Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 155



104 V 155

37. Urteil vom 11. Dezember 1978 i.S. Balsiger gegen Krankenkasse für
den Kanton Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 3 Abs. 4 KUVG und Art. 9bis Abs. 3 Vo V.  Voraussetzungen, unter
welchen die Kassen befugt sind, von den Mitgliedern zusätzliche Beiträge
zur Wiederherstellung des finanziellen Gleichgewichts zu erheben.

Sachverhalt

    A.- Im Dezember 1974/Januar 1975 orientierte die Krankenkasse für
den Kanton Bern (im folgenden KKB) ihre Mitglieder dahingehend, dass
vorläufig keine Erhöhung der Mitgliederbeiträge vorgenommen werde; sollte
jedoch die Kostensteigerung in der Krankenpflegeversicherung im Jahre
1975 so verlaufen, dass die Ausgaben nicht mehr gedeckt seien und die
Schaffung der gesetzlich vorgeschriebenen Reserven in Frage gestellt sei,
werde der Zentralvorstand die Erhebung eines Extrabeitrages beschliessen
müssen. Auf Grund des Rechnungsergebnisses für das erste Halbjahr 1975
beschloss der Zentralvorstand Ende Juni 1975 die Erhebung eines einmaligen
zusätzlichen Beitrages für das laufende Jahr und die Neufestsetzung der
Mitgliederbeiträge auf den 1. Januar 1976. Im September 1975 wurden die
Mitglieder über die beschlossenen Massnahmen orientiert, wobei gleichzeitig
der Extrabeitrag für das Jahr 1975 erhoben wurde.

    Für die bei der KKB versicherte Ehefrau und die Kinder des Oskar
Balsiger belief sich der zusätzliche Beitrag auf insgesamt Fr. 259.20. Da
Oskar Balsiger die Rechtmässigkeit des Extrabeitrages bestritt und
die Zahlung verweigerte, erliess die Kasse am 18. Februar 1977 eine
beschwerdefähige Verfügung, mit welcher sie an der Beitragsforderung
festhielt.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies eine hiegegen
erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 20. Juni 1977 ab. Das Gericht
gelangte zum Schluss, die Erhebung eines Extrabeitrages sei auf Grund
der gesetzlichen und statutarischen Bestimmungen zulässig; auch sei der
Zentralvorstand der Kasse zur Beschlussfassung zuständig gewesen.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
Oskar Balsiger die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und
der Kassenverfügung vom 18. Februar 1977. Zur Begründung führt er im
wesentlichen aus, dem Extrabeitrag komme rückwirkende Bedeutung zu,
was dadurch bestätigt werde, dass die Kasse auf den 1. Januar 1976 eine
Anpassung der ordentlichen Mitgliederbeiträge vorgenommen habe. Für
eine Erhebung rückwirkender Beiträge fehle aber die statutarische
Grundlage. Nach Art. 95 der Statuten seien die Beiträge für je zwei Jahre
festzusetzen, und falls sie sich innerhalb dieser Periode als ungenügend
erwiesen, sei die Kasse gestützt auf Art. 96 der Statuten berechtigt, sie
zu erhöhen, nicht aber "rückwirkende Extras" zu verlangen. Fehl gehe auch
die Annahme der Vorinstanz, die Erhebung eines Extrabeitrages stelle eine
mildere Form der Beitragserhöhung dar; sie qualifiziere sich gegenteils
als willkürlich, indem der Versicherte weder den Zeitpunkt der Fälligkeit
noch die Höhe dieses Beitrages voraussehen könne. Nach der Rechtsprechung
dürfe der Versicherte nicht gezwungen werden, sich einer in den Statuten
nicht vorgesehenen Regelung zu unterziehen. In BGE 100 V 65 habe das
Eidg. Versicherungsgericht zudem die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt
mit dem Gesetz vereinbar sei, den definitiven Beitrag für ein bestimmtes
Geschäftsjahr erst auf Grund des jeweiligen Ergebnisses festzusetzen,
selbst wenn dies in den Versicherungsbedingungen so vorgesehen sei. Umso
fragwürdiger erscheine es, wenn sich ein solches Vorgehen auf eine vom
Versicherten nicht voraussehbare Auslegung der Versicherungsbedingungen
stütze, was letztlich zu einem Zustand dauernder Rechtsunsicherheit führe.

