Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 105 IA 151



105 Ia 151

31. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 16. Februar 1979 i.S. Initiativkomitee der Initiative "Für eine
bessere medizinische Versorgung" gegen Regierungsrat des Kantons Luzern
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 85 lit. a OG; behördlicher Abstimmungsbericht.

    1. Grundsätze für die Erläuterung einer Volksinitiative im behördlichen
Abstimmungsbericht (E. 3).

    2. Wann ist eine unzulässige Erläuterung als erheblicher Mangel zu
erachten und die Abstimmung zu kassieren? (E. 5b).

Sachverhalt

    A.- Die Progressiven Organisationen (POCH) reichten dem luzernischen
Grossen Rat am 6. April 1976 eine mit rund 4200 Unterschriften versehene
Initiative ein auf Erlass eines Gesetzes für eine bessere medizinische
Versorgung. Die Initiative war in die Form des ausgearbeiteten Entwurfs
gekleidet und verlangte, dass der Kanton an näher bestimmten Orten
staatliche Polikliniken und staatliche Allgemeinpraxen errichte. §
3 Ziff. 2 des vorgeschlagenen Gesetzes lautete wie folgt:

    "Staatliche Allgemeinpraxen werden an folgenden Orten errichtet:

    In allen Gemeinden, in denen eine Ärztedichte von 1 Arzt/1500 Einwohner
   nicht erreicht ist, so dass in allen Gemeinden des Kantons mindestens
   eine Ärztedichte von 1 Arzt/1500 Einwohner erreicht wird."

    Der Grosse Rat beschloss in seiner Sitzung vom 9. Mai 1977, die
Initiative abzulehnen und sie dem Volk ohne Gegenvorschlag zur Abstimmung
zu unterbreiten. Der Regierungsrat stellte den Stimmbürgern einen Bericht
zur Abstimmungsvorlage zu, der bezüglich der Errichtung staatlicher
Allgemeinpraxen folgende Ausführungen enthielt:

    "Nach diesem Wortlaut (sc. demjenigen von § 3 Ziff. 2 der Initiative)
   wären im Kanton Luzern 55 staatliche Arztpraxen zu errichten. Davon
   würden

    23 allein auf die Agglomeration Luzern entfallen, wo gesamthaft gesehen
   bereits heute eine gute Ärztedichte zu verzeichnen ist. 18 ländliche

    Gemeinden, in denen bereits ein oder mehrere frei praktizierende Ärzte
   tätig sind, erhielten eine zusätzliche und sieben Gemeinden, in denen
   bisher kein Arzt niedergelassen war, sogar zwei staatliche Arztpraxen.

    Demgegenüber würden alle Gemeinden mit weniger als 1500 Einwohnern - es
   sind dies 63 von 107 Gemeinden - leer ausgehen.

    Daraus ist ersichtlich, dass die Annahme der Initiative zu einer
   schwerwiegenden rechtsungleichen Behandlung der luzernischen Gemeinden
   führen würde.

    Wenn man entgegen dem Wortlaut der Initiative restanzliche

    Einwohnerzahlen
   von unter 1500 nicht berücksichtigte, so müssten im Kanton Luzern
   immer noch 25 staatliche Praxen errichtet werden." (Es folgen weitere

    Ausführungen darüber.)

    Das Initiativkomitee der Initiative "Für eine bessere medizinische
Versorgung" erhebt staatsrechtliche Beschwerde und macht geltend, die
Stimmbürger würden durch den Bericht des Regierungsrates irregeführt,
da die Initiative nur in dem Sinne verstanden werden könne, dass auch in
den Gemeinden mit weniger als 1500 Einwohnern staatliche Allgemeinpraxen
eingerichtet werden müssten, wenn dort noch keine Arztpraxis bestehe.

