Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 127



104 V 127

29. Auszug aus dem Urteil vom 9. November 1978 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Müller und Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern Regeste

    Hilflosenentschädigung. Die Umschreibung der schweren Hilflosigkeit
in Art. 36 Abs. 1 IVV widerspricht Art. 43bis Abs. 1 AHVG nicht und ist
daher für die Hilflosenentschädigung nach AHVG anwendbar.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 43bis Abs. 1 AHVG haben in der Schweiz wohnhafte
Personen, denen eine Altersrente zusteht und die in schwerem Grade hilflos
sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Für den Begriff und die
Bemessung der Hilflosigkeit sind die Bestimmungen des Bundesgesetzes über
die Invalidenversicherung sinngemäss anwendbar (Art. 43bis Abs. 5 AHVG).

    Gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG gilt als hilflos, wer wegen Invalidität
für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder
der persönlichen Überwachung bedarf. Zu diesen Verrichtungen gehören
nach ständiger Rechtsprechung in erster Linie das An- und Auskleiden,
die Körperpflege, die Nahrungsaufnahme und das Verrichten der Notdurft
sowie das normalmenschliche, der Gemeinschaft angepasste Verhalten,
wie es der Alltag mit sich bringt (BGE 98 V 24).

    Was die Bemessung der Hilflosigkeit anbelangt, war nach dem bis
Ende 1976 geltenden Recht Dauer und Umfang der für die alltäglichen
Lebensverrichtungen notwendigen Hilfe oder persönlichen Überwachung
massgebend (Art. 39 Abs. 1 IVV in der Fassung vom 15. Januar 1968). Im
übrigen beschränkte sich die IVV darauf, drei Grade der Hilflosigkeit
festzulegen, ohne sie jedoch begrifflich zu umschreiben (Art. 39 Abs. 2
IVV in der Fassung vom 11. Oktober 1972). Nach der Rechtsprechung galt
die Hilflosigkeit dann als schwer, wenn der Versicherte mindestens zu
2/3 hilflos war (BGE 98 V 24).

    Nach dem revidierten Art. 66bis Abs. 1 AHVV (in der Fassung vom
29. November 1976) ist nun für die Bemessung der Hilflosigkeit der
ebenfalls revidierte Art. 36 IVV (in der Fassung vom 29. November 1976),
in Kraft seit 1. Januar 1977, sinngemäss anwendbar. Art. 36 Abs. 1 IVV
lautet wie folgt:

    "Die Hilflosigkeit gilt als schwer, wenn der Versicherte vollständig
   hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn er in allen alltäglichen

    Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe
Dritter
   angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen
   Überwachung bedarf."
Der Vergleich des neuen mit dem alten Recht ergibt, dass für die Bemessung
der schweren Hilflosigkeit merklich strengere Massstäbe gelten (vgl. ZAK
1977 S. 19).

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz vertritt im angefochtenen Entscheid die
Auffassung, die in Art. 36 Abs. 1 IVV vorgenommene Gleichstellung der
schweren mit der vollständigen Hilflosigkeit verletze Art. 43bis Abs. 1
AHVG. Zwar gewähre Art. 42 Abs. 4 IVG dem Bundesrat einen grossen Spielraum
hinsichtlich der Regelung der schweren Hilflosigkeit. Dieser Spielraum sei
jedoch durch Art. 43bis Abs. 1 AHVG begrenzt, wonach Voraussetzung für
eine Hilflosenentschädigung eine schwere Hilflosigkeit sei. Die Vorinstanz
verweist dabei auf die Botschaft des Bundesrates vom 4. März 1968 (BBl 1968
I 637), worin zu Art. 43bis Abs. 1 AHVG unter anderem festgehalten sei:

    "... Wir sind daher der Auffassung, dass die Hilflosenentschädigung der

    AHV lediglich Altersrentnern gewährt werden soll, die wegen eines
   schweren Leidens seit mindestens einem Jahr für den grössten Teil ihrer

    Lebensverrichtungen auf fremde Hilfe oder persönliche Überwachung
   angewiesen, also hochgradig hilflos sind."