    In ihrer Vernehmlassung macht die KKB geltend, der Extrabeitrag
sei gestützt auf Art. 9bis Abs. 3 der Vo V über die Krankenversicherung
erhoben worden und habe die Wiederaufstockung der Reserven bezweckt, was
naturgemäss nur rückwirkend erfolgen könne. Selbst wenn statt dessen eine
entsprechend stärkere Erhöhung der Mitgliederbeiträge auf den 1. Januar
1976 vorgenommen worden wäre, hätte ein Teil der Beiträge rückwirkend die
Verluste des Jahres 1975 ausgleichen müssen. Zwar spreche Art. 9bis Vo V
nur von der Erhöhung der Mitgliederbeiträge; nach dem Grundsatz "a maiore
minus" sei darin jedoch die Kompetenz zur Einforderung von Extrabeiträgen
enthalten. Diese Befugnis ergebe sich auch aus den Kassenstatuten. Im
übrigen habe das Bundesamt für Sozialversicherung die Erhebung des
Extrabeitrages vom September 1975 ausdrücklich bewilligt.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf einen Antrag.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 3 Abs. 4 KUVG müssen die anerkannten Krankenkassen
Sicherheit dafür bieten, dass sie die übernommenen Verpflichtungen
erfüllen können. Das Finanzierungsverfahren, welches sie dabei zu befolgen
haben, wird in Art. 9 ff. der Vo V über die Krankenversicherung vom
2. Februar 1965 näher umschrieben. Danach haben die Kassen jeweils für
eine Finanzierungsperiode von mindestens drei Jahren das Gleichgewicht
zwischen Einnahmen und Ausgaben sicherzustellen; sie müssen ferner
über einen Sicherheitsfonds verfügen, welcher gemäss Art. 10 einen nach
dem Versichertenbestand abgestuften Prozentsatz der Jahresausgaben zu
erreichen hat (Art. 9). Die Mitgliederbeiträge sind nach Art. 9bis unter
der Annahme gleichbleibender Kosten zu ermitteln und um Zuschläge zum
Ausgleich allfälliger Kostensteigerungen und Schwankungen sowie für die
Anpassung des Sicherheitsfonds an voraussichtliche Ausgabenvermehrungen zu
erhöhen. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung hat die Kasse im Einvernehmen mit
dem Bundesamt für Sozialversicherung "die Mitgliederbeiträge entsprechend
zu erhöhen", wenn die aus den Zuschlägen gebildeten Reserven vor Ablauf
der Finanzierungsperiode aufgebraucht werden und der vorgeschriebene
Sicherheitsfonds voraussichtlich innert Jahresfrist angegriffen werden
muss.

Erwägung 2

    2.- Die KKB beruft sich auf Art. 9bis Abs. 3 Vo V in der Meinung, die
Befugnis zur Erhöhung der Mitgliederbeiträge umfasse nach dem Grundsatz
"a maiore minus" auch die Erhebung von Extrabeiträgen. Die Beschwerdeführer
machen demgegenüber geltend, die Erhebung derartiger Beiträge widerspreche
dem Legalitätsprinzip und dem Grundsatz der Rechtssicherheit.

