Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 9



104 V 9

3. Auszug aus dem Urteil vom 8. März 1978 i.S. Circelli gegen
Schweizerische Krankenkasse für das Bau- und Holzgewerbe und verwandte
Berufe (SKBH) und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Verspätete Meldung des Versicherungsfalles (Art. 3 Abs. 3 und Art. 12
ff. KUVG).

    - Die schuldhafte Verspätung der Meldung zieht nicht eine
Leistungsverwirkung, sondern den sanktionsweisen Leistungsentzug nach sich.

    - Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismässigkeit in diesem
Zusammenhang (Präzisierung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 25 lit. a Ziff. 2 des Kollektivversicherungsvertrages
hat der Versicherte der Kasse innert 6 Tagen nach Behandlungsbeginn die
Krankmeldung zu erstatten; füllt der Arzt den Krankenschein nicht aus,
hat der Versicherte ein ärztliches Zeugnis beizulegen. Tritt während der
Behandlung eine Arbeitsunfähigkeit ein, hat er die Kasse innert 6 Tagen zu
benachrichtigen, selbst wenn bereits ein ärztliches Zeugnis vorhanden ist.

    Für die Erfüllung dieser Formalitäten ist der Versicherte persönlich
verantwortlich "und kann sie nicht auf den Arzt oder einen Dritten
abschieben" (Art. 25 lit. a Ziff. 4 des Kollektivversicherungsvertrages).

    Art. 25 lit. a Ziff. 5 des Kollektivversicherungsvertrages bestimmt:
"Im Falle verspäteter Meldung der Arbeitsunfähigkeit werden die Leistungen
ab jenem Tag ausgerichtet, da die Kasse von der Arbeitsunfähigkeit
Kenntnis erhalten hat ... Ist die Anmeldung nach 6 Tagen erfolgt und
trägt der Versicherte oder sein gesetzlicher Vertreter keine Schuld,
anerkennt die Kasse die Leistungen ab 1. Krankheitstag."

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung gelten solche Ordnungsvorschriften
grundsätzlich nicht als bundesrechtswidrig. Wie das Eidg.
Versicherungsgericht wiederholt entschieden hat, sind die Kassen
befugt, ihre Leistungen bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemässen
Meldung zu verweigern, wenn vom Versicherten die rechtzeitige
Meldung vernünftigerweise verlangt werden kann. Erscheint dagegen eine
Pflichtverletzung nach den Umständen als entschuldbar, so dürfen damit
in der Regel keine Sanktionen verbunden werden (BGE 99 V 129, 98 V 156
sowie nicht veröffentlichtes Urteil vom 11. April 1973 i.S. Flütsch).

    In BGE 99 V 129 hat das Gericht ausgeführt, die durch den
Versicherten verschuldete Verspätung der Anmeldung ziehe die
Verwirkung des Leistungsanspruchs nach sich; dabei sei der Grundsatz
der Verhältnismässigkeit nicht anwendbar. Diese Feststellung bedarf
der Präzisierung. Mit Bezug auf das Verhältnismässigkeitsprinzip ist
zu unterscheiden zwischen der Verhältnismässigkeit einer Regelung als
solcher und der Verhältnismässigkeit ihrer Anwendung im Einzelfall
(vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Bd. I Nr. 58, insbesondere S. 340 f.). Im vorliegenden Fall kann nach
dem Gesagten davon ausgegangen werden, es verstosse nicht gegen den
Grundsatz der Verhältnismässigkeit, wenn die Kassenstatuten bzw. der
Kollektivversicherungsvertrag bestimmen, dass die Leistungen bei einer
vom Versicherten zu verantwortenden Versäumnis bis zum Zeitpunkt der
verspäteten Meldung verweigert werden. Bei der Anwendung der Sanktion
im Einzelfall bleibt für die Frage der Verhältnismässigkeit so lange
kein Raum, als die massgebenden Bestimmungen - wie hier - nur eine
einzige Sanktion vorsehen, die als solche als verhältnismässig gelten
kann. Anders verhält es sich, wenn mehrere bzw. variable Sanktionen für die
verspätete Meldung, wie z.B. die Verweigerung oder Kürzung der Leistungen,
angedroht sind. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob die Anwendung der
Kassenbestimmung im Einzelfall dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit
Rechnung trägt. Im übrigen geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht um
eine Verwirkung, sondern um eine vom Verschulden abhängige Sanktion.

Erwägung 3

    3.- a) In der angefochtenen Verfügung wird die Verweigerung des
Krankengeldes damit begründet, der Versicherte habe der Kasse die
Krankmeldung nicht innert der vorausgesetzten Frist von 6 Tagen ab
Krankheitsbeginn zugestellt. Aus den Akten ergibt sich indessen, dass sich
der Beschwerdeführer am 7. Oktober 1975 in ärztliche Behandlung begeben
hat und dass die Krankmeldung am 9. Oktober 1975 erfolgte. Verspätet ist
daher nicht die Krankmeldung, sondern allenfalls die Meldung der später
eingetretenen Arbeitsunfähigkeit.