    Da der Beschwerde keine aufschiebende Wirkung erteilt wurde, fand
die Abstimmung am 4. Dezember 1977 statt. Dabei wurde die Initiative mit
54'400 Nein gegen 11'620 Ja verworfen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Das vom Verfassungsrecht des Bundes gewährleistete
Stimmrecht gibt dem Bürger unter anderem Anspruch darauf, dass kein
Abstimmungsergebnis anerkannt wird, das nicht den freien Willen der
Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Das
Abstimmungsergebnis kann insbesondere durch eine unerlaubte Beeinflussung
der Willensbildung der Stimmbürger verfälscht werden; das ist namentlich
der Fall, wenn die Behörde, die zu einer Sachabstimmung amtliche
Erläuterungen verfasst, ihre Pflicht zur objektiven Information verletzt
und über den Zweck und die Tragweite der Vorlage falsch orientiert (BGE
102 Ia 268 mit Hinweisen). Wie das Bundesgericht wiederholt ausgeführt
hat, folgt aus der Pflicht zur objektiven Information aber nicht, dass
sich die Behörde in der Abstimmungserläuterung mit jeder Einzelheit der
Vorlage zu befassen habe und dass sie insbesondere sämtliche Einwendungen
erwähnen müsse, die gegen die Vorlage erhoben werden könnten. Das ist
schon deshalb entbehrlich, weil der behördliche Bericht keineswegs die
einzige Informationsquelle darstellt und die Stimmbürger von den für
und gegen die Abstimmungsvorlage sprechenden Argumenten auch noch durch
andere Publikationsmittel Kenntnis erhalten (BGE 98 Ia 622 E. 4a mit
Hinweisen). Diese Grundsätze gelten auch dann, wenn sich die behördliche
Erläuterung nicht auf eine vom kantonalen Parlament beschlossene Vorlage
bezieht, sondern eine Volksinitiative zum Gegenstand hat. Es steht der
Behörde in diesem Falle zu, in der Abstimmungserläuterung auf allfällige
Mängel des Begehrens hinzuweisen und den Stimmbürgern dessen Annahme
oder Verwerfung zu empfehlen. Sie kann dabei auch zu den durch das
Volksbegehren aufgeworfenen Ermessens- oder Wertungsfragen Stellung
nehmen und ihre Abstimmungsempfehlung auf Argumente stützen, die sich
nicht oder nicht ohne weiteres durch Tatsachen belegen lassen (nicht
publiziertes Urteil Bräm vom 18. November 1977, E. 2b). Die Behörde ist
aber verpflichtet, bei der Erläuterung des Volksbegehrens in korrekter
Weise vorzugehen und grundsätzlich gleich zu verfahren, wie wenn eine
vom kantonalen Parlament beschlossene Vorlage zur Abstimmung gelangen
würde. Soweit sich das Volksbegehren als interpretationsbedürftig oder
unklar erweist, ist im Rahmen der anerkannten Interpretationsgrundsätze
jene Auslegungsmöglichkeit zu wählen, die dem Sinn und Zweck der Initiative
am besten entspricht und zu einem vernünftigen Ergebnis führt. Dabei wird
die Behörde eine allfällige Begründung des Begehrens zu Hilfe ziehen,
ferner können Meinungsäusserungen der Initianten im Parlament oder in der
Presse ein taugliches Hilfsmittel der Auslegung sein. Grundsätzlich ist
der Initiativtext aber nicht nach dem subjektiven Willen der Initianten,
sondern aus sich selber auszulegen.

    b) Ist die Auslegung einer Volksinitiative streitig, so entscheidet
das Bundesgericht mit freier Kognition. Das gilt nicht nur, wenn die
Auslegung der Initiative für den Entscheid über ihre Gültigkeit massgebend
ist (vgl. BGE 101 Ia 232), sondern in gleicher Weise, wenn sich fragt,
ob die Behörde die Initiative im Bericht an die Stimmberechtigten richtig
erläutert habe.

Erwägung 4

    4.- c) Der Initiative ist in klarer Weise zu entnehmen, dass sie
die Verbesserung der medizinischen Versorgung in jenen Gegenden des
Kantons bezweckt, in denen diese bisher unbefriedigend war. Staatliche
Allgemeinpraxen sind nach dem Sinn und Zweck des Volksbegehrens demnach
dort zu schaffen, wo die bestehende Ärztedichte im Vergleich zum übrigen
Kantonsgebiet schlecht ist. Wie im beanstandeten Abstimmungsbericht
dargelegt wird, wäre die Errichtung von staatlichen Allgemeinpraxen
bei der vom Regierungsrat gewählten Auslegung in 63 der insgesamt 107
luzernischen Gemeinden zum vorneherein ausgeschlossen. Das bedeutet,
dass das Volksbegehren gerade den kleinen Gemeinden und den ländlichen
Kantonsteilen keine direkte Verbesserung bringen würde, obwohl dort
die ärztliche Versorgung weit weniger gut ist als in den städtischen
Gebieten. Demgegenüber müssten in der Agglomeration Luzern 23 staatliche
Allgemeinpraxen errichtet werden. Zieht man dies in Betracht, so ist
offenkundig, dass die vom Regierungsrat gewählte Auslegung dem Sinn
der Initiative nicht entsprechen kann. Die Abstimmungserläuterung ist
aber nicht nur aus diesem, sondern noch aus einem weiteren Grunde zu
beanstanden. Es war nämlich widersprüchlich, wenn der Regierungsrat
einerseits davon ausging, in den kleinen Gemeinden gäben Einwohnerzahlen
von weniger als 1500 keinen Anspruch auf die Schaffung einer staatlichen
Allgemeinpraxis, und wenn er anderseits annahm, in den Gemeinden mit
mehr als 1500 Einwohnern müssten solche Praxen nach dem Wortlaut der
Initiative selbst für Einwohnerrestzahlen geschaffen werden. Für eine
solche unterschiedliche Beurteilung sind keine stichhaltigen Gründe
ersichtlich, und es ändert an dieser unzulässigen Darstellung nichts,
dass der Regierungsrat beifügte, es könne offen bleiben, wieviele
Allgemeinpraxen geschaffen werden müssten, "wenn man entgegen dem Wortlaut
der Initiative restanzliche Einwohnerzahlen ... nicht berücksichtigte".