    In BGE 96 V 97 hat das Eidg. Versicherungsgericht ausgeführt, zwischen
den Anforderungen einer gesunden Kassenführung einerseits und der Sorge
um die Respektierung der Rechte jedes Versicherten anderseits sei ein
billiger Ausgleich zu wahren. Im Urteil vom 28. Juni 1974 i.S. Bettex
(BGE 100 V 65) wurde festgestellt, die Aufnahme einer neuen Bestimmung
in einen Kollektivversicherungsvertrag, welche es der Kasse gestatten
würde, die Beiträge für ein im Zeitpunkt der Vertragsänderung begonnenes
oder bereits abgelaufenes Geschäftsjahr zu erhöhen, sei unzulässig. Dabei
liess das Gericht offen, ob eine Versicherungsbedingung, wonach sich der
definitive Beitrag für ein bestimmtes Geschäftsjahr nach dessen Ergebnissen
richtet, mit dem Gesetz überhaupt vereinbar wäre.

    Diese Erwägungen sind heute dahingehend zu ergänzen, dass es den
Kassen nicht verwehrt ist, das gesetzlich vorgeschriebene finanzielle
Gleichgewicht nötigenfalls durch Erhebung eines ausserordentlichen
Beitrages für das laufende oder bereits abgeschlossene Geschäftsjahr
wiederherzustellen. Die Vielgestaltigkeit der sich in der Praxis ergebenden
Verhältnisse verbietet es, Art. 9bis Abs. 3 Vo V eng auszulegen und
unter der Erhöhung der Mitgliederbeiträge lediglich die Heraufsetzung
der ordentlichen Beiträge zu verstehen. Je nach den Umständen kann
ein Extrabeitrag dem Sanierungsziel besser angepasst sein und auch den
Interessen der Versicherten besser dienen als eine dauernde Erhöhung des
ordentlichen Beitrages. Die Erhebung eines Extrabeitrages stellt indessen
eine Ausnahmevorkehr dar, die für Notlagen vorbehalten bleiben muss,
in welchen sofortige Massnahmen zur Wiederherstellung des finanziellen
Gleichgewichts unumgänglich sind. Unter dieser Voraussetzung ist die
Erhebung eines zusätzlichen Beitrages für das laufende oder bereits
abgeschlossene Geschäftsjahr als zulässig zu erachten, sofern diese Art
der Beitragserhebung in den Statuten vorgesehen ist und die Mitglieder
hierüber hinreichend und rechtzeitig orientiert worden sind. Trifft
dies zu, so stellt der Extrabeitrag weder eine unzulässige rückwirkende
Beitragserhebung dar noch lässt sich darin ein Verstoss gegen die
Rechtssicherheit erblicken.

Erwägung 3

    3.- a) Gemäss Art. 95 ihrer Statuten setzt die KKB die
Mitgliederbeiträge jeweils für je zwei Jahre fest. Ergibt sich im
Laufe dieses zweijährigen Zeitraumes, dass die festgesetzten Beiträge
der einzelnen Versicherungsabteilungen ungenügend sind, so kann die
Kasse nach Art. 96 der Statuten eine "das Gleichgewicht jeder Abteilung
sichernde Erhöhung" vornehmen. Nach Art. 103 Ziff. 4 der Statuten ist
die Abgeordnetenversammlung zur "Festsetzung der von den Mitgliedern zu
leistenden monatlichen Beiträge" zuständig. Anderseits wurde in der vor
dem 1. Januar 1972 gültigen Fassung der Statuten (Art. 111 Ziff. 27) der
Zentralvorstand für die "Erhöhung der Mitgliederbeiträge zur Herstellung
des finanziellen Gleichgewichts" zuständig erklärt. In den ab 1972 gültigen
Statuten fehlt eine entsprechende Bestimmung; statt dessen enthält Art. 111
eine Generalklausel, dergemäss der Zentralvorstand zur Erledigung aller
übrigen Aufgaben zuständig ist, welche nicht andern Organen der Kasse
übertragen sind.

