Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 72



104 IV 72

23. Urteil des Kassationshofes vom 9. Juni 1978 i.S. C. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 96, 137, 151 StGB. Missbrauch eines Warenautomaten, Vollzug
einer bedingt aufgeschobenen Jugendstrafe.

    1. Wer durch einen missbräuchlichen Eingriff in einen Warenautomaten
unrechtmässig eine Sachleistung erlangt, begeht einen Gewahrsamsbruch
und macht sich des Diebstahls oder der Entwendung schuldig, nicht der
Erschleichung einer Leistung (E. 1) (Praxisänderung).

    2. Über den Widerruf des bedingten Aufschubes einer Jugendstrafe ist
gemäss Art. 96 Ziff. 3 StGB zu entscheiden, auch wenn der Verurteilte
für die neue Tat dem Recht für junge Erwachsene untersteht (E. 2).

Sachverhalt

    A.- C. manipulierte im Sommer 1976 in verschiedenen Restaurants mit
einem besonders zugerichteten elektronischen Gasanzünder an Spielautomaten
einer bestimmten Marke und erreichte dadurch mit wenigen Ausnahmen, dass
die Apparate Geldbeträge auswarfen, die nicht durch ordnungsmässiges
Spielen gewonnen wurden. Ausserdem beschädigten die Eingriffe die
Computersteuerung einzelner Automaten.

    B.- Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden verurteilte
C. am 18. Januar 1978 wegen fortgesetzten Diebstahls, fortgesetzten
Diebstahlsversuchs und fortgesetzter Sachbeschädigung sowie wegen weiterer
Delikte zu fünf Monaten Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug. Er ordnete
ferner den Vollzug der am 29. April 1975 vom Jugendgericht Plessur gegen
C. verhängten Einschliessungsstrafe von vier Monaten an.

    C.- C. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des
Urteils des Kantonsgerichtsausschusses.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden schliesst auf
Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es ist unbestritten, dass das von den Spielautomaten als Folge
der Eingriffe ausgeworfene Geld eine fremde bewegliche Sache ist und
dass der Beschwerdeführer die Beträge in Bereicherungsabsicht an sich
genommen hat. Er bestreitet dagegen, das Geld im Sinne des Art. 137
Ziff. 1 StGB weggenommen zu haben.

    a) Wegnehmen ist Bruch fremden Gewahrsams und Begründung neuen,
in der Regel eigenen Gewahrsams. Als Gewahrsam gilt die tatsächliche
Sachherrschaft mit dem Willen, sie auszuüben (BGE 97 IV 196
E. 3a). Zur Wegnahme gehört somit in erster Linie, dass das bestehende
Herrschaftsverhältnis gegen oder doch ohne den Willen des bisherigen
Gewahrsamsinhabers aufgehoben, die Sache also seiner Einwirkungsmöglichkeit
entzogen wird (STRATENWERTH, I, S. 183). Mit welchen Mitteln und auf welche
Art der Täter die Aufhebung der fremden Sachherrschaft herbeiführt, ist
nicht von Bedeutung. Der Begriff der Wegnahme setzt weder Gewalt voraus,
noch schliesst er die Anwendung von List aus (vgl. HAFTER, II/1, S. 245,
THORMANN/OVERBECK, N. 10 zu Art. 137 StGB).

