Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 V 1



104 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 20. März 1978 i.S. Fürst gegen Ausgleichskasse
des Kantons Thurgau und Rekurskommission des Kantons Thurgau für die
AHV Regeste

    Art. 7 Abs. 1 IVG. Rentenkürzung bei alkoholbedingter Invalidität:
Zusammenfassung der Praxis (Erw. 2).

    Art. 39 IVV (gültig ab 1. Januar 1977). Die Regelung des Abs. 2,
wonach von einem Entzug oder einer Kürzung der Leistung bei Durchführung
einer Entziehungskur und bei Wohlverhalten abgesehen wird, ist gesetzmässig
(Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

    1.-...

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 7 Abs. 1 IVG können die Geldleistungen dauernd
oder vorübergehend verweigert, gekürzt oder entzogen werden, wenn der
Versicherte die Invalidität vorsätzlich oder grobfahrlässig oder bei
Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert
hat. Grobfahrlässig handelt, wer Sorgfaltspflichten verletzt, die sich
jedem verständigen Menschen in gleicher Lage aufdrängen mussten. Bei
Alkoholmissbrauch ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn der Versicherte
bei der ihm angesichts seines Bildungsgrades zumutbaren pflichtgemässen
Sorgfalt rechtzeitig hätte erkennen können, dass jahrelanger Missbrauch
alkoholischer Getränke die Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung in
sich birgt, und wenn er imstande gewesen wäre, entsprechend dieser Einsicht
sich des übermässigen Alkoholkonsums zu enthalten (BGE 98 V 31, 97 V 229).

    Die gleichen Grundsätze gelten mit Bezug auf den Tabakmissbrauch
(ZAK 1977, S. 46, sowie nicht veröffentlichtes Urteil vom 7. Oktober 1976
i. S. Gogni).

    b) Die grobfahrlässige Herbeiführung oder Verschlimmerung
der Invalidität zieht grundsätzlich nicht den gänzlichen Entzug der
Geldleistungen, sondern bloss deren angemessene Kürzung nach sich (BGE 97 V
230). Praxisgemäss lässt sich unter der Voraussetzung, dass die Invalidität
einzig durch den Alkoholismus verursacht worden ist und der Versicherte
den Alkoholismus voll zu verantworten hat, eine Kürzung von höchstens 50
% rechtfertigen (ZAK 1969, S. 384, sowie Rz 252 ff. der Wegleitung über
Invalidität und Hilflosigkeit vom 1. Januar 1971). Ist an der Invalidität
ein zusätzlicher Gesundheitsschaden beteiligt, so ist das Verhältnis
der die Invalidität bewirkenden Faktoren zueinander abzuklären und der
Alkoholmissbrauch als Kausalitätsfaktor bei der Bemessung der Kürzung
anteilsmässig festzusetzen (BGE 97 V 230 Erw. c). Im übrigen bestimmt sich
der Kürzungssatz ausschliesslich nach dem Verschulden des Versicherten.

    c) Die Rentenkürzung hat grundsätzlich so lange zu dauern, als die
Kausalität des Verschuldens nachwirkt (BGE 99 V 31, ZAK 1977, S. 47). Eine
befristete Kürzung ist nur ausnahmsweise zulässig, wenn schon bei der
Rentenfestsetzung wahrscheinlich ist, dass das grobfahrlässige Verhalten
des Versicherten als Ursache seiner Invalidität nach Ablauf einer annähernd
bestimmbaren Zeit nicht mehr erheblich sein wird, weil andere Faktoren
in den Vordergrund treten.

Erwägung 3

    3.- a) Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer schon kurz
nach Beendigung der Schulpflicht dem Alkohol verfallen ist. Er musste in
der Folge wiederholt hospitalisiert werden und sich Alkoholentwöhnungskuren
unterziehen; auch wurde er gemäss Art. 370 ZGB unter Vormundschaft
gestellt. Nach den ärztlichen Angaben hat der Alkoholismus zu schweren
körperlichen Schädigungen (Leberzirrhose, Polyneuropathie, Anämie,
Herzinsuffizienz) und zu einer äthylischen Wesensveränderung im Sinne einer
Persönlichkeitsdepravation geführt. Im Bericht der Psychiatrischen Klinik
X. vom 10. August 1976 wird ausgeführt, der Versicherte sei auf unbestimmte
Zeit arbeitsunfähig, wobei dem Alkoholismus ursächlich entscheidende
Bedeutung zukomme; der Alkoholismus sei als "Gewohnheitstrunksucht bei
einem Minderbegabten bis Debilen zu bezeichnen".