Erwägung 5

    5.- b) ... Wie es sich mit den Auswirkungen der beanstandeten
Erläuterungen verhält, entzieht sich einer ziffernmässigen Festlegung. Das
bedeutet jedoch nicht, dass der Mangel schon deswegen als erheblich zu
erachten und die Abstimmung zu kassieren sei. Steht ein Fehler allgemeiner
Natur in Frage, dessen Auswirkungen ziffernmässig nicht feststellbar sind,
so ist nach den gesamten Umständen zu beurteilen, ob eine Beeinflussung
des Abstimmungsergebnisses möglich sei oder nicht (vgl. dazu PICENONI,
Die Kassation von kantonalen Volkswahlen und Volksabstimmungen,
Diss. Zürich 1945, S. 147 ff.). Dabei ist insbesondere auf die Grösse
des Stimmenunterschieds, die Schwere des festgestellten Mangels und auf
dessen Bedeutung im Rahmen der gesamten Abstimmung abzustellen. Erscheint
die Möglichkeit, dass die Abstimmung ohne den Mangel anders ausgefallen
wäre, nach den gesamten Umständen als derart gering, dass sie nicht mehr
ernsthaft in Betracht kommt, so kann von der Aufhebung des Urnenganges
abgesehen werden. Rechtfertigt sich eine solche Beurteilung jedoch nicht,
so ist der Mangel als erheblich zu erachten und die Abstimmung zu kassieren
(vgl. Urteil vom 4. Oktober 1978 i.S. Progressive Organisationen der
Schweiz, Sektion Solothurn; Urteil vom 17. Februar 1965 i.S. Müller,
in ZBl. 66/1965, S. 282).

    c) Im hier zu beurteilenden Fall fällt vorab ins Gewicht, dass die
Initiative mit einem Stimmenverhältnis von beinahe 5 zu 1 abgelehnt
wurde und dass sich eine annehmende Mehrheit in keiner einzigen der 107
luzernischen Gemeinden fand. Selbst in der Gemeinde mit dem grössten
Anteil an Ja-Stimmen (Emmen), in welcher nach Annahme der Initiative bei
elf bestehenden Arztpraxen vier (ev. drei) staatliche Allgemeinpraxen
hätten geschaffen werden müssen, wurde das Begehren mit 3535 Nein zu 1295
Ja verworfen. Es kommt hinzu, dass die Mehrzahl der Gründe, gestützt auf
welche der Regierungsrat den Stimmbürgern die Ablehnung der Initiative
empfahl, ihre Gültigkeit auch bei richtiger Auslegung von § 3 Ziff. 2
behalten hätte. Der Regierungsrat führte in den Schlussfolgerungen des
Abstimmungsberichtes folgendes aus:

    "Die Einrichtungen und Dienste des bestehenden medizinischen

    Versorgungssystems bieten Gewähr für eine ausreichende ärztliche

    Grundversorgung. Die Ärztedichte darf nicht schematisch berechnet
werden,
   wie es die Initiative tut. Patienten aus Randgemeinden suchen häufig die
   in der Stadt oder regionalen Zentren praktizierenden Ärzte auf. Auch
   in kleineren Landgemeinden, wo ein entsprechendes Bedürfnis besteht,
   werden laufend neue Praxen eröffnet. Ab ca. 1980 dürfte infolge des
   grossen Ärztenachwuchses die ärztliche Versorgung auch in den wenigen
   bisher noch unterdotierten Gegenden genügend sein. Die Eröffnung
   von staatlichen

    Allgemeinpraxen und Polikliniken in der geforderten Art und Zahl
entspricht
   keinem ausgewiesenen Bedürfnis und wäre für den Staat finanziell ohne

    Steuererhöhungen nicht tragbar, personell nicht zu verantworten und
   innerhalb von drei Jahren nicht realisierbar."

    Es ist anzunehmen, dass die grosse Mehrheit der Stimmbürger die an
der Abstimmung vom 4. Dezember 1977 teilnahmen, die Initiative aus den
in den Schlussfolgerungen des Abstimmungsberichts dargelegten Gründen
ablehnten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine zustimmende Mehrheit
gefunden hätte, wenn die Initiative richtig erläutert worden wäre,
erscheint bei Würdigung aller Umstände als so gering, dass sie nicht
ernsthaft in Betracht kommen kann. Erscheint eine Beeinflussung
des Abstimmungsergebnisses durch die festgestellten Mängel des
Abstimmungsberichts nicht als möglich, so ist von einer Aufhebung des
Urnenganges abzusehen und die Beschwerde abzuweisen.