    Der Gesetzgeber sei diesen Überlegungen gefolgt, was in der
Formulierung des Art. 43bis Abs. 1 AHVG zum Ausdruck komme. Im übrigen habe
das Eidg. Versicherungsgericht bis zum Inkrafttreten des Art. 36 Abs. 1
IVV (1. Januar 1977) entschieden, dass eine schwere Hilflosigkeit nicht
bloss bei völliger Unfähigkeit, die alltäglichen Lebensverrichtungen zu
besorgen, gegeben sei, sondern dass es genüge, wenn sie an Dauer und Umfang
der täglichen Pflege und Wartung mindestens zwei Drittel dessen erfordere,
was eine vollständig hilflose Person in dieser Hinsicht benötige. Eine
Verschärfung der Anspruchsvoraussetzung gegenüber dem bisherigen
Rechtszustand sei zwar möglich (z.B. schwere Hilflosigkeit, wenn der
Versicherte zu fünf Sechsteln hilflos sei). "Ein noch Höherschrauben der
Anforderungen für den Bezug einer Hilflosenentschädigung für AHV-Rentner,
wie dies in Art. 36 Abs. 1 IVV geschehen" sei, verletze indessen Art. 43bis
Abs. 1 AHVG.

    b) Dieser Auffassung der Vorinstanz kann nicht beigepflichtet werden.
Auszugehen ist von Art. 43bis Abs. 5 AHVG, der den Begriff und die
Bemessung der Hilflosigkeit nicht selbst umschreibt, sondern dafür das
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (und damit auch die IVV)
als sinngemäss anwendbar erklärt. In Art. 42 Abs. 2 IVG wird der Begriff
der Hilflosigkeit definiert und in Art. 42 Abs. 4 IVG der Bundesrat
ermächtigt, ergänzende Vorschriften zu erlassen. Dies hat der Bundesrat
in den Art. 35-37 IVV in der Fassung vom 29. November 1976 getan, wobei
er im hier umstrittenen Art. 36 IVV die Bemessung der Hilflosigkeit bzw.
die Grade der Hilflosigkeit geregelt hat.

    Indem nun Art. 43bis Abs. 5 AHVG hinsichtlich Begriff und
Bemessung der Hilflosigkeit auf das IVG (und damit auch auf die IVV)
verweist, gelten die entsprechenden Vorschriften des IVG auch für die
Hilflosenentschädigung nach AHVG. Mit dem Verweis auf das IVG wollte der
Gesetzgeber offensichtlich dessen Bestimmungen über Begriff und Bemessung
der Hilflosigkeit für die Hilflosenentschädigung nach AHVG übernehmen. Wenn
somit Art. 43bis Abs. 1 AHVG schwere Hilflosigkeit für den Anspruch auf
Hilflosenentschädigung voraussetzt, so ist darunter schwere Hilflosigkeit,
wie sie im IVG bzw. in der IVV umschrieben wird, zu verstehen. Dass die
Bestimmungen der IVV über die Bemessung der Hilflosigkeit nachträglich
(auf den 1. Januar 1977) modifiziert wurden, ändert nichts an ihrer
Geltung für die Hilflosenentschädigung nach AHVG. Die Möglichkeit solcher
Modifikationen hat der Gesetzgeber mit seiner Formulierung des Art. 43bis
Abs. 5 AHVG in Kauf genommen.

    Im übrigen ist der Vorinstanz insofern zuzustimmen, als vollständige
Hilflosigkeit rein begrifflich nicht identisch ist mit schwerer
Hilflosigkeit. Aber der Begriff "vollständig" ist auch nicht in extremer
Weise zu verstehen. "Vollständig" im Sinne von Art. 36 Abs. 1 IVV bezieht
sich lediglich auf die verschiedenen relevanten Lebensverrichtungen,
d.h. vollständig hilflos bedeutet, dass der Versicherte in allen
relevanten Lebensverrichtungen hilfsbedürftig ist. In den einzelnen
Lebensverrichtungen braucht dagegen der Versicherte nach Art. 36 Abs. 1 IVV
nicht "vollständig" hilfsbedürftig zu sein, sondern bloss "in erheblicher
Weise".

    Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der in Art. 36 Abs. 1 IVV
umschriebene Begriff der schweren Hilflosigkeit dem Art. 43bis Abs. 1
AHVG nicht widerspricht und somit für die Hilflosenentschädigung nach
AHVG anwendbar ist...