Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 104 IV 217



104 IV 217

50. Urteil des Kassationshofes vom 19. Dezember 1978
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft gegen R. Regeste

    Art. 20 und 191 Ziff. 1 StGB.

    1. Begriff des Rechtsirrtums.

    2. Irrtum bejaht im Falle eines 19jährigen Süditalieners, der seiner
15jährigen Freundin beischlief.

Sachverhalt

    A.- Der heute 20jährige, aus Sizilien stammende und seit 1972 in
der Schweiz lebende R. hatte von Frühsommer bis Herbst 1977 mit seiner
15jährigen Freundin, deren Alter er kannte, wiederholt Geschlechtsverkehr.

    B.- Das Strafgericht Baselland sprach R. des fortgesetzten Beischlafs
mit einem Kinde schuldig, nahm aber in Anwendung von Art. 20 StGB von
einer Bestrafung Umgang.

    Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft bestätigte am 17. Oktober
1978 den erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts sei
aufzuheben und dieses sei anzuweisen, R. gemäss Art. 191 Ziff. 1 StGB
zu bestrafen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Zur Entscheidung steht einzig die Frage, ob die Vorinstanz
dem Beschwerdegegner zu Recht Rechtsirrtum zugute gehalten habe. Davon
ausgehend, dass der Täter sein Verhalten nicht juristisch exakt würdigen
müsse, sondern dieses bloss in der ihm als Laien zugänglichen Art an den
rechtlichen Wertvorstellungen zu messen habe, die vom durchschnittlichen
Bürger der Gemeinschaft getragen würden, der er angehöre, nimmt das
Obergericht an, "ein etwelches Bewusstsein der Sittenwidrigkeit, das
der Täter je nachdem hat", genüge nicht zur Annahme, er besitze das
Unrechtsbewusstsein. Der gegen den Täter gerichtete Vorwurf könne nur
dahin lauten, er habe sich in seinem Handeln nicht durch die Normen des
Rechts leiten lassen. Sittliche Forderungen gingen über das rechtlich
geschützte ethische Minimum weit hinaus, ja könnten sogar mit rechtlichen
Vorschriften in Konflikt geraten. Sittenwidriges Verhalten stehe mit der
Rechtsordnung häufig in Einklang, während sittengemässes zu ihr mitunter
im Widerspruch stehe. Im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines Tuns
handle deshalb, wer wisse, dass sein Verhalten den Rechtsvorstellungen
seiner Rechtsgemeinschaft widerspreche. Der Beschwerdeführer habe
von allem Anfang an glaubhaft dargetan, dass er das in dieser Weise
gekennzeichnete Unrechtsbewusstsein zur Zeit der Tat nicht besessen
habe. Da das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit eine subjektive Voraussetzung
der Strafbarkeit sei, wären selbst Zweifel, ob es bestanden habe, zugunsten
des Beschuldigten zu lösen.

    Die Staatsanwaltschaft wendet sich dagegen mit dem Vorwurf, die
Vorinstanz sei von einem unzutreffenden Begriff des Unrechtsbewusstseins
ausgegangen. Aus ihren tatsächlichen Feststellungen ergebe sich nämlich,
dass R. das Unzuchtsdelikt nicht aufgrund irgendwelcher Überlegungen für
zulässig erachtet habe, sondern weil er - nach seiner von der Vorinstanz
akzeptierten Behauptung - um ihre Strafbarkeit nicht gewusst habe. Es
handle sich mithin um einen nach Art. 20 StGB unerheblichen Fall von
Unkenntnis um die Strafbarkeit.

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung zu Art. 20 StGB kann sich auf
Rechtsirrtum nur berufen, wer zureichende Gründe zur Annahme hatte, er
tue überhaupt nichts Unrechtes, und nicht schon, wer die Tat bloss für
straflos hielt. Anderseits genügt zum Ausschluss eines Rechtsirrtums das
unbestimmte Empfinden, dass das in Aussicht genommene Verhalten gegen das
verstösst, was recht ist. Hieraus erhellt, dass schon das laienmässige
Ermessen rechtlicher Wertvorstellungen, wie es dem durchschnittlichen
Bürger eignet, ausreicht. Im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit seines
Tuns handelt deshalb, wer im vorgenannten Sinne weiss, dass sein
Verhalten den Rechtsvorstellungen der Rechtsgemeinschaft widerspricht,
in der er lebt. Dabei ist nicht zu übersehen, dass im allgemeinen die
Rechtsordnung den vorherrschenden ethischen Wertvorstellungen in dem Sinne
entspricht, dass jedenfalls erhebliche Verstösse gegen diese regelmässig
auch rechtlich verpönt sind. Das Empfinden des Täters, seine Handlungen
widersprächen den herrschenden sittlichen Massstäben, stellt diesfalls
einen gewichtigen Hinweis auf sein Unrechtsbewusstsein dar (BGE 99 IV
185 mit Verweisungen). Insbesondere dort, wo grundlegende ethische Werte
in Frage stehen, liegt auch eine rechtliche Regelung derart nahe, dass
das Bewusstsein um die Verletzung der ersteren dasjenige eines Verstosses
gegen die letztere für den Regelfall indiziert. In diesem Sinne ist deshalb
die absolute Aussage der Vorinstanz, wonach ein "etwelches Bewusstsein
der Sittenwidrigkeit" zur Annahme des Unrechtsbewusstseins nicht genüge,
einzuschränken. Was die sexuelle Integrität von Kindern anbelangt, so
gehört sie in schweizerischen Verhältnissen zum Bestand grundlegender
ethischer Werte und wird entsprechend auch von der Rechtsordnung
geschützt. Das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit eines die geschlechtliche
Unantastbarkeit eines Kindes in grober Weise verletzenden Verhaltens
wirkt deshalb als starkes Indiz für das Bestehen des Unrechtsbewusstseins,
das nur durch aussergewöhnliche Umstände entkräftet werden kann.