    Die Vorinstanz pflichtete auf Grund dieser Bestimmungen der Auffassung
der Kasse bei, wonach deren Zentralvorstand (auch gemäss den ab 1. Januar
1972 gültigen Statuten) zur Erhebung von Extrabeiträgen befugt sei. Ob
die Statuten der KKB die Möglichkeit einer Erhebung zusätzlicher Beiträge
hinreichend klar zum Ausdruck bringen, erscheint jedoch fraglich. Auf
Grund der statutarischen Bestimmungen ist dem Mitglied jedenfalls nicht
ohne weiteres erkennbar, dass es nebst den ordentlichen Beiträgen unter
Umständen noch mit Sonderbeiträgen zu rechnen hat. Wie es sich hinsichtlich
der statutarischen Grundlage des streitigen Extrabeitrages verhält,
kann hier indessen offen bleiben, wie sich aus dem folgenden ergibt.

    b) Die KKB hatte die Mitgliederbeiträge letztmals auf den 1. Januar
1972 erhöht. Nach den Angaben der Kasse waren die ihr in der Zeit von
1971 bis 1974 entstandenen Krankenpflegekosten um 67,4% gestiegen;
die technischen Reserven waren von rund 15 Mio. Franken im Jahre 1973
auf rund 9 Mio. Franken im Jahre 1974 gesunken. Auf den 1. Januar 1975
traten zudem Tarifanpassungen im Ärztevertrag in Kraft, welche weitere
Kostensteigerungen erwarten liessen. Bei dieser Sachlage musste sich
Ende 1974, als die dreijährige Finanzierungsperiode gemäss Art. 9 Vo
V ablief, die Frage einer Erhöhung der ordentlichen Mitgliederbeiträge
auf den 1. Januar 1975 stellen. Weshalb die Kasse hievon abgesehen hat,
bleibt unklar. Wenn sie diesbezüglich geltend macht, sie habe damals mit
einer Stagnation der Kosten in der Krankenpflegeversicherung gerechnet,
so vermag dies nicht zu überzeugen. Welche Gründe für den Verzicht
auf eine Beitragserhöhung tatsächlich ausschlaggebend waren, kann
jedoch dahingestellt bleiben. Es genügt festzustellen, dass sich eine
Beitragserhöhung allein schon im Hinblick auf die erheblich gesunkenen
Reserven aufgedrängt hätte und dass eine Beitragserhöhung auf den 1. Januar
1975 die Erhebung eines Extrabeitrages im Herbst 1975 hätte entbehrlich
machen können.

    Nachdem von einer Beitragsanpassung auf den 1. Januar 1975 abgesehen
worden ist, stellt sich die Frage, ob im Laufe des Jahres 1975
eine Notlage entstanden war, welcher nur mit einer Sofortmassnahme
in Form eines Extrabeitrages begegnet werden konnte, oder ob das
finanzielle Gleichgewicht nicht auch mit der auf den 1. Januar 1976
ohnehin vorgesehenen Beitragserhöhung hätte wiederhergestellt werden
können. Die KKB legt nicht dar, aus welchen Gründen die Erhöhung der
Reserven bereits im Herbst 1975 und nicht erst anfangs 1976 vorgenommen
werden musste. Objektive Umstände, welche einer Anpassung im Rahmen
der ordentlichen Beitragsneuregelung entgegengestanden hätten, sind
nicht ersichtlich. Das Bundesamt für Sozialversicherung räumt denn
auch ein, die finanzielle Lage der Kasse sei nicht derart gewesen,
dass sie unverzüglich die Erhebung eines Extrabeitrages erfordert
hätte. Der Kasse ging es anscheinend darum, eine allzu starke Erhöhung der
Mitgliederbeiträge auf anfangs 1976 zu vermeiden; so wurde laut Protokoll
der Zentralvorstandssitzung vom 26. Juni 1975 der Extrabeitrag als
"der halbe Schritt zu den neuen Mitgliederbeiträgen" betrachtet. Hiebei
handelt es sich jedoch um geschäftspolitische Überlegungen, welche
die Erhebung eines Sonderbeitrages gestützt auf Art. 9bis Abs. 3 Vo V
nicht zu rechtfertigen vermögen. Die KKB war somit nicht berechtigt,
den streitigen Extrabeitrag zu erheben.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
vorinstanzliche Entscheid und die Kassenverfügung vom 18. Februar 1977
aufgehoben.