Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 5



104 V 5

2. Urteil vom 13. März 1978 i.S. A. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Graubünden und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Regeste

    Verrechnung der Leistungen (Art. 50 IVG und 20 Abs. 2 AHVG).  Der
Verrechnungsausschluss des Art. 213 Abs. 2 SchKG gilt im Anwendungsbereich
des Art. 20 Abs. 2 AHVG nicht.

Sachverhalt

    A.- Josef A. betrieb neben der J. A. AG eine Garage als Einzelfirma,
welcher von der Nachlassbehörde im Jahre 1971 ein Liquidationsvergleich
bestätigt wurde. Für die Sozialversicherungsbeiträge vom Januar 1970 bis
zum Mai 1971 belastete ihn die Ausgleichskasse für das schweizerische
Auto-, Motor- und Fahrradgewerbe mit einem Betrag von insgesamt
Fr. 27'649.-, den sie im Nachlassverfahren als Gläubigerin anmeldete.

    Gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 50% sprach die Ausgleichskasse
des Kantons Graubünden mit Verfügung vom 12. August 1976 Josef A. mit
Wirkung ab 1. Mai 1975 eine halbe einfache Invalidenrente zu. Auf Antrag
der Ausgleichskasse für das schweizerische Auto-, Motor- und Fahrradgewerbe
verfügte sie gleichzeitig die laufende Verrechnung dieser Invalidenrente
"mit ausstehenden AHV-Beiträgen".

    B.- Gegen diese Verrechnungsverfügung liess Josef A. beim
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Beschwerde erheben und geltend
machen, die Verrechnung sei unzulässig, weil es nach Art. 213 SchKG
ausgeschlossen sei, eine nach Konkurseröffnung entstandene Verpflichtung
mit Forderungen aus der Zeit vor dem Konkurs zu verrechnen. - Das
Verwaltungsgericht wies die Beschwerde am 10. Dezember 1976 ab. Die
Anwendung von Art. 213 SchKG werde im Sozialversicherungsrecht durch
Art. 16 und 20 AHVG ausgeschlossen. Da sich Josef A. nicht in einer
Notlage befinde, sei zu Recht verrechnet worden.

    C.- Josef A. lässt rechtzeitig Verwaltungsgerichtsbeschwerde
einreichen und beantragen, die Verrechnung von Ansprüchen aus der
Invalidenversicherung mit ausstehenden AHV-Beiträgen sei als unzulässig
zu erklären. Die grundsätzliche Verrechnungsmöglichkeit werde nicht
bestritten, im vorliegenden Fall werde sie jedoch durch Art. 213 SchKG
ausgeschlossen; weder Art. 16 noch Art. 20 AHVG würden die Anwendung dieser
Bestimmung des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts wegbedingen. Sofern
im übrigen die ausstehende, privilegierte Forderung der Ausgleichskasse im
Nachlassverfahren nicht gedeckt werden sollte, könne die Verrechnung nach
Abschluss des Verfahrens immer noch geltend gemacht werden. Die Auffassung
von Kasse und Vorinstanz bewirke eine Gläubigerbevorzugung.

    Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden und das Bundesamt für
Sozialversicherung tragen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
an.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die
Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat
das Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob der vorinstanzliche
Richter Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder
Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 50 IVG findet für die Verrechnung von Leistungen der
Invalidenversicherung Art. 20 AHVG sinngemäss Anwendung. Nach Art. 20
Abs. 2 AHVG können Forderungen der Sozialversicherungsgesetzgebung
mit fälligen Leistungen verrechnet werden; die Verrechnung ist aber
unter anderem (vgl. dazu: EVGE 1969 S. 214 Erw. 3 sowie Rz 1216 ff. der
Wegleitung über die Renten) an folgende Voraussetzungen geknüpft:

    a) Die Verrechenbarkeit beschränkt sich auf Forderungen, die auf
Grund des Bundesrechts entstanden sind. Somit ist im vorliegenden
Fall die Verrechnung insoweit ausgeschlossen, als in der ausstehenden
Beitragsforderung kantonalrechtliche Beiträge und diesbezügliche Spesen
enthalten sind. Die angefochtene Verfügung vermerkt allgemein "laufende
Verrechnung mit ausstehenden AHV-Beiträgen"; daraus ist grundsätzlich
zu schliessen, dass nur bundesrechtliche Sozialversicherungsbeiträge
verrechnet werden sollen.

    b) Die Verrechnung darf den Versicherten nicht in eine Notlage
bringen (ZAK 1971, S. 508 f.). Eine Notlage wird indessen weder
vom Beschwerdeführer behauptet, noch lassen die Akten auf das
Vorliegen einer solchen schliessen. Er anerkennt vielmehr in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, dass die Verrechenbarkeit in seinem Fall
an sich möglich ist, wenn nicht Art. 213 SchKG sie nach seiner Auffassung
verbieten würde.