    b) Wie in BGE 97 IV 198 entschieden wurde, hört bei Warenautomaten,
die Sachleistungen vermitteln, die tatsächliche Herrschaft und damit
der Gewahrsam des Automateninhabers am Inhalt des Geräts auf, sobald
die Ware durch den Mechanismus des Apparates ausgestossen wird. Es kommt
daher entscheidend darauf an, ob der Automateninhaber mit dem Übergang
des Gewahrsams an den Benützer des Apparates einverstanden ist oder
nicht. Nach den im Geschäftsverkehr geltenden Regeln muss angenommen
werden, der Automateninhaber habe zum voraus den Willen gehabt,
den Gewahrsam an der Ware nur unter der Voraussetzung aufzugeben,
dass der Benützer seinerseits die vertraglichen Bedingungen erfüllt,
also das geforderte Entgelt entrichtet und das Gerät vorschriftsgemäss
bedient. Wer deshalb einen Warenautomaten missbraucht, ihn namentlich durch
unzulässige Eingriffe in den Mechanismus zu einer Leistung veranlasst,
die er bei ordnungsgemässer Benützung nicht oder nicht im gleichen Umfang
erbracht hätte, hebt insoweit den Gewahrsam des Automateninhabers gegen
dessen Willen auf, begeht somit einen Gewahrsamsbruch. Selbst wenn
Automateninhaber wissen, dass ein Apparat ordnungswidrig in Betrieb
gesetzt und dadurch unrechtmässig eine Sachleistung erwirkt werden kann,
so widerspricht es der Lebenserfahrung, aus dieser Kenntnis zu schliessen,
sie hätten solche Fälle in Kauf genommen und mit dem Aufstellen des Geräts
ihren Verzicht auf den Herrschaftswillen bekundet. Die gegenteilige, in
BGE 97 IV 198/199 vertretene Auffassung und die daran geknüpfte Folgerung,
es sei zumindest zweifelhaft, ob ein Wegnehmen im Sinne des Art. 137 StGB
möglich sei, können nicht aufrechterhalten werden.

    Im vorliegenden Fall gelang es dem Beschwerdeführer, mit Hilfe des
Zündfunkens eines Gasanzünders die Computersteuerung von Spielautomaten in
der Weise zu beeinflussen, dass sie Geldbeträge in einer Höhe ausstiessen,
die bei Anwendung der vorgeschriebenen Spielregeln nicht hätten gewonnen
werden können. Er hat damit die tatsächliche Herrschaft an diesen
durch regelwidrigen Eingriff in den Automatenmechanismus ausgeworfenen
Gewinnen gegen den Willen des Geräteinhabers erlangt, somit fremden
Gewahrsam gebrochen und das angeeignete Geld im Sinne des Art. 137 StGB
weggenommen. Daraus folgt, dass die bei einzelnen Automaten eingetretene
Beschädigung der Computersteuerung, auf die sich die Vorinstanz zur
Begründung des Diebstahls beruft, für die Wegnahme bedeutungslos ist und
dass es deshalb entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers auch keine
Rolle spielt, welcher Art die Schäden waren und ob zwischen diesen und
dem Geldauswurf überhaupt ein ursächlicher Zusammenhang bestand. Vielmehr
genügt die Tatsache, dass der Beschwerdeführer den Gewahrsamswechsel an
den eingeschlossenen Münzen gegen den Willen des Automateninhabers durch
unerlaubte Manipulationen erwirkt hat.

    c) Erfüllt der Missbrauch von Warenautomaten, deren typische Leistung
in der Abgabe von Sachen besteht, den Tatbestand des Diebstahls, so ist
ausschliesslich Art. 137 StGB anzuwenden, der als Sondernorm der weiter
gefassten Bestimmung des Art. 151 StGB vorgeht (ebenso STRATENWERTH,
I, S. 239; SCHULTZ, ZbJV 1972, S. 354 ff.; MEYER, Das Erschleichen
einer Leistung nach dem StGB, Berner Diss. 1973, S. 60 ff.; BGE 97 IV
196 E. 2). Folgerichtig fällt denn auch die Wegnahme einer Sache von
geringem Wert unter den Tatbestand der Entwendung, nicht unter den der
Erschleichung einer Leistung.

    Das planmässige Vorgehen des Beschwerdeführers und die fortgesetzte
Begehung sowie die Höhe der unrechtmässig erzielten Gewinne schliessen
die Annahme einer blossen Entwendung aus (vgl. BGE 103 IV 86). Der
Beschwerdeführer ist demnach zu Recht wegen Diebstahls verurteilt worden.