    b) Verwaltung und Vorinstanz haben die Rente in dem nach der Praxis
höchstmöglichen Mass von 50 % gekürzt. Die Vorinstanz erachtet hiefür als
entscheidend, dass der Beschwerdeführer immer wieder auf die Gefährlichkeit
des Alkohol- und Nikotinmissbrauchs hingewiesen wurde, sich jedoch völlig
einsichtslos verhalten hat. Das Bundesamt für Sozialversicherung pflichtet
dem verfügten Kürzungssatz bei in der Meinung, die Invalidität sei allein
durch den chronischen Alkoholismus verursacht worden und der Versicherte
habe den Alkoholismus voll zu verantworten.

    Dass die Invalidität allein auf den Alkoholismus - allenfalls ergänzt
durch den Nikotinabusus - zurückzuführen ist, steht auf Grund der Akten
fest. Wie die Vorinstanz zutreffend festgestellt hat, bestehen auch
keine Anhaltspunkte dafür, dass der Alkoholismus lediglich Symptom eines
Krankheitswert aufweisenden psychischen Gesundheitsschadens wäre mit
der Folge, dass der Beschwerdeführer hiefür nicht verantwortlich gemacht
werden könnte (vgl. auch Art. 39 Abs. 1 IVV, gültig ab 1. Januar 1977).

    Zu prüfen ist somit lediglich, wie es sich hinsichtlich der
Schwere des Verschuldens verhält. Dies beurteilt sich in erster Linie
nach den tatsächlichen Verhältnissen, wie sie bei Beginn der Alkohol-
bzw. Nikotinsucht bestanden haben. Entgegen dem, was Vorinstanz und
Bundesamt für Sozialversicherung anzunehmen scheinen, ist daher nicht
bedeutungslos, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen "Minderbegabten
bis Debilen" handelt. Die geringe Intelligenz hat seine Fähigkeit,
vernunftgemäss zu handeln, zwar nicht aufgehoben, jedoch eingeschränkt,
weshalb sein Verschulden in milderem Lichte erscheint. Dazu kommt, dass
er eine "ungefreute Jugendzeit" hatte (Strafurteil des Bezirksgerichts vom
23. Juni 1971), was mit entscheidend dafür sein kann, dass der chronische
Alkoholismus bereits nach der Schulentlassung eingesetzt hat. Diese
Umstände sind in Übereinstimmung mit der Verwaltungspraxis (Rz 255 ff.
der genannten Wegleitung) bei der Festsetzung des Kürzungsansatzes zu
berücksichtigen. Wird davon ausgegangen, dass bei einem Normalbegabten,
welcher zufolge Charakterschwäche erst im Erwachsenenalter zum Alkoholiker
geworden ist, eine Rentenkürzung von höchstens 50 % gerechtfertigt ist, so
erweist sich im vorliegenden Fall eine Kürzung von 30 % als angemessen. Die
angefochtene Verfügung ist daher in dem Sinne abzuändern, dass die verfügte
Kürzung auf 30 % herabgesetzt wird.

Erwägung 4

    4.- Mit der Verordnungsänderung vom 29. November 1976 hat der Bundesrat
ergänzende Bestimmungen über die Verweigerung, die Kürzung und den Entzug
von Geldleistungen wegen Selbstverschuldens erlassen. Gemäss dem ab 1.
Januar 1977 gültigen Art. 39 Abs. 2 IVV ist im Falle einer durch den
Genuss gesundheitsschädigender Mittel verursachten Invalidität während
einer Entziehungskur und bei Wohlverhalten von einem Entzug oder einer
Kürzung der Leistung abzusehen. Diese Regelung hält sich im Rahmen der
gesetzlichen Ordnung und ist nicht zu beanstanden. Die Verwaltung wird nach
Erhalt der Akten daher noch zu prüfen haben, ob die vom Beschwerdeführer
am 13. Februar 1976 angetretene Entziehungskur am 1. Januar 1977 noch
angedauert hat und ob demnach die Rentenkürzung ab diesem Zeitpunkt bis
zur Beendigung der Kur aufzuheben ist. Ferner wird abzuklären sein,
ob sich der Beschwerdeführer nach Entlassung aus der Entziehungskur
wohlverhalten hat und ob dementsprechend auch für die Folgezeit von einer
Kürzung abzusehen ist.