    Kasse und Vorinstanz gehen davon aus, der Beschwerdeführer habe
die Arbeitsunfähigkeit erst gemeldet, als er wieder arbeitsfähig
gewesen sei, mit der Folge, dass ihm kein Krankengeld ausgerichtet
werden könne. Am 19. Januar 1976 erstattete er jedoch über seinen
Arbeitgeber eine zweite Krankmeldung, in welcher der 13. November 1975
als letzter Arbeitstag angegeben wird. Damit hat die Kasse im Sinne des
Kollektivversicherungsvertrages "von der Arbeitsunfähigkeit Kenntnis
erhalten", weshalb der Beschwerdeführer für die Zeit ab 19. Januar 1976
grundsätzlich Anspruch auf die versicherten Krankengeldleistungen hat.

    b) Es bleibt zu prüfen, ob der Beschwerdeführer das Krankengeld auch
für die Zeit vor dem 19. Januar 1976 beanspruchen kann. Dies beurteilt
sich gemäss Art. 25 lit. a Ziff. 5 des Kollektivversicherungsvertrages
und der Rechtsprechung (BGE 99 V 132) danach, ob er die Meldung schuldhaft
verspätet eingereicht hat.

    Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Meldung erstattet,
weil er im Zeitpunkt, als er arbeitsunfähig erklärt worden sei, noch
über einen gültigen Krankenschein verfügt habe. Das Versäumnis sei
entschuldbar, weil er als Kollektivversicherter nicht in direktem Kontakt
zur Versicherung gestanden habe und über die Versicherungsbestimmungen
nicht im einzelnen orientiert gewesen sei. Auf der Rückseite des
Krankmeldungsscheines sei zwar vermerkt, dass der Versicherte eine
in der Zwischenzeit eingetretene Arbeitsunfähigkeit innert 6 Tagen zu
melden habe; er sei jedoch der deutschen Sprache nicht mächtig und habe
sich darauf verlassen, dass er durch die Abgabe des Krankenscheins beim
Arzt seiner Pflicht als Patient nachgekommen sei. In den letzten Jahren
sei er mehrmals krank gewesen und habe jeweils, nachdem er dem Arzt den
Krankenschein abgegeben habe, das Krankengeld erhalten. Es sei denn auch
im Oberwallis die übliche Praxis, dass für den Versicherten nach Abgabe
des Krankenscheines beim Arzt keine weiteren Pflichten bestünden.

    Was der Beschwerdeführer vorbringt, lässt die verspätete Meldung der
Arbeitsunfähigkeit nicht als entschuldbar erscheinen. Der Beschwerdeführer
behauptet nicht, es seien ihm die für die Kollektivversicherung
massgebenden Unterlagen nicht ausgehändigt worden; er macht lediglich
geltend, er sei "über die Versicherungsbestimmungen nicht einzeln
orientiert" gewesen, was ebensogut auf eigene Nachlässigkeit oder mangelnde
Sprachkenntnis zurückgeführt werden kann. Jedenfalls aber anerkennt er,
dass der Krankmeldungsschein einen ausdrücklichen Hinweis auf die Pflicht
zur besonderen Meldung der Arbeitsunfähigkeit enthielt, weshalb er bei
Eintritt der Arbeitsunfähigkeit am 14. November 1975 hierüber nicht in
Unkenntnis sein konnte. Dass der Hinweis in deutscher Sprache erfolgte,
ist unerheblich. Eine Bestimmung, wonach die Kasse ihre Mitteilungen in
einer andern als der Amtssprache am Wohnsitz des Versicherten zu machen
hätte, ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus den Kassenstatuten
bzw. dem Kollektivversicherungsvertrag. Dass der Beschwerdeführer seinen
Angaben zufolge in früheren Krankheitsfällen das Taggeld unmittelbar
auf Grund der Krankmeldung bezogen hat, lässt sich damit erklären, dass
in jenen Fällen gleichzeitig auch eine Arbeitsunfähigkeit bestätigt
worden ist. Der Einwand, es entspreche einer allgemeinen Praxis,
dass der Versicherte nach Abgabe des Krankmeldungsscheines beim Arzt
nichts mehr vorzukehren habe, steht in offensichtlichem Gegensatz
zu den Bestimmungen des Kollektivversicherungsvertrages, welcher als
Rahmenvertrag für mehrere grosse Krankenkassen und das Baugewerbe des
Kantons Wallis einschliesslich verwandter Berufe Geltung hat. Er ist
in keiner Weise substantiiert und derart unwahrscheinlich, dass sich
weitere Abklärungen erübrigen. Solcher bedarf es auch hinsichtlich der
vom Bundesamt für Sozialversicherung aufgeworfenen Frage nicht, ob der
Beschwerdeführer habe davon ausgehen dürfen, die Arbeitgeberfirma werde
für die Meldung der Arbeitsunfähigkeit besorgt sein. Dies behauptet der
Beschwerdeführer selber nicht. Es stünde auch eindeutig im Widerspruch zur
Bestimmung im Kollektivversicherungsvertrag, wonach der Versicherte für
die Erfüllung der Meldepflicht persönlich verantwortlich ist. Er durfte
sich insbesondere nicht darauf verlassen, der behandelnde Arzt werde
für die erforderliche Meldung besorgt sein (vgl. RSKV 1977, S. 145). Es
muss daher mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die verspätete
Meldung der Arbeitsunfähigkeit vom Versicherten verschuldet ist.