Erwägung 2

    2.- Der 1957 geborene Beschwerdeführer wurde am 29. April 1975 vom
Jugendgericht Plessur zu einer auf zwei Jahre bedingt aufgeschobenen
Strafe von vier Monaten Einschliessung verurteilt. Die Vorinstanz hat
wegen der neuen Straftaten, die der Beschwerdeführer im Alter von 19
Jahren während der Probezeit beging, den Vollzug der aufgeschobenen
Einschliessungsstrafe angeordnet. Mit der Beschwerde wird gerügt, der
Widerruf sei zu Unrecht aufgrund von Art. 41 Ziff. 3 StGB statt nach
Art. 96 Ziff. 3 StGB ausgesprochen worden.

    a) Nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB ist der Richter, der die während
einer Probezeit begangenen Verbrechen oder Vergehen zu beurteilen hat,
auch für die Anordnung des Vollzuges der bedingt aufgeschobenen Strafe
zuständig. Das gilt auch für bedingt aufgeschobene Jugendstrafen (BGE 98
IV 166). Die Vorschrift des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 3 StGB hat indessen keine
weiterreichende Bedeutung als die einer einfachen Zuständigkeitsregel
(BGE 99 IV 192); sie besagt also nicht, nach welcher Bestimmung über den
Widerruf zu befinden ist. Steht eine Jugendstrafe in Frage, so ist Art. 96
StGB massgebend. Diese Bestimmung regelt die Gewährung des bedingten
Strafvollzuges und seinen Widerruf für das Gebiet des Jugendstrafrechts
nach besonderen Grundsätzen und abschliessend. Die damit aufgestellte
Sonderordnung schliesst die Anwendung der von ihr abweichenden allgemeinen
Vorschriften des Art. 41 StGB aus, auch dann, wenn der Verurteilte für
die neue Tat den Bestimmungen über die jungen Erwachsenen (Art. 100 StGB)
untersteht (SCHULTZ, II, S. 204, BOEHLEN, Kommentar Jugendstrafrecht,
S. 30 und 35, BGE 94 IV 57 E. 1 a).

    b) Gemäss Art. 96 Ziff. 3 Abs. 1 StGB bildet die Begehung eines
Verbrechens oder Vergehens während der Probezeit im Unterschied zu
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB nicht schon an sich einen Grund zum Widerruf
einer bedingt aufgeschobenen Strafe. Vielmehr ist der Vollzug einer
Jugendstrafe nur anzuordnen, wenn der Verurteilte durch die Begehung
neuer Delikte das auf ihn gesetzte Vertrauen getäuscht hat. Ob dies
zutreffe, ist im Jugendstrafrecht nach weniger strengen Massstäben als
nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB zu entscheiden. Art. 96 StGB räumt der
urteilenden Behörde allgemein einen weiteren Ermessensspielraum ein als
Art. 41 StGB (unveröffentlichter Entscheid des Kassationshofes vom 12.
Dezember 1975 i.S. Galliker; SCHWANDER, S. 300, Nr. 502 a; BOEHLEN,
aaO S. 232). Das weiter gespannte Ermessen wirkt sich somit auch im
Rahmen des Art. 96 Ziff. 3 Abs. 2 StGB beim Entscheid darüber aus, ob
die neue Straftat als leichter Fall zu bewerten ist und ob anstelle des
Strafvollzuges eine Ersatzmassnahme angeordnet werden kann. Die Gewährung
des bedingten Vollzuges für die neu ausgesprochene Freiheitsstrafe hat
jedoch nicht die Bedeutung, die ihr der Beschwerdeführer beimisst; sie
zieht nicht notwendig den Verzicht auf die Anordnung des Vollzuges der
aufgeschobenen Jugendstrafe nach sich (vgl. BGE 99 IV 69).

    c) Der angefochtene Entscheid, der sich zu Unrecht auf Art. 41 Ziff. 3
Abs. 1 StGB stützt, ist demzufolge aufzuheben und die Frage des Widerrufes
der aufgeschobenen Jugendstrafe im Sinne der vorstehenden Erwägungen in
Anwendung von Art. 96 Ziff. 3 StGB neu zu entscheiden.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen, Ziffer 1.4
des Urteils des Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 18. Januar
1978 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen.