Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 61



104 V 61

12. Auszug aus dem Urteil vom 7. Juni 1978 i.S. Klaentschi gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Herabsetzung oder Erlass von Beiträgen (Art. 11 AHVG).  Zeitlich
massgebender Sachverhalt und Berücksichtigung neuer Tatsachen im
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht (Präzisierung
der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Ist einem obligatorisch Versicherten die Bezahlung der Beiträge
aus selbständiger Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten, so können seine
Beiträge auf begründetes Gesuch hin für bestimmte oder unbestimmte Zeit
angemessen herabgesetzt werden (Art. 11 Abs. 1 AHVG). Die Voraussetzung
der Unzumutbarkeit ist erfüllt, wenn der Beitragspflichtige bei Bezahlung
des vollen Beitrags seinen und seiner Familie Notbedarf nicht befriedigen
könnte (BGE 98 V 252). Ob eine Notlage besteht, ist auf Grund der gesamten
wirtschaftlichen Verhältnisse und nicht allein anhand des Erwerbseinkommens
zu beurteilen (EVGE 1952 S. 198, ZAK 1950 S. 208).

    b) Nach ständiger Rechtsprechung (BGE 99 V 102 mit Hinweisen)
beurteilt der Sozialversicherungsrichter die Gesetzmässigkeit der
angefochtenen Verfügungen in der Regel nach dem Sachverhalt, der zur Zeit
des Verfügungserlasses gegeben war. Tatsachen, die jenen Sachverhalt
seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen
Verwaltungsverfügung sein. Für die richterliche Kontrolle von Verfügungen
über Erlass oder Herabsetzung von Forderungen des Versicherungsträgers
sind indessen die folgenden Grundsätze wegleitend: Da der ganze oder
partielle Erlass solcher Forderungen eine wirtschaftliche Notlage
des Schuldners voraussetzt (Art. 11 AHVG), muss der endgültige Erlass-
bzw. Herabsetzungsentscheid - unter Vorbehalt von Fällen missbräuchlicher
Verzögerung - auf die ökonomischen Verhältnisse des Schuldners abstellen,
die im Zeitpunkt gegeben sind, da er bezahlen sollte. Damit ist
zugleich gesagt, dass weder weit zurückliegende noch durchschnittliche
wirtschaftliche Verhältnisse entscheidend sein können. Dennoch ist der
im Erlass- bzw. Herabsetzungsprozess erstmals angerufene Richter nicht
verpflichtet, direkt und abschliessend zu überprüfen, ob und allenfalls
wie weit sich die wirtschaftliche Lage des Schuldners seit Eröffnung
der angefochtenen Verfügung über das Erlass- oder Herabsetzungsgesuch
verändert hat. Der erstinstanzliche Richter kann sich gegebenenfalls
auf die Feststellung beschränken, dass die Verwaltungsverfügung zur Zeit
ihrer Eröffnung richtig war, und es der Partei, welche eine seitherige
Veränderung des massgeblichen Sachverhaltes behauptet, überlassen, eine
neue Verfügung zu provozieren. Dem erstinstanzlichen Richter ist aber auch
nicht verwehrt, unter Umständen - aus prozessökonomischen Gründen - nach
Gewährung des rechtlichen Gehörs seinem Entscheid den neuen Sachverhalt
zugrunde zu legen, wie er dies übrigens - wenn auch nur ausnahmsweise -
auf anderen Gebieten des Sozialversicherungsrechts tut (BGE 103 V 53
Erw. 1 mit Hinweisen).

    Diese Regeln können jedoch nicht in gleicher Weise auch
für das letztinstanzliche Verfahren gelten. Da ein Erlass-
bzw. Herabsetzungsprozess nicht die Bewilligung oder Verweigerung
von Versicherungsleistungen betrifft (zum Erlass der Rückerstattung
unrechtmässig bezogener Leistungen vgl. BGE 98 V 275 Erw. 2 in fine),
hat das Eidg. Versicherungsgericht lediglich zu prüfen, ob die
Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung
oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). Daraus folgt,
dass das Eidg. Versicherungsgericht grundsätzlich an den von der
Vorinstanz festgestellten Sachverhalt gebunden ist und dass es ihm insoweit
verwehrt ist, allfällige neue Tatsachen zu berücksichtigen, die erst nach
Abschluss der von der Vorinstanz erfassten Zeitperiode (d.h. nach Erlass
der Kassenverfügung bzw. nach Erlass des vorinstanzlichen Entscheids)
eingetreten sind. Aus prozessökonomischen Gründen rechtfertigt es sich
jedoch, ausnahmsweise auch neue, nach dem erwähnten Zeitpunkt eingetretene
Tatsachen zu berücksichtigen, sofern diese offensichtlich klar bewiesen
sind. Die eingeschränkte Überprüfungsbefugnis steht einem solchen Vorgehen
nicht entgegen (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 98 Ib 512). In diesem Sinne
ist die in BGE 103 V 53 Erw. 1 erwähnte Rechtsprechung zu präzisieren.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall stellte der vorinstanzliche Richter auf den
Sachverhalt ab, der im Zeitpunkt der Kassenverfügung (22. Februar 1977)
gegeben war. Dies ist nach dem zuvor Gesagten nicht zu beanstanden. Auch
der letztinstanzliche Richter hat von den Verhältnissen im genannten
Zeitpunkt auszugehen. Der Beschwerdeführer macht zwar in seiner
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend, dass sich sein Vermögen schon
kurze Zeit nach Erlass der Kassenverfügung zufolge Belehnung der
Lebensversicherungen erheblich vermindert habe. Dieser Einwand ist jedoch
im vorliegenden Verfahren unbeachtlich, da er auf Grund der Akten nicht
als klar erwiesen erscheint.