Erwägung 3

    3.- Somit ist zu entscheiden, ob das Schuldbetreibungs- und
Konkursrecht eine Verrechnung im Bereiche des Sozialversicherungsrechts
in gewissen Fällen auszuschliessen vermag.

    a) Der Einzelfirma J. A. wurde nach Darstellung des Beschwerdeführers
vom Kreisgerichtsausschuss Rhäzüns am 1. Dezember 1971 ein Nachlassvertrag
mit Vermögensabtretung bewilligt. In bezug auf die Verrechnung
beim Liquidationsvergleich verweist Art. 316 m SchKG auf Art. 213
SchKG, wobei präzisiert wird, dass im Nachlassverfahren an Stelle der
Konkurseröffnung die Bekanntmachung der Nachlassstundung, gegebenenfalls
des vorausgegangenen Konkursaufschubes trete. Art. 213 SchKG erklärt
die Verrechnung grundsätzlich als zulässig (Abs. 1), schliesst sie
aber aus (...), wenn ein Gläubiger des Gemeinschuldners erst nach
der Konkurseröffnung Schuldner desselben oder der Konkursmasse wird
(Abs. 2 Ziff. 2). Diese Regelung will verhindern, dass auf dem Wege des
Verrechnungsrechts (Art. 120 ff., insbesondere Art. 123 OR) Missbrauch
getrieben wird, zu dem die besondere Lage Anreiz bilden kann (FRITZSCHE,
Schuldbetreibung und Konkurs nach schweizerischem Recht, Band II, S. 72).

    b) Durch Art. 20 Abs. 2 AHVG wird für die Verrechnung eine eigene
Ordnung geschaffen, welche auf die Besonderheiten der Sozialgesetzgebung im
AHV-Bereich zugeschnitten ist. Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt
hat, ergibt sich die Eigenständigkeit des Sozialversicherungsrechts
beispielsweise aus Art. 16 Abs. 2 AHVG, wonach eine Beitragsforderung
drei Jahre nach Ablauf des Kalenderjahres verwirkt, in welchem sie
geltend gemacht wurde; fällt der Ablauf der Frist in ein hängiges
Schuldbetreibungs- oder Konkursverfahren, endet die Frist mit dessen
Abschluss; Art. 149 Abs. 5 SchKG, der die durch den Verlustschein
verurkundete Forderung gegenüber dem Schuldner allgemein als unverjährbar
erklärt, findet von Gesetzes wegen auf Beitragsforderungen keine Anwendung.

    c) Die Gefahr eines Missbrauchs oder einer Gläubigerübervorteilung
besteht nicht. Durch den Ausschluss der Verrechnung könnte im Gegenteil
ein Sozialwerk geschädigt werden, aus dem der Schuldner selber wieder
Vorteile erlangt, zumal die Sozialversicherungsbeiträge rentenbildend
sein können. Praktisch alle übrigen Gläubiger des Gemeinschuldners würden
sodann ohne Verrechnung schlechter gestellt. Gemäss Art. 219 Abs. 4 SchKG
sind die Beitragsforderungen der Sozialversicherung in der zweiten Klasse
privilegiert. Durch Verrechnung wird diese privilegierte Forderung
vermindert, so dass die gleich- oder nachgestellten Gläubiger eine
Besserstellung erfahren. Schliesslich würde ohne Verrechnungsmöglichkeit
allein der Schuldner profitieren, weil die Sozialversicherungsleistungen
gemäss Art. 20 Abs. 1 AHVG unabtretbar, unverpfändbar und der
Zwangsvollstreckung entzogen sind. Es ist nun aber nicht einzusehen,
warum ein Versicherter, dessen Beitragsschuld in einem Konkurs- oder
Nachlassverfahren angemeldet worden ist, besser gestellt werden soll
als ein anderer Versicherter, der ebenfalls Sozialversicherungsbeiträge
schuldig blieb.

Erwägung 4

    4.- Zusammenfassend ergibt sich, dass die Verrechnung der
monatlichen Invalidenrente des Beschwerdeführers mit seinen ausstehenden
bundesrechtlichen Sozialversicherungsbeiträgen zulässig ist, weil sich der
Beschwerdeführer nicht in einer Notlage befindet und weil der Ausschluss
der Verrechnung nach Art. 213 Abs. 2 SchKG im Anwendungsbereich des
Art. 20 Abs. 2 AHVG nicht gilt.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.