundes, der
Kantone und die Doktrin an die Delegationsnorm stellen, sind Ausdruck eines
gewandelten Rechtsbewusstseins, welches die Annahme einer hinreichenden
gesetzlichen Grundlage in der Form von Gewohnheitsrecht für die Erhebung
der Steuer verbietet.

Erwägung 3

    3.- Der Entscheid der Kantonalen Rekurskommission ist somit als Ganzes
aufzuheben. Die Frage, in welchem Umfang der Gebührentarif als Grundlage
für die Erhebung einer eigentlichen Gebühr genüge, kann offen bleiben. Es
braucht auch nicht entschieden zu werden, ob der von der Beschwerdeführerin
angefochtene Kostenentscheid der kantonalen Instanz haltbar sei.