    Dieser gegenüber der rechtlichen Begründung des angefochtenen
Entscheides notwendige Vorbehalt zwingt indessen nicht zur Aufhebung des
Urteils. Wie die Vorinstanz feststellt, war dem Beschwerdegegner die
Möglichkeit der rechtlichen Regelung nicht im entferntesten bewusst,
habe er doch nicht einmal von der Existenz eines Schutzalters ganz
allgemein Kenntnis gehabt. Der Begriff des Schutzalters sei ihm vollkommen
fremd gewesen; er habe nie daran gedacht, dass es überhaupt so etwas
geben könnte; weder in der Schule noch von Verwandten oder Freunden
sei er je darauf aufmerksam gemacht worden. Auch habe er von einer
entsprechenden schweizerischen Sittennorm keine Kenntnis gehabt. Den
süditalienischen Auffassungen entsprechend sei ihm nur bewusst gewesen,
dass es sittenwidrig sei, mit einer weiblichen Person intime Beziehungen
zu haben und sie nachher nicht zu heiraten, wobei diese Norm vom Alter
des Mädchens oder der Frau unabhängig sei. Da R. schon damals und auch
heute noch das missbrauchte Mädchen heiraten wolle, habe er gegen diese
ihm einzig bekannte Norm nicht verstossen.

    Nach diesen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz, die den
Kassationshof unbekümmert um ihre Überzeugungskraft binden (Art. 277bis
Abs. 1 BStP), haben dem Beschwerdegegner in aussergewöhnlichem Masse alle
Voraussetzungen schon für das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit seines
Verhaltens gefehlt und liegen auch sonst keine zureichenden Hinweise auf
das Unrechtsbewusstsein vor.

    Demgegenüber kann nicht eingewendet werden, die Vorinstanz habe
das blosse Bewusstsein der Straflosigkeit genügen lassen. Wenn sie zu
Beginn ihrer Erwägungen die als glaubhaft entgegengenommenen Aussagen
des Beschwerdegegners anführt und dabei festhält, er habe von der
Existenz eines Schutzalters im allgemeinen nichts gewusst, sowohl er
wie seine Freundin seien sich nicht bewusst gewesen, etwas Unrechtes
zu tun, und sie beide seien gar nicht auf die Idee gekommen, dass ihr
intimes Zusammensein verboten sein könnte, so waren diese Erklärungen des
Angeklagten jedenfalls nicht zwingend dahin zu verstehen, dass sie sich
bloss auf das Bewusstsein der Straflosigkeit seines Verhaltens bezogen
hätten. Die Rüge, das Obergericht sei von einem unzutreffenden Begriff
des Unrechtsbewusstseins ausgegangen, schlägt deshalb nicht durch.

Erwägung 3

    3.- Die Staatsanwaltschaft wendet weiter ein, die rechtlichen
Erwägungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdegegner keinen Anlass
gehabt habe, sich über sein Verhalten Gedanken zu machen, weil ihm der
Begriff des Schutzalters völlig fremd gewesen sei, vermöchten nicht zu
überzeugen. Dass nämlich der Umgang mit einem Kleinkind nicht statthaft
sei, wisse jedermann; folglich müsse altersmässig auch irgendwo eine
Grenze liegen, welche dieselbe Tat als strafbar bzw. nicht strafbar
erkläre. Sich hierüber zu orientieren, wäre deshalb geboten gewesen.

    Damit stellt die Staatsanwaltschaft sich auf den Standpunkt,
R. habe keine zureichenden Gründe zur Annahme gehabt, sein Verhalten
sei rechtmässig.

    a) Zureichend ist ein Grund gemäss Art. 20 StGB nur, wenn dem Täter
aus seinem Rechtsirrtum kein Vorwurf gemacht werden kann, weil er auf
Tatsachen beruht, durch die sich auch ein gewissenhafter Mensch hätte
in die Irre führen lassen. Das Gesetz verlangt damit vom Täter eine
Gewissensanspannung, eine gewissenhafte Überlegung oder ein Erkundigen bei
Behörden oder vertrauenswürdigen Personen. Unterlässt er dies, obgleich
zu solchem Tun Anlass bestand, so handelt er in einem vermeidbaren und
damit nach Art. 20 StGB unerheblichen Rechtsirrtum (BGE 99 IV 186 mit
Verweisungen).

    b) Geht man im vorliegenden Fall von den bereits angeführten
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz aus, kann nicht gesagt
werden, der Beschwerdegegner habe Anlass gehabt, gewissenhaft über die
Zulässigkeit seines Handelns Überlegungen anzustellen oder sich bei einer
vertrauenswürdigen Person zu erkundigen. Dazu hätte Grund bestanden,
wenn er Zweifel an der Rechtmässigkeit seines Verhaltens gehabt oder
nach den Umständen hätte haben müssen oder wenn die Möglichkeit der
Verletzung einer Sittennorm ihm einen Verstoss gegen die Rechtsordnung
nahegelegt hätte. Das war jedoch bei ihm wegen der besonderen persönlichen
Verhältnisse, derentwegen ihm die Vereinbarkeit seines Handelns mit
der Sitten- und Rechtsordnung als selbstverständlich erschien, nicht
der Fall. Die Argumentation der Staatsanwaltschaft mit dem Hinweis auf
eine altersmässige Grenze stösst sich an den tatsächlichen Annahmen der
Vorinstanz, deren Verbindlichkeit für den Kassationshof einer anderen
als der im angefochtenen Urteil enthaltenen rechtlichen Folgerung
entgegensteht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.